Weißrussland: illegal verurteilt

Mikita Likhavid, eine Woche nach der Freilassung. Quelle: 34mag.net
Mikita Likhavid, eine Woche nach der Freilassung. Quelle: 34mag.net

Mikita Likhavid ist 21 Jahre alt. Er hat kurzes helles Haar. Seine Augen sind umgeben von dunklen Augenrändern. „Ich schlafe zu wenig und rauche zu viel“, sagt er. Bei Mikita stimmt etwas nicht. Bereits seit einem Jahr.

Der 19. Dezember 2010 war ein schicksalsträchtiger Tag im Mikitas Leben. Die Ereignisse jenes Sonntags haben sich in seinem Gedächtnis eingebrannt. Er wacht gegen 14 Uhr auf. Ein Freund von ihm klingelt an der Tür. Die beiden gehen zum Wahllokal um abzustimmen. An diesem Tag findet die Präsidentenwahl in Belarus statt. Auf dem Weg zurück treffen sie eine ehemalige Mitschülerin, plaudern eine Weile mit ihr. Es ist windig und frostig. Die Jungs gehen nach Hause Fußball gucken. Gegen 19 Uhr brechen sie auf: Der Freund nach Hause und Mikita zum Oktoberplatz, auf dem eine Demonstration gegen die Wahlfälschung stattfinden soll. „Ich wollte nur kurz gucken, was passieren wird, und bald zurückkommen“, sagt Mikita. Er wird seinen Freund das nächste Mal erst neun Monate später sehen.

An diesem Abend sind nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 3 und 40 Tausend Menschen ins Zentrum von Minsk gekommen. Mikita mischt sich unter die Menschenmenge, geht mit, schreit mit: „Zhyve Belarus.“ Es lebe Belarus. „Ich spürte den Atem der Stadt. Die Menschen holten gleichzeitig Luft und schrien dann aus aller Kraft. Es war toll“, erzählt Mikita. Er wird sich später oft an dieses Gefühl erinnern. Im Gefängnis.

Am Oktoberplatz stiegen die Präsidentschaftskandidaten aufs Podest der Lenin-Statue und riefen von dort aus Parolen. Die Lautsprecher wurden auf dem Weg zur Kundgebung von der Polizei beschlagnahmt. Der Platz war zu klein, um alle Demonstranten aufzunehmen. Nur wenige konnten sehen und hören, was in der Mitte des Platzes

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Der Kampf mit der Angst – neue Proteste in Weißrussland

Volksversammlung am 8. Oktober 2011 in Minsk In Weißrussland ist eine neue Protestkampagne gestartet. In rund 30 Städten fanden am Samstag die „Volksversammlungen“ statt. Die Opposition ist in ihrem Kampf entschlossen. Die Organisatoren der Aktion wollen einen Allgemeinstreik vorbereiten. Das Regime übt auf sie Druck aus und reagiert mit Festnamen. Doch ihr wichtigster Gegner ist die Angst der Menschen in „der letzten Diktatur Europas“. Eine Reportage von der Volksversammlung in Minsk.

Es regnet in Minsk. Doch das ist wohl nicht das schlechte Wetter, was viele Menschen davon abgehalten hat, an diesem Samstag an der Volksversammlung im Park der Völkerfreundschaft teilzunehmen. Das ist die Angst vor Festnahmen und Repressionen. Die Regierung hatte die Protestaktion der Opposition im Vorfeld für illegal erklärt und drohte den Teilnehmern mit Konsequenzen. Trotzdem sind in Minsk einige Hunderte Menschen zu der Veranstaltung gekommen.

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Erinnerung an Tschernobyl

Im Reaktor Atomkraftwerk Fukushima I in Japan ist es zu einer Explosion gekommen. Die Aussenhülle wurde zerstört. Radioaktivität tritt aus. Das alles gab es schon einmal: 1986 in Tschernobyl. Olga Kapustina hat es als Kind miterlebt:

Der 26. April 1986 war ein sonniger Tag. Meine Mutter, die damals so alt war, wie ich heute, ging mit mir spazieren. Wir lebten in einem kleinen Ort in Weißrussland. Nach dem Regen gab es überall Pfützen. Es blühte Löwenzahn. Ich war gerade ein Jahr alt und genoss meinen ersten Frühling. Ich wusch meine Hände in den glänzenden Pfützen und platschte mit meinen Beinen drin herum. Die Pfützen hatten einen gelben Rand, erinnert sich meine Mutter heute. Damals dachte sie, es sei Blütenstaub vom Löwenzahn. Sie wusste noch nicht, dass seit diesem Tag unser Löwenzahn, unser Wasser und unser Boden vergiftet sind.

Ein paar Tage später gab es eine kurze Information in den sowjetischen Medien: In der Nacht auf den 26. April ist der vierte Block des Atomkraftwerks in Tschernobyl explodiert. Es gebe keinen Grund zur Panik, hieß es, niemand sei betroffen, alles in Ordnung. Es wurde allerdings empfohlen, die Fenster in den Wohnungen zu schließen. Am Tag der Arbeit versammelten sich Menschen in unserer kleinen Stadt Tschausy im Osten Weißrusslands auf dem Lenin-Platz. Es waren die üblichen Feiern. Die Leute waren aufgeregt wegen der Nachricht und wegen des Frühlingsfiebers.

Ich kann mich an diese sonnigen Tage nicht erinnern. Dafür habe ich viele positive Erinnerungen aus meiner Kindheit, die mit Tschernobyl verbunden sind. In der Schule bekamen wir drei Mal am Tag kostenloses Essen. Zum Mittag gab es Suppe, Fleisch oder Fisch mit Beilage und einem Getränk. Manchmal gab es Algen. Das mochten wir aber nicht, obwohl (oder gerade weil) sie wegen des hohen Jod-Gehaltes als besonders gesund galten. Was wir wahnsinnig mochten, war das Obst, das wir jeden Tag zum Mittagessen bekamen. Dies wurde vom Staat und den internationalen Organisationen finanziert. Sie hießen „Hoffnung“ oder „Kinder von Tschernobyl“. Wir, die Kinder von Tschernobyl, waren eigentlich ganz glücklich.

Zum Neujahr gab es regelmäßig Pakete aus dem Westen – die so genannte humanitäre Hilfe. In den Päckchen gab es leckere Schokolade, Bonbons, Kaugummis, Kakao. Manchmal gab es auch Briefe, die in einer Fremdsprache verfasst wurden. Dort stand zum Beispiel: „Hallo! Ich heiße Tom und ich bin 8 Jahre alt. Ich wohne in einem Haus mit Garten in Deutschland. Mein Lieblingsspielzeug ist Teddybär. Schöne Weihnachten!“ Als ich etwas älter wurde, antwortete ich auf einen dieser Briefe. Ich schrieb: „Hallo Tom! Ich heiße Olga. Ich bin 10 Jahre alt. Ich habe einen Bruder. Wir wohnen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Ich gehe zur Schule und lerne dort Deutsch“. Ich habe keine Antwort bekommen. Trotzdem sagte ich allen, dass ich einen Brieffreund habe.

Die wichtigste Freude der Kinder von Tschernobyl ist mir allerdings entgangen – die Chance, einen Sommer in einer Gastfamilie im Westen zu verbringen. In meiner Klasse gab es 25 Kinder, 22 davon waren im Ausland. Die meisten flogen nach Kanada, aber auch nach Italien, Belgien oder Deutschland. Ich war unter den drei, die nicht im Ausland waren. Meine Mutter wollte das nicht. Sie meinte, es wird mir nicht gut in einer fremden Familie gehen. Ich war ein kränkliches Kind. Sie sagte: „Ich kaufe dir alles selber und wenn du erwachsen bist, gehst du, wohin du willst.“ Ich nahm es ihr übel. Ich war neidisch auf die vollen Koffer vom Spielzeug und Süßigkeiten und auf die unzähligen Fotos mit einem großen Haus und einem Swimming Pool im Hintergrund, die meine Mitschüler aus Kanada mitbrachten.

Meine Cousine war ihrerseits neidisch auf mich. Sie wohnte in einem Ort 50 Kilometer von uns entfernt. Im Unterschied zu Tschausy überstiegen die Messungen dort die Grenzwerte nicht. Offiziell gehörte die Stadt nicht zu den radioaktiv verseuchten Gegenden. Deswegen hatte ihre Bevölkerung keine Tschernobyl-Vergünstigungen. Meine Cousine durfte nicht wie ich für einen Monat im Jahr kostenlos ins Sanatorium in einen „sauberen“ Ort in Weißrussland.

Während dieses Erholungsmonats waren wir Schüler unter uns, weit weg von den Eltern. Wir hatten nur vormittags Unterricht und bekamen keine Hausaufgaben. Dafür gingen wir abends in die Kinderdiskothek oder ins Kino, schrieben einander Liebesbriefe und organisierten Konzerte. Das sind meine besten Erinnerungen an die Schulzeit.

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Im Verborgenen


Szene aus dem Film Samir betet. Samir betet fünf Mal am Tag. Nach dem Pokern breitet er den Gebetsteppich aus. Samir ist Iraker aus Essen, mitten im Ruhrgebiet. Auf seinem Schreibtisch steht ein Koran. Daneben liegen eine leere Bierflasche und ein voller Aschenbescher. Bei Samir stimmt etwas nicht.

Der U-Bahn-Übergang „Berliner Straße“ in Essen. Zugbremse, Handymusik, Babygeschrei. Es riecht nach Döner. Eine Oma geht an mir vorbei. Ihr Gesicht sehe ich nicht. Mein Blickt verharrt auf einem Mann mit kurzen dunklen Haaren mitten im Menschenstrom. Seine Haut ist dunkel. Das ist Samir: breite Jacke mit Kapuze, Jeans, Sportschuhe. Er zieht die Kopfhörer aus seinen Ohren heraus, reicht mir die Hand. Er wird mir von der verborgenen Seite seines Lebens erzählen. Er will nicht, dass sein richtiger Name genannt wird. Denn es geht nicht nur um ihn, sondern um die Ehre seiner Familie. Und das ist seinen Eltern am allerwichtigsten.

Samirs Geschichte begann an dem Tag, als ein unbekannter Mann zu ihm nach Hause kam. „Ich war damals zwölf“, sagt der heute 22-Jährige. Er schüttelt vorsichtig eine Prise Tabak auf ein schneeweißes Papierstück, dreht mit seinen Fingern eine Zigarette. Der Mann wurde seiner Schwester vorgestellt. Nach einigen Wochen heirateten sie. Die Schwester zog aus. „Wenn unsere Verwandten nach ihr fragten, sagten die Eltern immer, bei ihr ist alles in Ordnung“.

Samir ging in die Schule. Er hatte viele Freunde. Aber er besuchte sie nicht. Samir durfte nur unter dem Balkon spielen – damit ihn die Mutter im Blick behalten konnte. Klassenfahrten waren verboten. Die Eltern wollten, dass sich möglichst wenige Leute in die Erziehung ihrer Kinder einmischen. Samir beschwerte sich nicht. Als er Liebeskummer und Stress bei seinen Abi-Vorbereitungen hatte, schwieg er. Verliebt sein und Probleme haben – diese Themen waren in der Familie tabu. Er redete nicht mit seinen Eltern. Und seit einiger Zeit nicht mehr mit Gott.

Vor drei Jahren wollte Samir nichts mehr mit seiner verstellten Realität zu tun haben: „Ich habe angefangen Drogen zu nehmen. Es fing an mit Kiffen, dann ging es mit Koks und Ecstasy weiter. Ich wollte einfach wieder mal glücklich sein.“ Doch das half nicht. Es war nur „Glück auf Zeit“. Danach ging es ihm noch schlechter. Einmal packte Samir seinen Koffer und haute von Zuhause ab. Einen Monat lang pendelte er zwischen den Wohnorten seiner Freunde. Immerhin erlangte er dadurch seine Freiheit: die Erlaubnis alleine zu wohnen. Kneipen, Pokern, Bier, Tabak. Diese Bestandteile seines unabhängigen Lebens muss er vor seinen Eltern verheimlichen. Der Kontakt mit berauschenden Mitteln jeglicher Art ist in der muslimischen Familie verboten. Vor einem Jahr erlaubten Samirs Eltern seiner Schwester sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. „Ich werde ihnen nie verzeihen, dass sie es nicht früher gemacht haben“, sagt Samir.

Er schaut die Zigarette an, die in seiner Hand verglimmt. Sie wird immer kürzer, ihr Feuer berührt seine dunklen Finger. Einige Monate nach der Heirat erzählte die Schwester Samir, dass der Mann sie schlägt und demütigt. Einmal rief sie ihn an und erzählte heulend, dass er sie mit dem Messer bedrohte. Als der Mann bemerkte, dass sein kleiner Sohn sich hinter ihrem Rücken versteckte und zitterte, senkte er das Messer in der Hand mit den Worten: „Du wirst schon sehen, was ich heute Abend mit dir mache.“ Samirs Hand zittert, die Asche fällt auf den Boden: „An jenem Abend vergewaltigte er sie.“

Als Samir seinen Eltern von diesem Vorfall erzählte, erwiderte die Mutter nur: „Wie kann sie denn von ihm vergewaltigt werden? Sie sind doch verheiratet.“ Samir sagt mit leiser Stimme: „Das war der Punkt, an dem ich mit meinen Eltern gebrochen habe. Sie wollten nach Außen immer als eine Vorzeigefamilie gelten. Die Gesellschaft war ihnen wichtiger als eigene Tochter.“ Wenn Samir vom Inhalt des Spielfilms „Die Fremde“ hört, sagt er, die Story sei wie über seine Familie geschrieben. Zum Glück hat seine Geschichte im Unterschied zum Film kein tragisches Ende.

Samir besucht ab und zu seine Eltern. Seiner Schwester geht es gut. Samir nimmt keine Drogen mehr. Er glaubt wieder an Gott. „Es sind so viele gute Sachen in der letzten Zeit passiert. Ich kann nicht anders, als an Gott zu denken“, sagt Samir. Er schaut auf die Uhr. Er muss sich beeilen. Gleich besuchen ihn Freunde zum Pokern. Samir steckt seinen Tabak in die Hosentasche, setzt seine Kopfhörer auf und verschwindet im Menschenstrom der Essener U-Bahn.

Bild: Szene aus dem Film „Die Fremde“.

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Das schwarz-gelbe Stipendium

Bibliothek Uni DortmundDas neue Stipendienmodell gibt es in NRW seit einem Semester, aber nicht viele wissen davon.

Ende Februar legte die Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) einen Gesetzentwurf zum Aufbau eines nationalen Stipendienprogramms vor. Danach sollen zukünftig acht Prozent der besten Studenten mit 300 Euro im Monat gefördert werden. Die Gelder sollen je zur Hälfte vom Staat und von der Wirtschaft kommen. Dieser Entwurf verwirklicht das leistungsbezogene Stipendiensystem, das die schwarz-gelbe Regierung im Koalitionsvertrag in Berlin festgehalten hat. Doch eigentlich weht der Wind nicht von der Spree, sondern vom Rhein.

Die Idee stammt vom NRW-Wissenschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP). In Nordrhein-Westfalen bekommen bereits 1400 Studierende seit dem Wintersemester 2009/2010 dieses Stipendium. Nun soll das NRW-Modell bundesweit als Vorbild dienen.

Musterbeispiel: Uni Duisburg-Essen

„Liebe Studierende, nutzen Sie Ihre Chance und bewerben Sie sich!“ Der Rektor der Universität Duisburg-Essen Ulrich Radtke klickte im August 2009 auf „Verschicken“. Die E-Mail mit dem Betreff „NRW-Stipendienmodell“ wurde an mehr als 30 Tausend Studierende der Hochschule adressiert, landete jedoch oft im Nirgendwo. Denn nur wenige Studenten benutzen den Uni-Account. Eine kleine Umfrage auf dem Essener Campus bestätigt das. Nur drei von zwanzig Studenten haben vom Stipendienmodell überhaupt schon mal gehört. Die meisten Befragten machen große Augen: „Das NRW-Stipendienprogramm? Was ist das?“

Dabei gilt die Uni Duisburg-Essen als Musterbeispiel in der Umsetzung des Stipendienmodells. Ende Mai bekam der Uni-Fundraiser Bernd Thunemeyer einen Brief vom nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministerium. Es versprach Stipendien für 80 Studenten. Unter einer Voraussetzung: die Hälfte der Gelder soll die Uni selbst von Unternehmen und Stiftungen einwerben. „Wir haben doppelt so viel Sponsoren gefunden“, sagt Thunemeyer stolz. Darunter Hochtief, Evonik, Sparkasse, Volksbank Rhein-Ruhr, Kulturstiftung und Alumni-Vereine. Nun bekommen 151 Studenten in Duisburg in Essen ein Stipendium. Aber: Das sind nur 0,5 Prozent aller Studierenden.

Rund 1850 Studierende haben sich für das Stipendium beworben. Es könnten viel mehr sein – wenn sie die E-Mail vom Rektor gelesen oder sich auf der Uni-Homepage erkundigt hätten. Denn Plakate oder Flyer zum Stipendium gab und gibt es auf dem Campus nicht. Bei der Informationsveranstaltung des Uni-Beratungszentrums “Stipendium? Nichts ist unmöglich!“ im Dezember, wo verschieden Förderwerke vorgestellt wurden, fiel über das frisch eingeweihte NRW-Modell auch kein Wort.

Gefördert wird, wer der Wirtschaft nützt

Bei der Bereitstellung der Gelder können die Förderer entscheiden, welche Fächer sie unterstützen. An der Uni Duisburg-Essen bekamen die Wirtschafts- und Ingenieurswissenschaften zwei Drittel aller Stipendien, die Geistes- und Naturwissenschaften gingen praktisch leer aus. Auch an der RWTH Aachen spiegelt die Fächerverteilung der Stipendiaten das Interesse der Wirtschaft wieder: Maschinenbau – 90 Stipendien, BWL – 22, Philosophie – 3, Architektur – 2. Die durch Exzellenzinitiative ausgezeichnete Hochschule lockte am meisten Sponsoren an: 196 Stipendien für rund 0,7 Prozent aller Studierenden. „Wir haben einfach sehr gute Kontakte zur Industrie und Unternehmen“, erklärt die RWTH-Fundraiserin Angela Pohl.

Der NRW-Wissenschaftsminister kann sich freuen. Vor einem Jahr sagte er: „Ich hoffe, dass unser Modell bundesweit Schule macht.“ Seine Worte wurden anscheinend gehört. Übrigens sponserte Herr Pinkwart selbst einen Stipendiaten. Macht Frau Schavan bald auch da mit?

Der Text ist in der taz erschienen.

Demonstierende Studenten und Schüler von den Polizisten eingekesselt

Etwa 200 Studenten und Schüler, die heute gegen Missstände im Bildungssystem demonstrierten, sind momentan von den Polizisten am Essener Porscheplatz eingekesselt. Mehrere Demonstranten wurden festgenommen. Die Polizisten gehen teilweise brutal vor und bedrohen die Protestierenden durch Elektroschocker. Die nicht eingekesselten Studenten zeigen sich solidarisch: Sie organisieren Wasser und Brötchen für die Kommilitonen. Alle eingekesselten werden eine Anzeige bekommen, hat die Polizei verkündet. Dabei verhielten sich die Protestierenden während der Protestaktion friedlich.

Die Demonstration der Studierenden gegen die schlechten Studienbedingungen fing um zehn Uhr auf der Essener Campuswiese an. Einige Hunderte junge Menschen mit den Transparenten, Flyers und Kaffeebechern in der Hand traten von einem Fuß auf den anderen. Auf den handgemachten Plakaten stand: „Studiengebühren abschaffen“ und „Freie Bildung für alle“. Déjà vu? Vor fünf Monaten, am 17. Juni, gab es schon ein ähnliches Bild. Nur die Bäume auf der Wiese hatten mehr grüne Blätter. Vom Campus gingen die Studenten Richtung Innenstadt.

Die Demonstranten in Begleitung der Polizisten zogen sich durch die ganze Rottstraße. Am Kopstadtplatz machten sie den ersten Halt, hier schlossen sich die Schüler dem Protest an. Der Platz war so voll, dass keine Stecknadel zwischen den Demonstranten mehr zu Boden fallen konnte. Studenten und Schüler machten viel Lärm in der Essener Innenstadt. „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut“, riefen Hunderte junge Menschen im Sprechchor. Die Blechtrommler sorgten für den passenden Rhythmus. Mehrere Passanten zeigten sich neugierig und machten kurzen Stopp, schlossen sich der Demo jedoch nicht an.

Viele Bewohner schauten aus dem Fenster, als die breite Kolonne sich durch die Hindenburgstraße Richtung Hauptbahnhof zog. Vorne führte eine dunkle Gestalt mit dem Aufschrift „Bolognaprozess“ auf dem Seil die weiß bekleideten Angeklagten „Bachelor“ und „Master“ zur Hinrichtung. Ein Schüler mit einem roten Schal über den Hals, den seinen Namen nicht nennen wollte, ging etwas seitig von der Kolonne. „Die Klassen sind voll, die Lehrer sind überfordert. Ich bin in der zwölften Klasse. Wir hängen jetzt mit dem Stoff extrem hinterher. Wie soll es werden, wenn sie die Schulzeit noch verkürzen? Und wenn ich jetzt studieren möchte, muss ich teure Studiengebühren bezahlen. Das geht nicht“, sagte der Schüller und rannte plötzlich nach vorne, um seinen Kommilitonen Anweisungen zu geben.

Studenten protestieren in Duisburg und Essen

Seit Dienstag Nachmittag besetzen Studierende die beiden größten Hörsäle in Essen und Duisburg. Sie protestieren gegen die Studiengebühren und die Verschulung der Studiengänge. „Wir bleiben hier so lange bis unsere Forderungen erfüllt werden“, sagen Studenten und packen am Abend ihre Schlafsäcke in den Unihallen aus.

„Es riecht nach Revolution“ lautet eine Überschrift in der frischen Ausgabe der Campus-Zeitung „pflichtlektüre“, die auf dem Rednerpult im Essener Audimax liegt. Im Artikel geht es um die Unzufriedenheit der Dortmunder Dekane mit den neuen Studienabschlüssen Bachelor und Master. Die Geschichte war wohl gut recherchiert und seit langem geplant. Anders als die Protestaktion von Essener Studenten, die den größten Hörsaal seit Dienstag Nachmittag besetzen.

Es war ein ganz gewöhnliches Germanistik-Seminar kurz nach 15 Uhr im R12-Gebäude am Essener Campus. Plötzlich ging die Tür auf und den Raum betraten etwa zehn junge Menschen. „Hallo! Auf der Vollversammlung der Studierenden wurde gerade beschlossen, das Audimax zu besetzen. Wir protestieren gegen die Studiengebühren, gegen den Bolognaprozess und die Teilnahmepflicht für die Uni-Veranstaltungen. Kommt mit uns, um eure Solidarität zu zeigen“, sagt ein dunkelhaariger Student mit der Brille. Mit dem Bolognaprozess ist gemeint, dass die Studienfächer in ganz Europa vergleichbar werden sollen. Deswegen wurde in Deutschland etwa der alte Diplom-Ingenieur abgeschafft und stattdessen die nach Modulen strukturierten Bachelor- und Masterstudiengänge eingeführt. Der Student ruft: „Wir machen das doch für euch. Wenn wir etwas erreichen, werdet ihr auch davon profitieren.“ Die Seminarteilnehmer bleiben still sitzen. Als die Organisatoren der Aktion und überraschenderweise auch die Dozentin rausgehen, stimmen die Studenten ab, ob sie das Seminar verlassen und den Protest unterstützen wollen. „Ich finde es schon irgendwie wichtig“, meldet sich ein blondes Mädchen. „Ich auch“, sagt ihre Nachbarin. „Vielleicht retten wir auch Karstadt“, flüstert die Stimme aus der hinteren Reihe. Das Seminar wird also abgebrochen.

Es riecht nach Kaffee im Essener Audimax. In der linken Ecke der Bühne steht ein Tisch mit mehreren Kaffee- und Milchpackungen, Brot, Schokocreme und Marmelade. Die Volksküche wurde vor dem sich spontan organisierten Arbeitskreis „Infrastruktur“ eingerichtet. "Wir haben eine kleine Spendenrunde gemacht und für das gesammelte Geld die Produkte eingekauft", erzählen die Lehramtstudenten Ina und Michael. Der Arbeitskreis „Besetzung“ studiert die Foderungsformulierungen der Potsdamer Kommilitonennen, die seit einer Woche ihre Uni besetzen. Etwa 100 Studenten befinden sich im Audimax. Einige beschäftigen sich auf der Bühne mit der Organisation der Protestaktion, andere machen in den hinteren Reihen ihre Hausaufgaben.

 Kurz vor dem Plenum, wo die Liste der Forderungen erarbeitet werden soll, wird die harmonisch scheinende Arbeitsatmosphäre gestört. Im Audimax sind Studierende der Wirtschaftswissenschaften eingetroffen. Sie wissen nichts von der Protestaktion im Hörsaal, sie sollen hier gerade eine Vorlesung haben. Doch die Sitzplätze sowie das Rednerpult sind von den Protestierenden besetzt. Die WiWis sind empört: „Wir haben die Studiengebühren für diese Vorlesung bezahlt.“ Ein junger Mann mit den langen gebundenen Haaren drängt sich zum Mikrophon: „Die Audimax-Besetzung wurde bei der Vollversammlung demokratisch abgestimmt. Wir gehen nicht raus.“ Nach einer hitzigen Diskussion müssen die Wirtschaftstudenten nachgeben. "Es ist gut, eine Meinung zu vertreten und sich für die Belange der Studierenden einzusetzenn. Aber es ist Frechheit, den größten Hörsaal zu besetzen und damit uns, den Wirtschaftstudenten , die Möglichkeit zu studieren wegzunehmen. Wenn man auffallen will, kann man nackt durch die Stadt laufen oder das Dekanat stürmen", sagt der Erstsemestler Christoph.

Der BWL-Student Peter sitzt in der ersten Reihe. "Ich war heute bei der Vollversammlung dabei. Ich fand es interessant, dass die Besetzung festgelegt worden war, bevor es über die Forderungen nachgadacht wurde. Ich persönlich bin nicht gegen die Studiengebühren, sondern gegen die Art und Weise, wie die benutzt werden", sagt der Student. Er ist gespannt, welche Forderungen im Plenum ausdiskutiert werden.

Zum Beginn des Plenums sprechen ein Verdi- und zwei Schülervertreter den Studierenden ihre Grußworte aus. Um 19 Uhr ist der Hörsaal gut gefüllt. Nach der dreistündigen Debatte einigen sich die Teilnehmende schließlich auf drei Punkte: Abschaffung der Studiengebühren in jeglicher Form, Aufhebung der Bachelor- und Master-Studienabschlüsse in jetziger Form sowie Beibehaltung der "alten" Studienabschlüsse Diplom und Magister und Abschaffung der Anwesendheitspflicht für die Uni-Veranstaltungen.

Kurz vor 23 Uhr verlassen müde Studenten das Audimax. Sie wollen morgen früh wieder kommen, um die Aktion fortzusetzen. Etwa 40 Studierende entscheiden sich für die Übernachtung auf dem kalten Audimax-Boden. Für Essen, Trinken und Schlafsäcke wurde gesorgt. Die Taschenlampen wurden auf alle Fälle auch gebracht. Die Studenten an der Ruhr haben sich also den Kommilitoninnen in Potsdam, Greifswald, Leipzig, Mönchengladbach, Münster und Wien angeschlossen, wo ebenso Uni-Hörsäle aus Protest besetzt wurden.

Terrorisierter Priester verlässt Bochum

Foto aus dem Privatarchiv von Ribakovs

Alexejs Ribakovs (33) ist ein IT-Manager von Beruf und ein russisch-orthodoxer Priester von Berufung. Er wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern in einem Mehrfamilienhaus im Bochumer Stadtviertel Querenburg. Nun will Ribakovs die Stadt an der Ruhr verlassen, weil er als Priester in seiner Nachbarschaft terrorisiert wird.

 Als er am Sonntagabend, den 18. Oktober, in seiner schwarzen Soutane vom Gottesdienst kam, wurde Ribakovs von drei jungen Männern bedrängt. Ein Jugendlicher spuckte ihm mitten ins Gesicht und schlug ihm mehrfach auf die Brust. Die Männer haben Ribakovs als einen "Scheiß-Priester" beschimpft. Als der Geistige sein Handy rausholte, um Polizei zu rufen, flüchteten die Angreifer.

Das war kein Einzelfall. Laut Ribakovs spürt er die Bedrohung von den jungen Nachbarn schon seit etwa vier-fünf Jahren. Unbekannte haben ihn mehrmals auf der Straße beschimpft. Sein Auto wurde mit Erbrochenem und Fäkalien beschmiert.

Das Moskauer Patriarchat hat die Angreifer gerügt. Die Bochumer Polizei hat am Donnerstag einen Tatverdächtigen ermittelt. Es handelt sich um einen türkischstämmigen Jugendlichen (17), den Ribakovs auf der Polizeiwache auf einem Foto wieder erkannt hat.

Ruhrbarone haben mit dem russisch-orthodoxen Priester gesprochen.

Vater Alexejs, haben Sie sich fest entschieden, Bochum zu verlassen?

Ganz fest. Ich habe es mir schon früher einige Male überlegt, etwa als mein Auto beschädigt wurde. Der letzte Angriff brachte das Fass zum Überlaufen. Ich will so schnell wie möglich weg.

Sie wohnen seit zehn Jahren in Bochum…

Ja, und ich habe viele Freunde hier. Es ist schade, diese Stadt zu verlassen. Ich habe Bochum immer gemocht, weil es nicht so groß wie Köln oder Düsseldorf und weil es sehr grün ist. Ich wohne am Rande eines Waldes. Frische Luft ist gut für meine Kinder. Die hiesige Schule ist auch gut… Nun muss meine Tochter die Schule wechseln. Für den Sohn müssen wir auch noch einen Kindergartenplatz im neuen Wohnort finden. Das wird nicht einfach.

Erzbischof Longin von Klin, Vorsteher der Mariä-Obhut-Kirche in Düsseldorf, wo Sie regelmäßig Gottesdienste feiern, hat einen Brief an die Bochumer Stadtregierung geschickt, mit der Bitte, die Täter schnellst möglich zu finden. 

Der Erzbischof hat diese Tat sehr ernst wahrgenommen. Er hat mir gesagt, dass der Überfall nicht gegen mich als Person, sondern gegen mich als einen Vertreter der christlichen Religion gerichtet war. Die Jugendlichen haben sich nicht für mein Handy, das silberne Kreuz oder meine Sachen interessiert. Das war nur ein Zeichen im Sinne: „Das ist unser Territorium, geh weg von hier“.

In Deutschland ist die Diskussion über die Integration von Muslimen in letzter Zeit sehr scharf geworden…

Muslime sind ein breiter Begriff. Es gibt Sunniten, Schia, Drusen, Jesiden und andere Glaubensrichtungen im Islam. Man sollte nicht pauschalisieren. Unsere Nachbarn von unten sind aus Irak, sie sind Muslime. Sie haben die Nachricht über den Überfall auf mich mit Trauer aufgenommen. Noch eine Etage tiefer wohnt ein alter türkischer Mann. Wir grüßen uns immer herzlich und haben ganz gute Beziehung. So sind die meisten Menschen. Aber es gibt auch Hohlköpfe. Sie gibt es überall. Es ist traurig, dass sie jetzt unser Viertel unter Kontrolle halten. Diese Leute verstehen nur die „Sprache der Dschungel“. Das einzige Argument für sie: Mit einer schweren Keule über den Kopf. Höfliche Ansprache nehmen sie als Zeichen der Schwäche wahr.

Soll sich die Regierung oder die Gesellschaft mit dem Problem beschäftigen?

Man kann lange Reden über die finanzielle Unterstützung der Integration führen. Ob das was bringt? Ich bin ehrlich gesagt nicht bereit, meine Steuer für die Integration derjenigen, die sich gar nicht integrieren wollen, zu zahlen. Für diese Leute ist mein Aussehen als Priester ein rotes Tuch. Sie hassen alles, was sie nicht verstehen können. Viel Zeit ist leider verloren gegangen, die man in die Lösung des Problems investieren sollte.

Generell soll die Menschenwürde nicht nur auf Papier, sondern auch in der Realität geschätzt werden. Die erste Frage, die mir die Polizisten gestellt haben, die zum Tatort gekommen sind, war, ob ich die sichtbaren Spuren der Verletzung auf dem Gesicht habe. Nein? Dann ist es nur leichte Körperverletzung und keine einfache Körperverletzung, haben sie gesagt.

Was wollen Sie den Jugendlichen, die sie überfallen haben, sagen?

Ich will ihnen sagen, dass sie mir leid tun. Sie haben keine Zukunft. Ich bin kein Prophet, aber ich kann jetzt schon sagen, wie ihr Leben enden wird. Sie werden wohl wegen einer Überdosierung von Drogen an einem dreckigen Ort sterben. Deswegen tun sie mir sehr leid.

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Steinmeier macht Wahlkampf im russischen Online-Netzwerk

  Zumindest für seine Fotos bekommt der SPD-Kanzlerkandidat die besten Noten 5+, ein russischer Äquivalent von 1+. Bei den Kommentaren bezüglich seiner Politik sind sich die Nutzer des populären russischen Sozialnetzwerks odnoklassniki.ru nicht einig. Frank-Walter Steinmeier gehört seit Anfang September zu den „Klassenkameraden“, wie die Seite auf Deutsch heißt. Der Kontakt zur russischsprachigen Wählerschaft soll dadurch intensiviert werden.

Das soziale Netzwerk zählt 37 Millionen Nutzer. Laut Google kam die Seite im Juli  auf 1,1 Millionen Besucher aus Deutschland. Allein in der Gruppe „Odnoklassniki in Deutschland“ gibt es mehr als 17,5 Tausend Mitglieder. Der Kanzlerkandidat hat inzwischen 86 bestätigte Freunde, 3 Fotoalben und ist bei 27 Gruppen angemeldet. Darunter sind „Freies Deutschland“, „Integration“, „NEIN den Nazis!“, „Mann und Frau“ und „Russische Banja“.

Als Status steht bei Steinmeier am 16. September in perfektem Russisch: „Diese Wahl ist nicht dafür da, um Schicksahl der Parteien zu entscheiden, sondern dafür, um das das Land aus der Krise raus zu kriegen!“ Auf seiner Pinnwand gibt es inzwischen mehr als 240 Anträge von den Gästen. Der User Alexander kritisiert die Partei: „Seit SPD an der Macht ist, machen sich bekannte mir Menschen mehr Sorgen um die Zukunft. Nicht zuletzt dank SPD.“ (Die Schreibweise erhalten – Red.). Die 29jährige Tatjana macht wie einst ihre Namensvetterin in Puschkins „Onegin“ ihr Brief-Geständnis: „Lieber Frank Steinmeier, ich wünsche Ihnen einen Sieg bei den Wahlen.“ Sie setzt ein Smiley in Form eines Herzes auf ihre Mitteilung darauf. Der Kanzlerkandidat antwortet 18 Minuten später auf Russisch: „Tatjana, vielen Dank für Ihre Unterstützung!“

Einige User zeigen sich ironisch: „Leibes Steinmeier-Team, werdet ihr auch nach den Wahlen hier aktiv auf unsere Fragen, bzw. Anregungen reagieren?“ (Die Schreibweise erhalten – Red.) Andere zweifeln an der Authentizität des Profils: „Genauso Fake wie dieser Frank“, lautet ein Kommentar zum Foto von Steinmeier und Medvedev.

Die Seite ist aber nicht gefälscht. „Sie wurde von uns freigeschaltet“, bestätigt man in der SPD-Pressestelle. Das Profil wird von einem kleinen Team aus Frank-Walter Steinmeiers Wahlkampfbüro im SPD-Parteivorstand in Berlin betreut. „Wir sind seit zehn Tagen aktiv hier und haben fast tausend Gäste. Persönliche Briefe sind so viele, dass wir nicht mehr zählen. Wir schaffen aber noch allen zu antworten“, heißt es aus dem Steinmeier-Team. Es gebe keine andere fremdsprachige Seite von Frank-Walter Steinmeier. Die türkische Wählerschaft sei über die zahlreichen türkischen Medien in Deutschland informiert. Die Italiener wie auch andere Europäer nutzen vorwiegend dieselben Medien wie die Deutschen. Das russische Steinmeier-Profil wirkt persönlicher als sein Account auf StudiVZ. Auf der deutschen Seite sieht man den Kanzlerkandidaten auf den Parteitagen, Pressekonferenzen und Wahlkampfveranstaltungen.

 

Das russische Profil ist facettenreicher: Steinmeier-Fußballfan, Steinmeier-Koch, Steinmeier-Kind, Steinmeier-Jugendlicher. Auf dem Profilbild fährt der Außenminister lächelnd Fahrrad. „Jeder Text und jedes Foto ist von Steinmeier oder seinen engsten Mitarbeitern im SPD-Parteivorstand freigegeben“, erzählt ein Mitarbeiter des Online-Teams.

In der SPD weiß man, dass Russlanddeutsche bei den letzten Wahlen vorwiegend CDU gewählt haben. Die Sozialdemokraten möchten den Kontakt zu der neuen Generation intensivieren und „sie davon überzeugen, dass die SPD die besseren Lösungen für die Probleme der Zukunft hat“. Der 29jährige Russlanddeutsche aus Berlin Andrej Steinke ist skeptisch: „Dass Steinmeier sich ein Profil auf Odnoklassniki erstellen lassen hat, zeigt nicht, dass er an den Problemen der Russlanddeutschen interessiert ist. Es zeigt nur, dass sein Wahlkampteam professionell arbeitet und alle Möglichkeiten auslutschen will, um mehr Stimmen zu bekommen“. Steinke spreche die Steinmeier-Seite nicht an. Anders als 30jährige Odnoklassniki-Benutzerin aus Düsseldorf. Sie meldet sich unter dem Namen Poker Face auf Steinmeiers Pinnwand: „Lieber Herr Steinmeier, meine Stimme haben Sie!“

P. S. Um sich das Profil von W.-F. Steinmeier anzuschauen, muss man sich auf der Seite anmelden bzw. ein eigenes Profil erstellen.

Ruhrgebiet, Nahverkehr und Regen

Ich liebe das Ruhrgebiet. Hier ist immer was los. Am Freitagabend muss ich mich zwischen einer Oper in Essen, einem Festival in Bochum und einem Filmmusikkonzert in Dortmund entscheiden. Die Freunde überreden mich, das Jubiläumskonzert des Studentenorchesters in Dortmund zu besuchen.

Ich liebe das Ruhrgebiet. Es dauert nur eine halbe Stunde, von Essen zur Dortmunder Uni mit der S-Bahn zu fahren. Als ich am Bahnhof die Treppe zum Gleis hochlaufe, merke ich: Etwas stimmt nicht. Auf der Anzeige steht nicht wie erwartet „S1“, sondern „S3“. Alle Leute steigen aus der Bahn aus. Der Zug fährt nicht weiter. Wegen des Unwetters gab es einen Stromausfall, die Strecke ist gesperrt, erfahre ich vom Zugbegleiter. Wann fährt die S-Bahn nach Dortmund? „Im ganzen Ruhrgebiet kommt es zu Verspätungen“, klärt die Durchsage auf.

Ich liebe das Ruhrgebiet. Ich sehe, wie eine Regionalbahn nach Minden, die über Dortmund Hauptbahnhof fährt, auf dem Nachbargleis eintrifft. Ich laufe schnell hin und erwische den Zug. Ich freue mich aufs Konzert. Ich muss jetzt nur noch einmal am Hauptbahnhof umsteigen; dann bin ich am Ziel. Doch irgendwas stimmt ncht. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich, dass keine Züge in Gegenrichtung fahren. Sie stehen still auf den Gleisen. Was wird, wenn jetzt die S1 Richtung Universität gar nicht fährt?

Ich liebe das Ruhrgebiet. Am Dortmunder Hauptbahnhof riecht es nach Waffel und Vanille. Ich sehe auf der Anzeigetafel, dass die S1 pünktlich ankommen wird. Auf dem Gleis warten schon viele Leute. Die S1 fährt pünktlich ein. Auf der Anzeige erscheint aber die Aufschrift: „10 Minuten Verspätung“. Die S1 verwandelt sich plötzlich laut der Aufschrift auf dem Zug in S2. Die Anzeige: „Nicht einsteigen“, dann „15 Minuten Verspätung“, dann wieder „Nicht einsteigen“. Die Uhr steht. Sie zeigt schon 5 Minuten lang die Abfahrtzeit des Zuges – 20 Uhr 34 Minuten. Die S-Bahn steht. Die Menschen auf dem Gleis stehen. Steht die Zeit still?

Ich liebe das Ruhrgebiet. Trotz der Zugverspätung sehen die Menschen nicht böse aus. Sie unterhalten sich. Ich gehe durch den Gleis und fühle mich wie in Babylon. Ich höre Deutsch, Französisch, Türkisch, Russisch und noch einige mir unbekannte Sprachen. Nur zwei Frauen mit riesigen Koffern sind besorgt. Sie müssen zum Düsseldorfer Flughafen, höre ich.

Ich liebe das Ruhrgebiet. Die Waffel am Dortmunder Hauptbahnhof schmeckt lecker. Die Besitzer des Kaffeeautomats auf dem Gleis haben in den letzten 20 Minuten den Umsatz einer Woche gemacht. Die Anzeige spinnt weiter. „Nicht einsteigen“ – „30 Minuten Verspätung“ – „Nicht einsteigen“ – „25 Minuten Verspätung“. Die Frauenstimme kündigt regelmäßig an: „Aufgrund vom Unwetter kommt es zu Verspätungen und Zugausfällen. Wie werden sie weiter informieren“. Die Nachbarn auf dem Gleis sprechen mich an, sie fragen, wohin ich hin will und beschweren sich über das Chaos. Ich erinnere mich an die „wetterbedingten Seminarausfälle“ an der Uni im Winter. Ich erzähle meinen neuen Bekannten, dass Zugausfälle wegen Schnee oder Regen in Russland unvorstellbar wären.

Ich liebe das Ruhrgebiet. Auf dem Gleis gegenüber warten die Menschen tolerant auf die S2. Die kommt auch nicht bzw. der Zug steht, aber man darf nicht einsteigen. Dann lautet die Durchsage: „Die S2 fällt aus“. Die Damen mit den Koffern sind inzwischen verschwunden. Ich rechne im Kopf nach, wieviel ein Taxi von Dortmund zum Düsseldorfer Flughafen kosten könnte.

Ich liebe das Ruhrgebiet. Ganz unerwartet kommt die erfreuliche Ansage: „Die S1 steht für Sie bereit“. Die Menschen auf dem Gleis steigen erst mal nicht ein, sie schauen sich gegenseitig an, sie glauben ihrem Glück nicht. Dann stürmen sie in den Zug; jeder will jeden vor Freude umarmen.

Ich liebe das Ruhrgebiet. Ich komme nur eine Stunde später als geplant an und erwische die zweite Hälfte des Konzerts. Ein ganz normaler Freitagabend wurde zum Abenteuer. Und das Wichtigste: Man kommt trotz allem an. Im Ruhrgebiet.