Das gute Tschernobyl

Foto: Flickr.com / phlammert

Der 26. April 1986 war ein sonniger Tag. Meine Mutter, die damals so alt war, wie ich heute, ging mit mir spazieren. Wir lebten in einem kleinen Ort in Weißrussland. Nach dem Regen gab es überall Pfützen. Es blühte Löwenzahn. Ich war gerade ein Jahr alt und genoss meinen ersten Frühling. Ich wusch meine Hände in den glänzenden Pfützen und platschte mit meinen Beinen drin herum. Die Pfützen hatten einen gelben Rand, erinnert sich meine Mutter heute. Damals dachte sie, es sei Blütenstaub vom Löwenzahn. Sie wusste noch nicht, dass seit diesem Tag unser Löwenzahn, unser Wasser und unser Boden vergiftet sind.

Ein paar Tage später gab es eine kurze Information in den sowjetischen Medien: In der Nacht auf den 26. April ist der vierte Block des Atomkraftwerks in Tschernobyl explodiert. Es gebe keinen Grund zur Panik, hieß es, niemand sei betroffen, alles in Ordnung. Es wurde allerdings empfohlen, die Fenster in den Wohnungen zu schließen. Am Tag der Arbeit versammelten sich Menschen in unserer kleinen Stadt Tschausy im Osten Weißrusslands auf dem Lenin-Platz. Es waren die üblichen Feiern. Die Leute waren aufgeregt wegen der Nachricht und wegen des Frühlingsfiebers.

Ich kann mich an diese sonnigen Tage nicht erinnern. Dafür habe ich viele positive Erinnerungen aus meiner Kindheit, die mit Tschernobyl verbunden sind. In der Schule bekamen wir drei Mal am Tag kostenloses Essen. Zum Mittag gab es Suppe, Fleisch oder Fisch mit Beilage und einem Getränk. Manchmal gab es Algen. Das mochten wir aber nicht, obwohl (oder gerade weil) sie wegen des hohen Jod-Gehaltes als besonders gesund galten. Was wir wahnsinnig mochten, war das Obst, das wir jeden Tag zum Mittagessen bekamen. Dies wurde vom Staat und den internationalen Organisationen finanziert. Sie hießen „Hoffnung“ oder „Kinder von Tschernobyl“. Wir, die Kinder von Tschernobyl, waren eigentlich ganz glücklich.

Zum Neujahr gab es regelmäßig Pakete aus dem Westen – die so genannte humanitäre Hilfe. In den Päckchen gab es leckere Schokolade, Bonbons, Kaugummis, Kakao. Manchmal gab es auch Briefe, die in einer Fremdsprache verfasst wurden. Dort stand zum Beispiel: „Hallo! Ich heiße Tom und ich bin 8 Jahre alt. Ich wohne in einem Haus mit Garten in Deutschland. Mein Lieblingsspielzeug ist Teddybär. Schöne Weihnachten!“ Als ich etwas älter wurde, antwortete ich auf einen dieser Briefe. Ich schrieb: „Hallo Tom! Ich heiße Olga. Ich bin 10 Jahre alt. Ich habe einen Bruder. Wir wohnen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Ich gehe zur Schule und lerne dort Deutsch“. Ich habe keine Antwort bekommen. Trotzdem sagte ich allen, dass ich einen Brieffreund habe.

Die wichtigste Freude der Kinder von Tschernobyl ist mir allerdings entgangen – die Chance, einen Sommer in einer Gastfamilie im Westen zu verbringen. In meiner Klasse gab es 25 Kinder, 22 davon waren im Ausland. Die meisten flogen nach Kanada, aber auch nach Italien, Belgien oder Deutschland. Ich war unter den drei, die nicht im Ausland waren. Meine Mutter wollte das nicht. Sie meinte, es wird mir nicht gut in einer fremden Familie gehen. Ich war ein kränkliches Kind. Sie sagte: „Ich kaufe dir alles selber und wenn du erwachsen bist, gehst du, wohin du willst.“ Ich nahm es ihr übel. Ich war neidisch auf die vollen Koffer vom Spielzeug und Süßigkeiten und auf die unzähligen Fotos mit einem großen Haus und einem Swimming Pool im Hintergrund, die meine Mitschüler aus Kanada mitbrachten.

Meine Cousine war ihrerseits neidisch auf mich. Sie wohnte in einem Ort 50 Kilometer von uns entfernt. Im Unterschied zu Tschausy überstiegen die Messungen dort die Grenzwerte nicht. Offiziell gehörte die Stadt nicht zu den radioaktiv verseuchten Gegenden. Deswegen hatte ihre Bevölkerung keine Tschernobyl-Vergünstigungen. Meine Cousine durfte nicht wie ich für einen Monat im Jahr kostenlos ins Sanatorium in einen „sauberen“ Ort in Weißrussland.

Während dieses Erholungsmonats waren wir Schüler unter uns, weit weg von den Eltern. Wir hatten nur vormittags Unterricht und bekamen keine Hausaufgaben. Dafür gingen wir abends in die Kinderdiskothek oder ins Kino, schrieben einander Liebesbriefe und organisierten Konzerte. Das sind meine besten Erinnerungen an die Schulzeit.

Dank Tschernobyl bekam mein Bruder letztes Jahr einen Platz im Studentenwohnheim in der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Die Wohnheimplätze sind rar. Studenten mit einer Behinderung, Waisen oder Jugendliche aus einer anderen „sozialen Kategorie", wie zum Beispiel Leute aus einer radioaktiv verseuchten Gegend, haben Vorrang. Die Miete beträgt 40 Euro im Jahr. Sonst sind die Mietpreise in der Minsk ungefähr so hoch wie die in Berlin.

Radiozäsium, Plutonium und Radiostrontium kann man nicht riechen, sehen oder hören. Ich weiß nicht, ob ich ohne Tschernobyl seltener krank gewesen wäre. Man kann nicht genau nachweisen, ob die sinkende Lebenserwartung der Weißrussen mit Tschernobyl verbunden ist.

Im Kindergarten, den meine Mutter leitet, sind nur drei von 87 Kindern völlig gesund. Der Rest hat eine Krankheit. Irgendeine. Das heißt nicht, dass die Kinder drei Arme oder zwei Köpfe haben. Aber sie haben schlechte Augen, Probleme mit den Nieren und der Schilddrüse oder sind „allgemein kränklich“. Man kann nicht nachweisen, ob das mit dem Atomunfall zu tun hat. Der Staat bezahlt für diese Kinder aber die Hälfte der täglichen Verpflegung im Kindergarten, die ungefähr zwei Euro kostet. Einen Euro zahlen die Eltern.

Meine Mutter hat sich bis jetzt nicht verziehen, dass sie mich damals in den Pfützen hat planschen lassen.

Weißrussland: Geopolitisches Spiel als Mittel gegen die Finanzkrise

Ein Autoladen in einem belarussischen Dorf

Weißrussland, der östliche Nachbar der EU, ist von der Wirtschaftskrise mit am schwersten betroffen. Der Export in die Nachbarländer – nach Russland und Polen – sank auf die Hälfte. Die Lager sind mit unverkaufter Ware überfüllt. Der belarussische Rubel wurde im Januar auf einmal um 20 Prozent abgewertet. Der Durchschnittslohn der Weißrussen sank ebenso um 20 Prozent. Während das Volk sich den Gürtel enger schnallt, knickst Präsident Alexander Lukaschenko in verschiedene Richtungen – mal in den Westen, mal in den Osten. Dabei verspricht er liberale Reformen oder Anerkennung von Ossetien und Abchasien und hofft auf finanzielle Hilfe. Nicht ohne Erfolg.

Die Weltwirtschaftkrise hat auch die entlegensten Ecken Weißrusslands erreicht. Am Rande des Dorfes Galusy im Osten von Weißrussland versammeln sich die betagten Bewohner der Siedlung. Es ist Dienstag, 16 Uhr. Wie immer um diese Zeit soll ein Mercedes-Minibus vorbeikommen. Er bringt in das aussterbende Dorf ein Stück vom Luxus: frische Milch und Brot, gegrilltes Hähnchen, Schokolade und Bonbons, deren Etikette mit nicht-kyrillischen Buchstaben beschrieben sind. Der Bus kommt wie immer pünktlich. Doch abgesehen davon ist nichts mehr, wie es war.

Eine 60-Jährige fragt nach Obst. „Früchte und Limonade haben wir nicht mehr im Angebot“, sagt der Privatunternehmer Ruslan Alexeenko (25), Fahrer und Verkäufer in einer Person. Unter den Kunden sind nicht, wie gewöhnlich, nur Omas, sondern auch ein paar jüngere Frauen. Das sind die Frauen, die wegen Zwangsurlaubs aus Minsk in ihr Heimatdorf zurückgekehrt sind. Doch trotz ihres Besuches verkauft Alexeenko kaum mehr als sonst. Als er Galusy verlässt, zählt er zwei Paletten Brot und eine Kiste Milch, die nicht verkauft wurden. „Das war kein guter Tag“, resümiert der Unternehmer. „Alles wegen der Finanzkrise. Ich muss Preise nach oben treiben, weil die Einkaufspreise für mich auch steigen. Die Dorfbewohner können sich immer weniger leisten“.

Nach offiziellen Angaben stiegen die Lebensmittelpreise in Weißrussland im Januar 2009 im Vergleich zu Dezember 2008 um 3,3 Prozent. Sie wurden in belarussischen Rubeln verglichen. In Anbetracht der Abwertung der heimischen Währung ist der Preissprung deutlich höher. Der Durchschnittslohn der Weißrussen sank im Januar im Vergleich zu Dezember in US-Dollar Äquivalent um 20 Prozent – von 450 USD auf 330 USD.

Zuerst wollte der belarussische Präsident Lukaschenko nicht zugeben, dass es in Weißrussland wirtschaftliche Probleme gibt. „Es gibt keine Krise im Lande, und es wird um keine Krise gehen“, sagte er Ende Oktober 2008. Doch bald ließ sich die Rezession nicht mehr vertuschen. Am zweiten Januar 2009 wurde der belarussische Rubel im Vergleich zum US-Dollar und zum Euro auf einmal um fast 20 Prozent abgewertet. Es herrschte Panik in Weißrussland. Die einen stürmten die Banken, die anderen die Geschäfte. Es wurde alles gekauft – Kühlschränke, Mikrowellenherde, Staubsauger – auch das, was seit Monaten in den Ladenregalen verstaubte. Denn die Menschen wussten: Bald werden alle Importwaren sehr viel teurer sein.

„Lukaschenko sagte, dass der weißrussische Rubel sicher ist. Das ist unverschämt!“, empörte sich eine Studentin mit der roten Mütze im belarussischen Regionalzug. „Hör dem Präsidenten besser zu“, sagte ihr die andere Studentin. „Er hat auch gesagt: Wir werden schlecht leben, aber nicht lange.“

Präsident Lukaschenko gab sich weiter optimistisch. „Wir exportieren alles – Motoren, Schuhe, Kleidung. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise zeigen sich wegen der Exportorientierung auch bei uns. Trotzdem müssen wir 2009 mindestens 2.000 bis 3.000 Motoren mehr herstellen als 2008. Es gibt einen Anlass zum Optimismus“, munterte Lukaschenko die Mitarbeiter des Minsker Motorenwerks während seines Besuches bei dem Unternehmen auf. Seine Rede wurde im Fernsehen ausgestrahlt. Dass die Lager der weißrussischen Fabriken voll mit unverkauften Produkten sind, wurde dabei nicht gezeigt.

Das Gesamtvolumen der nichtrealisierten Erzeugnisse der Leichtindustrie beträgt zur Zeit 200 Prozent des monatlichen Produktionsumfangs. Die Regale der belarussischen Geschäfte sind mit inländischen Handtüchern, Geschirr und Waschmitteln überfüllt. Die Schildchen appellieren zu den Kunden: „Kauft das Weißrussische!“ Eine Packung der weißrussischen Flüssigseife kostet zum Beispiel ein Euro, ein Analogprodukt einer westeuropäischen Marke ist 2,5 Mal teurer. Man muss wohl kein großer Patriot sein, um sich fürs Weißrussische zu entscheiden. Die Kaufkraft der Bevölkerung sinkt.

Die wirtschaftliche Lage des Landes verschlechtert sich dramatisch. „Die Rentabilität der Produktion ist im Vergleich zu Anfang 2008 um zwei mal gesunken. Fast ein Drittel aller Unternehmen machen Verluste, wie in den katastrophalen 90er Jahren“, schreibt der Professor einer Privathochschule in Minsk Boris Schiliba in der regierungskritischen Zeitung „Narodnaja Wolja“. In der zweiten (es gibt nur zwei) kritischen Zeitung „Nascha Niwa“ schreibt der Wissenschaftler Alexander Tschubrik, dass die Finanzkrise in Europa nur Lettland, die Ukraine, Ungarn und Island noch stärker als Weißrussland treffe. „Nur diese Staaten haben wie unser Land eine dringende Hilfe des IWF benötigt.“ Anfang des Jahres hat der IWF einen Kredit in Höhe von 2,5 Milliarden US-Dollar für Weißrussland gebilligt. Zwei weitere Milliarden USD leiht sich Weißrussland vom Nachbarn Russland aus.

Belarus liegt zwischen der EU und Russland. Lukaschenko weißt die geopolitische Lage seines Landes zu nutzen, um aus der finanziellen Sackgasse rauszukommen. Er spielt gerne Figaro. Letzte Woche besuchte er den russischen Präsidenten Medvedev. Da machte Lukaschenko seinem Kollegen ein weiteres Mal eine Treue- und Liebeserklärung und bekam als Geschenk eine Gaspreissenkung versprochen. Genau eine Woche später, am 17. April, empfängt Alexander Lukaschenko zu Hause den tschechischen Außenminister Karl Schwarzenberg. Von ihm bekommt „der letzte Diktator Europas“ eine Einladung der EU nach Prag zur Gründung der „Östlichen Partnerschaft“.

Wie Narzissen über die Geschichte wachsen

Eine bescheidene, etwas verkratzte Info-Tafel aus Metall steht hinter einem Jägerzaun auf dem Essener Gerlingplatz. Daneben wächst Gras und es blühen Narzissen. Eine vernachlässigte Currywurst- oder Dönerbude wartet auf bessere Zeiten, die Sonnenschirme sind zugeklappt. Kaum ein Passant wird seinen Blick auf die Tafel lenken – wenn er sie überhaupt bemerkt. Dabei lohnt dieser Ort ein wenig Aufmerksamkeit. Denn hier wurden am 21. Juni 1933 die Bücher unerwünschter Autoren wie Bertolt Brecht, Heinrich Heine, Thomas Mann, Albert Einstein, Erich Kästner, Sigmund Freud, Anna Seghers und Arnold Zweig verbrannt.

Der bayerische Künstler Wolfram P. Kastner lässt kein Gras über die Geschichte wachsen. In München hat er angefangen. Dort markiert er seit Jahren den Königsplatz mit einem Brandmal, genau an dem Ort, an dem 1933 die Bücher brannten. Und auch im Ruhrgebiet will Kastner ein Zeichen setzen. Genau auf dem Gerlingplatz. Doch sein Vorschlag wurde von der Kulturhauptstadt abgelehnt. Über den Grund dafür und das, was er nun plant, sprach der Künstler mit den Ruhrbaronen.

Ruhrbarone?: Herr Kastner, wie soll Ihrer Meinung der Gerlingplatz aussehen?

Kastner!: Ungefähr an der Feuerstelle von 1933 sollte eine nicht exakt kreisförmige schwarze Steinplatte in den Platz eingelassen werden. Die Platte sollte eine rauhe Oberfläche aufweisen und einen Durchmesser von etwa 2,5 Meter haben. In die Platte sollten acht bis zehn Umschlagseiten von verbrannten Büchern in Originalgröße farbig eingelassen werden. Täglich ab Einbruch der Dunkelheit würde ein Lichtkreis auf den schwarzen Fleck eine Minute lang projiziert. Nach einer kurzen Pause würde dann der Text mittels eines Gobo-Projektors für etwa zehn Minuten auf die Stelle der Bücherverbrennung langsam kreisend belichtet. Im Text sollen dann wichtige Informationen auf Deutsch und auf Englisch stehen.

?: Warum wollen Sie die jetzt dort installierte Tafel durch ein Lichtobjekt ersetzen?

!: Diese Tafeln sind Tafeln der Unsichtbarkeit. Sie verrotten und verschwinden. Man gewöhnt sich daran. Der heutigen Wahrnehmung der Menschen entspricht sowas überhaupt nicht mehr. Da soll etwas Auffälligeres und zeitlich anders Bestimmtes entstehen. Es geht darum, die Geschichte nicht zu verstecken, sondern sie sichtbar zu machen. Ich finde, dass das ganze Ambiente, wie das jetzt dort ist, ein Jägerzaun, eine verrottete Tafel und eine Currywurst-Bude, beschämend und einer Kulturhauptstadt wirklich unwürdig ist.

?: Wie war die Reaktion der Kulturhauptstadt auf Ihr Projekt?

!: Mir wurde gesagt, dass es keine Möglichkeit gibt, etwas zu machen, weil es nicht vorgesehen ist und weil kein Geld da sei.

?: Wann haben Sie Kontakt mit der Kulturhauptstadt aufgenommen?

!: Vor einem Jahr. Das erste Mal haben wir im April letzen Jahres korrespondiert. Ich habe dann noch ein paar mal hingeschrieben. Aber bis jetzt gibt es keinerlei positiven Ergebnisse.

?: Was ist Ihrer Meinung nach der wahre Grund der Absage?

!: Ich fürchte, dass es so sein wird, wie in vielen anderen deutschen Städten. Man will die dunklen Flecken der deutschen Geschichte nicht sehen und zeigen. Dabei begreift man nicht, dass es hier eigentlich um die positiven Seiten geht. Und zwar um die beste deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, die mit diesem Ort in Verbindung steht. Das kann ein positives Licht in die Zukunft werfen. Man sollte darauf achten, dass sowas nicht mehr passiert. Stattdessen fürchten viele Verantwortliche immer, dass ein Makel an ihrer schönen Stadt hängen bleibt. Man will nur dekorieren.

?: Wie teuer wäre die Umsetzung Ihres Projektes?

!: Ich denke, die Installation würde zwischen fünf und zehn Tausend Euro kosten. Man könnte natürlich etwas Aufwendigeres und Teureres machen.

?: Wollen Sie nach der Absage der Kulturhauptstadt Ihr Projekt in Essen aufgeben?

!: Auf keinen Fall. Man muss da etwas machen. Es gibt sicher Menschen in Essen, die das Schweigen und das Vertuschen nicht hin nehmen wollen. Ich denke, wir werden dort schon am 21. Juni, vielleicht auch in diesem Jahr, aber auf jeden Fall im kommenden Jahr, etwas sichtbar und hörbar machen. Ich denke daran, am Gerlingplatz eine öffentliche Lesung aus den verbrannten Büchern zu organisieren. Wir könnten auch ein Zeichen auf das Pflaster setzen.

?: Gibt es Essener, die mitmachen?

!: Ein paar Personen und eine Buchhandlung interessieren sich für meine Idee. Ich hoffe, es werden noch mehr Leute. Vielleicht können wir dann auch die zuständigen Herren in der Stadt motivieren, etwas zu machen und nicht weg zu schauen.

Ruhrbarone: Herr Kastner, vielen Dank für das Gespräch.

Finanzkrise als Anlaß für Optimismus

Zettel-Motivation auf Russisch: "Pfeiff auf die Krise"

Die Finanzkrise hat Russland stark getroffen. Der russische Rubel verlor ein Drittel seines Wertes gegenüber dem US-Dollar. Viele ambitionierte Bauprojekte wurden auf Eis gelegt. Die Arbeitslosigkeit steigt. Doch die Bevölkerung der russischen Kulturhauptstadt Sankt Petersburg ist nicht verzweifelt. Viele bemerken positive Folgen der Rezession und wollen die Krisenzeit als eine Chance nutzen: um eigene Firma zu gründen, ein neues Auto günstig zu kaufen, eine Ausbildung zu beginnen oder ein Baby zu bekommen.

"Die Finanzkrise ist wie ein Regen. Sie ist unangenehm, wird aber bald vorbei sein“, sagt Michail Rybasow und lächelt. Der Wirtschaftsredakteur der Online-Zeitung mergers.ru gibt zu, dass er sich über die Wirtschaftskrise freut. „Das Leben ist interessanter und der Nachrichtenticker ist reicher an wirklich wichtigen Themen geworden. Ich merke, dass viele meiner Freunde jetzt schneller und kreativer denken. Die Krise hat die Routine abgelöst“, sagt der 29-Jährige. Dass wegen der Finanzkrise die geplante Lohnerhöhung verschoben wurde und die Redaktion in das kleinere Büro umziehen musste, nehme er dafür gern in Kauf.

Wer derzeit über den Newskij Prospekt, die Hauptstraße der russische Kulturhauptstadt Sankt Petersburg, geht, sieht eine weitere positive Folge der Finanzkrise: Jedes dritte Geschäft hat die Preise reduziert, jedes zweite Café bietet Rabatte an. „50 Prozent Rabatt auf alle Torten“, „Zwei Portionen Sushi für den Preis von einer“ – steht auf den Schildchen in vielen Schaufenstern. Auf einer Informationstafel hängt neben den bunten Werbeplakaten ein kleiner gelber Zettel: „Pfeif auf die Finanzkrise! Ein föderales Unternehmen bietet Kredite ohne Zinsen für Wohnung, Job und Ausbildung.“ „Ein föderales Unternehmen? Und eine Handynummer als Kontakt angegeben?“, wundert sich Kirill Rybasow, der Bruder vom Wirtschaftsredakteur Michail Rybasow, als er den Zettel sieht.

Die Firma, die der 25-Jährige vor vier Monaten gründete, soll nach seiner Meinung eine transnationale werden. Den passenden Namen hat sie schon: Multifinance. „Von einem eigenen Unternehmen habe ich schon immer geträumt. Als mir die Zusage für eine Stelle in einer internationalen Bank wegen Sparmaßnahmen dann zurückgezogen wurde, habe ich verstanden, dass ich keinen Job zu suchen brauche und dass es keine bessere Zeit geben wird, um eine eigene Firma zu gründen.“ Arbeitskräfte sind günstig und enorm motiviert, Konkurrenten gehen Pleite, Mietpreise sinken – das sind die Gründe, warum Rybasow mitten in der Krise eine eigene Firma gründet. 18.000 Dollar hat der studierte Betriebswirt in das Beratungsunternehmen bereits investiert. Einige Dividenden sind schon spürbar. „Zur Zeit verkaufen sich Autoversicherungen wie frische Brötchen. Die Autoinhaber wollen so schnell wie möglich ihre Wagen versichern, da Preiserhöhungen drohen“, erklärt Kirill Rybasow.

Dem jungen Geschäftsmann ist es anscheinend gelungen, sich der Krise anzupassen, so wie es die Leiterin des Petersburger Psychologiezentrums Olga Kuprijanez rät: „Wir sind daran gewöhnt, stereotypisch zu denken und zu handeln. Doch die Krise ist kein normaler, sondern ein Ausnahmezustand. Die Stereotypen passen nicht. Man muss flexibel sein. In dieser Zeit kann eine Weiter- oder Zusatzausbildung helfen.“ Die Empfehlung wurde anscheinend von der Stadtregierung gehört. Denn die hat 21 Milliarden Rubel (etwa 5,8 Millionen Euro) aus dem Stadthaushalt bereitgestellt, um die Studenten weiter auszubilden. Es sollen laut Stadtverwaltung mehr gebührenfreie Studienplätze für Masterstudenten und Promovierende eingerichtet werden. Zugleich wird überlegt, ob nicht die zwölfte Klasse an den Schulen eingeführt werden soll. Derzeit lernen die Petersburger Kinder elf Jahre in der Schule.

Außerdem startete in St. Petersburg ein Umschulungsprogramm für Entlassene, für das in diesem Jahr 5,5 Millionen Rubel (etwa 153.000 Euro) bereitgestellt wurden. Dank dieses Programms können die nach dem 1. Oktober 2008 entlassen Petersburger eine neue Qualifikation für die am meisten gebrauchten Berufe erwerben. Das sind Kraftfahrer, Hilfsarbeiter, Koch, Buchalter. Die Berufe, in denen die meisten Menschen entlassen werden, sind Werbe- und PR-Experten sowie Büroangestellte.

Der Unternehmer Wasilij Baturo (48), Chef einer kleinen Logistik-Firma, will von Krise nichts wissen. Er hat sich gerade ein neues Auto gekauft, einen schicken Outlander. „Ich habe lange nachgedacht, wohin ich meine Rubel, die immer weniger wert werden, investieren kann. Die Immobilien werden billiger, mit den Devisen ist es unklar… Als ich mir die Autopreise angeschaut habe, war ich sehr überrascht, da sie enorm gesunken sind. Ich habe mir also sehr günstig eine fast neue tolle Karre gekauft“, freut er sich über seinen Kauf.

Eine etwas andere Investition hat Tatjana Ermolaeewa gemacht. Als sie im August 2008 erfuhr, dass sie schwanger ist, war sie zuerst nicht gerade glücklich, da sie damals nicht ein Kind, sondern eine Karriere plante. Nun denkt die 24-Jährige anders: „Ich sehe, dass viele meiner ehemaligen Mitarbeiterinnen entlassen wurden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass so ein Schicksal auch mich erwischt hätte, wenn ich in der Firma geblieben wäre. Nun verstehe ich, dass jetzt, wenn man keine Arbeit findet oder für wenig Geld arbeiten muss, die beste Zeit ist, um ein Baby zu bekommen.“ Ermolaeewa streicht ihren Bauch und schaut aus dem Fenster. Es regnet in St. Petersburg. Aber der Regen wird bald vorbei sein, hoffen die Bewohner.

 

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Ein Gespräch mit Wladimir Kaminer, dem russischsten aller deutschen Schriftsteller

Wladimir Kaminer (41), sieht sich selbst gern “privat als Russe und beruflich als deutscher Schriftsteller“. Die seltsame Beschreibung hat ihren Ursprung in der Geschichte des gebürtigen Sowjetmenschen. 1990 kam Kaminer nach Berlin und erhielt „humanitäres Asyl“ in der damals noch bestehenden DDR. Seinen Durchbruch erlebte er als Schriftsteller mit den Bestsellern Russendisko, Militärmusik und Schönhauser Allee. Gerade ist er mit seinem aktuellen Buch „Salve Papa“auf Lesereise. Daneben veröffentlicht Kaminer weiter Kolumen in verschiedenen Zeitungen und tritt hier und da als DJ auf. Im Berliner Kaffee Burger ist er zudem als Veranstalter grandioser Parties in bleibender Erinnerung. Olga Kapustina sprach mit ihm über Kinder und Sprache, Studium und Bücher, Russland und Ruhrgebiet.

 

 

Über die deutsche Sprache

 

Ruhrbarone ?: In welcher Sprache führen wir das Interview – in deutscher oder in russischer?

Kaminer!: Wird das hier auf Deutsch veröffentlicht? Dann auf Deutsch.

 

 

?:   In welcher Sprache reden Sie beim Frühstück?

!: Zuhause sprechen wir grundsätzlich Russisch. Meine Kinder versuchen mich auf Deutsch umzustellen. Ich versuche immer etwas dagegen zu unternehmen. Aber manchmal schaffen es die Kinder, dass wir mit ihnen Deutsch reden.

?: Können Ihre Kinder besser Deutsch als Russisch?

!: Meine Kinder sind beide in Deutschland auf die Welt gekommen. Sie sind in deutscher Sprache sozialisiert. Wenn wir nach Russland fahren, sprechen sie dort Russisch und machen das relativ korrekt. Aber ihre erste Sprache ist Deutsch, klar.

?: Die Namen Ihrer Kindern sind auch eher Deutsch…

!: Sie sind international. Sebastian und Nicole sind Namen, die für russische und deutsche Ohren gleichermaßen zugänglich sind.

?: Als Sie 1990 nach Deutschland kamen, sprachen sie kein Wort Deutsch. Wie haben Sie es geschafft, die Sprache so gut zu beherrschen?

!: Das ist überhaupt keine Heldentat. Man kann jedem Kaninchen eine Fremdsprache beibringen, wenn man ihn jeden Tag auf den Kopf schlägt.

?: Das scheint geklappt zu haben. Sie haben 13 Bücher auf Deutsch veröffentlicht…

!: Ich schreibe diese Bücher seit 1998. Geschlagen hat mnich niemand, aber in zehn Jahren kann man doch alles lernen. Ich habe mir nie große Mühe gegeben. Ich habe Deutsch aus Neugier, aus Not, also aus gut nachvollziehbaren Gründen gelernt.

?: Stört es Sie, dass Ihre Aussprache Sie als Nicht-Muttersprachler verrät?

!: Ich höre meine Aussprache ehrlich gesagt nicht. Eine typische russische Aussprache, wie sie zum Beispiel in amerikanischen Hollywood-Filmen vorkommt, hört sich für mich anders an.

 

Über das Lernen

?: Ihre Kinder, um die es in Ihrem neuen Buch „Salve Papa“ geht, sind noch Schüler. Aber vielleicht machen sie sich schon Gedanken darüber, was sie später werden wollen…

!: Klar, natürlich. Sie wissen alles. Mein Sohn will Koch werden, meine Tochter – Schriftstellerin.

?: Ihr ersten Roman hat Nicole schon geschrieben, Sie erzählen darüber in Ihrem Buch…

!: Ja, über Kaninchen. Sie schreibt ziemlich fleißig, ziemlich viel. Aber ich möchte diese Literatur nicht bewerten. Ich sage nur: Das, was mein Sohn kocht, gefällt mir besser, als das, was meine Tochter schreibt.

?: Sollten wir in 7-10 Jahren, wenn Ihre Kinder ein Studium anfangen sollten, mit einem Buch von Ihnen über das deutsche Hochschulsystem rechnen?

!: (Lächelt).Ich weiß nicht, inwiefern dieses Thema interessant sein wird. Zur Zeit arbeite ich an Projekten mit anderen Inhalten. Ich schreibe ein Buch über den Kaukasus. Ein anderes Buch hat sich aus dem Stoff, das ständig neu ankommt, herauskristallisiert. Der Titel wird heißen „Deutschland ist in Ordnung“. Es geht um verschiedene Facetten des deutschen Lebens. Das wird quasi das zweite deutsche Dschungelbuch.

?: Sie selber haben Musik in einer Theaterschule in Moskau studiert… In einem Interview präsentierten Sie sich neulich als Sozialwissenschaftler, da Sie sich mit Lebensforschung beschäftigen. Wenn Sie jetzt vor der Wahl stünden, was sie lernen wollten. Welches Fach würden Sie wählen?

!: Mich interessiert die Geschichte der Menschheit, die letzten dreitausend Jahre. Die Entstehung der Sprache und der Kultur, theologische, politische und soziale Aspekte. Dieses Wissen ist unverzichtbar, um die Gegenwart zu verstehen. Unwissen ist der Geisel der Menschheit. Es stellt sich nicht die Frage: Was studieren? Alles!

 

Über Russland

?: Man sieht in Ihren Interviews und Ihrem Blog, dass Sie sich gut über Ereignisse in Russland informieren…

!: In Russland ist es sehr schwer, wenn irgendwas passiert, an wahre Information zu kommen.Die Presse hat da ihre Spielregeln. Russland ist, was die Presse oder Politik betrifft, zu einem großen Theater geworden. Das geht gar nicht mehr um Wahrhaftigkeit der einen oder der anderen Nachrichtenquelle, sondern nur um die Rolle, die diese Nachrichtenquelle im politischen Theater des Landes spielt. Wahre Informationen über Russland kann man nur aus Blogs erfahren. 

?: Welche Blogs lesen Sie denn?

!: Ich lese Blogs von Schriftstellern und von Journalisten, wenn ich sehe, dass sie in ihren Blogs objektiver urteilen als in offiziellen Medien. Ich lese Menschen, die ich interessant finde. Zum Beispiel: Gortschew, Baru und Beresin.

 

Über sein Buch

?: Am Ende des Buches „Salve Papa“ steht es: „Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind weder vorhanden noch beabsichtigt. Es sei denn, die Personen wollen sich in dem Buch erkennen“. Ist das eine Lehre aus Ihren früheren Veröffentlichungen oder rein prophylaktisch?         

!: Prophylaktisch.

?: Man kann sich schon vorstellen, dass die mit einem Vampir verglichene Leiterin des Gymnasiums ihrer Tochter den Vergleich übel nimmt…

!: Ich konnte das nicht vermuten. Ich finde das total blöd. Aber letzte Woche kam zu Nicole eine Schülerin aus einer anderen Klasse und sagte: „Die Schulleiterin lässt deinen Vater grüßen und bittet dich, ihn zu fragen, falls er konkrete Vorschläge hat, wie man das Schulsystem verbessern kann, dann soll er dir das sagen. Ich komme nächste Woche wieder.“ Anstatt mich anzurufen, schickt die Schulleiterin ein Kind zu einem anderen Kind. Warum? Ich habe doch diese Schule nur verherrlicht. Sie soll froh sein, dass sie wie Vampir aussieht. Vampire sind gerade jetzt in. In Bestsellerliste ist die Hälfte Bücher über Vampire.

 

Über das Ruhrgebiet

?: Geografisch schreiben Sie vor allem über Berlin, aber über andere deutsche Städte auch. Wann taucht Ruhrgebiet in Ihren Büchern auf?

!: Es taucht in „Meinem deutschen Dschungelbuch“ auf, wo ich verschiedene Ecken in Deutschland beschreibe.

?: Womit assoziieren Sie das Ruhrgebiet?

!: Mit einer postkapitalistischen Gegend. Sehr interessant. Wenn die ganze Kohle ausgeschöpft ist, die Zechen zu den Kunstobjekten umgewandelt werden, Menschen viel Zeit in irgendwelchen Shopping-Malls verbringen, mehr angucken als einkaufen. Ich glaube, dass das Ruhrgebiet von allen Gegenden Deutschlands am nächsten zur Zukunft steht.

 

Und weil das Wort Blitz so schön ist – Blitzfragen

?: Welchen Film haben sie zuletzt gesehen?

!: „Bewohnbare Insel“ des russischen Regisseur Bondartschuk.

?: Wann waren Sie letztes Mal betrunken?

!: Vor 22 Jahren in der sowjetischen Armee. (Das Glas Weißwein auf dem Tisch ist halbleer.)

?: Moskau oder St. Petersburg?

!: Natürlich Moskau.

?: Döner oder Curry-Wurst?

!: Weder noch. Ich bin Vegetarier.