A Local Hero´s Diary VII: Autobahn unplugged

In der letzten Folge seines Local-Hero-Tagebuches beobachtet Carsten Marc Pfeffer das Verschwinden der Postmoderne auf dem Still-Leben Ruhrschnellweg.

Sonntag, 18. Juli: Wer braucht schon Schlaf? Ich bestimmt nicht, so überdreht wie ich jetzt bin. Überhaupt wird der Schlaf überschätzt. Der Schlaf muss viel zu oft als Allheilmittel für alles und jeden herhalten: Lege dich doch ein bisschen hin, wenn es dir nicht gut geht, Liebling. Vielleicht geht es dir danach besser. Mache es dir schön bequem und schlaf dich mal so richtig aus, mein Schatz. So raten sie dir, aber ausschließlich um dir am nächsten Tag deine volle Energie wieder aussaugen zu können. All das ist hinlänglich bekannt. Mach Bubu oder ich kill dich. Die größte zivilisatorische Fehlleistung im Umgang mit dieser Problematik ist es allerdings gewesen, den Schlaf in die Nacht zu verlegen. Denn die Geschichte des Schlafes ist nicht unbedingt eine Geschichte der Nacht. Vielmehr ist der Schlaf eine Geschichte der Erschöpfung. Des Zuerliegenkommens. Als die frühen Höhlenmenschen mit ihren verschwitzten Pelzen nach Jagd, Beerensammeln und einem gewaltigen Gang Bang im Scheine des Feuers zu zwanzig übereinander geschlungen vor Erschöpfung eingeschlafen sind, da war es wahr und gut. Der Schlaf sollte auf den Schlachtfeldern der Ekstase verdient werden. Das geht auch am Schreibtisch. Ansonsten ist Schlaf überflüssig. Kurzum: Gehe schlafen, wenn du nicht mehr kannst. Schicke dich nicht selber ins Bett, das ist Blödsinn. Natürlich birgt das auch Gefahren, so atavistisch zu argumentieren, da schleicht sich dann schnell die Keule ein, und Keule wollen wir natürlich nicht. Einfach nur so ein bisschen Liebhaben und jede Menge Spaß dabei.

So, was steht denn heute alles an? Das ganz große Programm: 10:30 Uhr die Lesung im FKT, 14 Uhr der Gig auf der Autobahn, Stichwort: Still-Leben Ruhrschnellweg und dann auch noch Bochum Total. Besonders am Sonntag geizt das Off-Programm nicht mit Reizen: Intershop um 20 Uhr: Mary Su & The Smoking Guns, die neue Country-Band von Susanne, über die alle, die bereits den Proben beiwohnen durften, nur schwärmen können. Dann Tucholsky um 21 Uhr: Wohnraumhelden, was für Szenegänger. Und dann der absolute Geheimtipp im Zwitscherstübchen um 23 Uhr: die magerkranke Sängerin mit der tätowierten Hirnfontanelle und all dem vielen Blech im Look. Meine fabelhafte Trash-Diseuse, die so herrlich kaputte Lieder singt. Diese magerkranke Sängerin ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, wie gut das mit mir und der Welt inzwischen funktioniert. Denn ich begehre diese Frau sehr, und das in mehrfacher Weise, wobei das körperliche Verlangen mit Abstand das Dringlichste ist. Da würde ich gerne mal das Gerippe abrudern, aber leider ist sie in einer festen Beziehung. Sehe ich sie nun mit ihrem Freund, so bin ich nicht etwa eifersüchtig, sondern freue mich für sie, dass sie mit so einem coolen Typen zusammen ist. Es ist ganz einfach: keine Spielchen, keine Eifersüchteleien. Smart und easy, so sollte es sein. Anders kann man nicht glücklich werden.

Eitelkeiten

9:50 Uhr – so, jetzt wird es wirklich Zeit aufzubrechen. Kurz noch die Mails checken. Aha, Professor Durand aus Sanary-sur-Mer wiederholt seine Einladung ans Collège La Guicharde. Was hatte ich mich bei unserer letzten Zusammenkunft in Barcelona hervorgetan! Die Schneeszene im Zauberberg: die Ununterscheidbarkeit und das altgriechische Chaos (χάος) als Stifter der Kosmos (κόσμος). Ach ja… Mal sehen, wie er reagiert, wenn er erfährt, dass mein Französisch miserabel ist. In Barcelona mussten wir ja laut Protokoll Englisch miteinander sprechen und die bisher angefallene Korrespondenz erledigte freundlicherweise Mademoiselle Richeux. Jetzt soll ich einen Vortrag halten! Und dann auch noch über Thomas Mann! – Wie soll denn das alles nur gehen? Allein der Gedanke daran, den Zauberberg nochmal lesen zu müssen, versetzt mich in Unruhe. Andererseits wären ein paar Tage Côte d’Azur bei freier Kost und Logis eine willkommene Abwechslung. Mal sehen, wir werden schon eine Lösung finden…

Natürlich haben mir schon viele Menschen vorgeworfen, dass ich ein Opfer meiner Profilneurosen wäre. Das ist dann immer so das letzte Argument, hehe. Dabei wisst ihr doch, dass ich gar nicht so schlimm bin. Haben wir doch schon tausendmal drüber gesprochen. Aber ich kann halt nicht immer überall stehen bleiben und mit jedem stundenlang rumquatschen. Ich muss doch immer fleißig sein, Leute. Ihr wisst doch, dass ich euch liebe. Logo googel ich täglich meinen Namen, aber doch nur um auf dem Laufenden zu bleiben. Darf ich dabei etwa keinen Spaß haben? Warum denn nicht? Ob ich denn kein Problem damit hätte, in der Lokalpresse ständig meinen Namen zu lesen, wollt ihr wissen. Nein, hab ich nicht. Im Gegenteil, das muss unbedingt sein, ich würde mir einen Arm ausreißen dafür, denn das befördert meine Ekstase und nur darum geht es: Ekstase nicht Ego. Lasst euch doch einfach auch was einfallen und macht mit. Hier ist jeder herzlich willkommen. Klar, dafür muss man die Eier haben, aber wenn ihr die nicht haben solltet, dann macht das doch nicht mir zum Vorwurf. Geht doch nicht immer davon aus, dass euch irgendjemand aufhalten würde. Musst doch nicht immer so blöd gucken, Achim. Lass das doch sein. Das gleiche geht auch an dich, liebe Janette. Ein einfaches „Hallo Carsten, wie geht es dir“, wäre schon ein Anfang. Du wirst sehen, ich beiße nicht. Hört doch nicht auf die Leute aus dem Zwitscherstübchen, die kennen mich doch gar nicht und zerreißen sich schon seit Jahren das Maul über mich. Das ist doch albern. Nein, so kriegt ihr das müde Mädchen nicht. Ich will aber, dass ihr mich kriegt. Alle zusammen könnten wir einen wunderbaren Abend miteinander verbringen. Im Nachtleben. Auf der Brüderstraße oder im Freibeuter. Warum denn nicht? Wäre doch super.

Ich muss jetzt wirklich aufbrechen. Aber zuvor sollte ich noch aus diesem viermal durchschwitzten und völlig zerstörten Hugo-Boss-Anzug raus, den ich jetzt schon seit zwei Tagen trage. Herrje, ich sehe aus wie ein 80er-Jahre Kokainopfer, irgendwie: „exklusiv“, und das ist so ein böses Wort, weil es seine Eleganz auf Kosten der Ausgrenzung anderer generiert. Und heute sollen ja alle mitmachen. Nein, ich kloppe in Anzug in die Tonne und ersetzte das Wort „exklusiv“ jetzt mal mit: smoothy, greasy, gorgeous. Ein grobkariertes H&M-Hemd in warmen Lehmtönen, natürlich ungebügelt, dazu eine ausgefranste tarnfarbende Cargo, die oberhalb der Waden abschließt. Eigentlich ein billiger Safari-Look, aber aufgrund meiner kräftigen Statur (die breiten Schultern, die durchtrainierten Waden und so) mengt sich in das Erscheinungsbild auch noch eine Prise Hemingway, die alles wieder gut macht. Den entscheidenden Drive bekommt das Ganze jedoch durch meinen Bart. Ohne diesen nunmehr aus dem Gesicht herausgewachsenen Schamhaarbart würde alles nur eine Pose sein. So erfährt das Disparate jedoch eine tragische Größe, was wunderbar ist, smoothy, greasy, gorgeous.

Insgeheim hatte ich gewusst, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist, den Bart wachsen zu lassen. All meine Zweifel waren nicht stark genug gewesen, um mich umzustimmen. Zauberhaft ist es zudem, dass durch die gebotene Interpretationsleistung der ganze Tag eine ungeheuerliche Zuspitzung erfährt, die mich nicht nur glücklicher macht, sondern zudem meine letzten Kräfte mobilisiert, indem sie mich mit der Wirklichkeit versöhnt, so dass ich, sobald ich das Haus verlassen habe werde, auf einem silbernen Strahl dem Sonnenlicht zugeleitet werde. Das hat doch nichts mit Voodoo zu tun. Nein, all das ist Ergebnis einer „exklusiven“ Konzentration. Manchmal ist es wichtig, Dinge, an denen wir zweifeln, gnadenlos durchzuziehen. Es zeugt sogar von einer gewissen ökonomischen Raffinesse, all unsere Energie in unsere Zweifel zu pumpen, denn so gelangt man schneller zu einem Ergebnis, von dem aus man sich dann immer noch umorientieren kann. Ist ja nicht so schlimm. Wir alle dürfen auch mal Fehler machen. Ergebnis ist aber immer wichtig, egal wie groß der Zweifel ist. Nur das Ergebnis gibt dir Sicherheit. Ach ja, blabla… So, und jetzt noch diesen genialen Strohhut aufgesetzt, den mir Kibi nach meinem Gig mit Boris Gott vermacht hat. Ein Werbegeschenk von Chantré, hehe – großartig. Noch Schuhe an? Am liebsten würde ich ja barfuß gehen, aber wer weiß, was heute alles passiert? Nein, Flipflops sollten schon sein. Fußnägel nicht geschnitten? Na, egal, das macht es authentischer. Ein letzter Blick in den Spiegel: Ich sehe aus wie eine Figur aus einem Roman von John Steinbeck. Es ist perfekt. John Steinbeck verehre ich schon seit meiner Kindheit. Immer wieder versinke in meinem Alltagserleben in sonderbar verstörende Steinbeck-Phasen. Nichts lässt diese Kraft unbewegt. Dies sind die schönsten Momente in meinem Leben, denn sie tragen mich in eine Zeit, in der die Arbeit noch hart und die Freundschaft noch echt war. Dylans Tangled Up In Blue ist mit großer Sicherheit von Steinbeck inspiriert. Früchte des Zorns, Tortilla Flat, In Dubious Battle – alle seine Bücher habe ich in den Buchhandlungen geklaut. Manche sogar mehrmals. Und das nicht etwa, weil es mir an Geld gemangelt hätte. Nein, ich hätte es als Verrat an Steinbeck empfunden, wenn ich sie gekauft hätte. Er war doch so ein großer Verschwender, hehe. – Ganz schön witzig heute wieder, vielleicht sollte ich etwas einnehmen. Aber warum denn? Macht doch Spaß so. Vielleicht… Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, Steinbeck. Die Straße der Ölsardinen bleibt natürlich Steinbecks größtes Buch, einfach genial, wie da alles kreucht und fleucht zum harten Beat der industrialisierten Wirklichkeit, da steckt auch viel Ruhrpott drin, besonders die ewige Sauferei. Schnell spiele ich mir vor dem Spiegel nochmal meine Lieblingsszene vor. Tief ziehe ich den Strohhut in die Stirn und schlendere lässig in die Szene rein:

„Hey Doc, wir hatten Probleme.“
„Meine Aquarien!“
„Wollten wir dir eigentlich ‘ne Freude machen, Tommyboy und ich.“
„Mein Labor!“
„Wir hatten bei der Eisenbahn geschuftet und zusammen 5 Dollar und 40 Cent verdient und ein paar Flaschen Whisky und Grillfleisch besorgt.“
„Alles zerstört!“
„Hey Doc, sollte ‘ne Überraschung sein, aber eins musst du uns glauben…“
„Sogar das Kinderzimmer!“
„An all dem sind nur die Weiber schuld.“
„…“ – Verdutztes Forschergesicht kippt über in Wutausbruch, hehehe.

Ehrlichkeit

Der Schwindel. Blixa Bargeld so: „Schwindel. Erregung. Jaja.“ – Dieser fabelhafte Song der Einstürzenden Neubauten. Genau so ergeht es mir jetzt, wie ich mich mit dem sperrigen Gitarrenkoffer auf das Fahrrad schwinge. „Schwindel. Erregung.“ Diese großartige LP der Einstürzenden Neubauten mit diesem roten urinierenden Pferd auf dem Cover. Um das aufgerissene Auge hat es das Neubauten-Emblem gemalt. Dieses sonderbare Neubauten-Männchen, das in seiner Urbanität ein bisschen an unseren Sportsfreund Keith Haring erinnert, allerdings aufgrund der destruktiven Sendung dieser wundervollen Band nicht ganz so phallologozentristisch ausgerichtet ist. Was wurden uns für großartige Geschenke gemacht, die ganze Welt ist jetzt voller Musik! Überall begegne ich den Melodien aus tausend Jahren, die sich wie eine Matrix um die spröde Wirklichkeit legen. Schließe die Augen und du kannst fliegen. Herrliche Schwärmerei, hier in der Sonne auf dem Fahrrad. Sind ja viele Leute mit dem Rad unterwegs heute. Und das ist so geil, weil Fahrradfahren natürlich super ist. Ausgerechnet jetzt muss das Handy klingeln. Also angehalten, abgestiegen, rausgekramt und drangegangen.

„Hallo?“
„Pfeffer, bist du das?“
„Ey, Mondrain, na haste dich wieder beruhigt?“
„Nix da, du Wichser!“
„…“
„Du Vollwichser, du…“
„Mondrian, warum rufst du an?“
„Du Wichser!“
„Mondrian!!!“
„Ja, was denn?“
„Warum rufst du mich an?“
„Ich wolltes dir nochma gesacht haben.“
„Mondrian?“
„Ja?“
„Fick dich.“ klick.

Herrje, sowas kann einen den ganzen Tag versauen. Diese undankbare Pissnelke. Ich soll Pikantes aus deinem so genannten Privatleben ausgeplaudert haben? Soll ich mal so richtig auspacken und hier alles aufschreiben, du Vollidiot?! Einfach mal alles rauslassen, du Ananasbirne?! – Ja, warum denn eigentlich nicht? Fangen wir doch mal mit deinem Vater an. Der hatte mich und meine Kollegen ja erst vor ein paar Wochen ganz groß zur Pressekonferenz nach Hamburg geladen. Und als ich ihm begegnete, da spürte ich gleich wieder diese ganze Ignoranz, diese bescheuerte Gläubigkeit an Hierarchien und Effizienz, die sich in den Familien fortsetzt und diese schließlich zerstört, weil nichts der Liebe fernerliegt als dieser narzisstische Blödsinn.

Bereits am Vormittag hatte dein Vater in der Reederei eine Rede gehalten, in der er nicht müde geworden war, die Piratenangriffe vor der Somalischen Küste sowie die damit einhergehenden Verluste zu beklagen. Er weinte dicke Krokodilstränen, wirklich beeindruckend. Nun war es an uns, diese Tränen zu beschreiben. Und so wenig ich gemeinhin von solch einer Art Berichterstattung halte, weil da immer so wenig Platz für die Tränen der Piraten von Somalia bleibt, wäre ich bereit gewesen, diesen verdammten Artikel zu schreiben, da ich dringend die Kohle brauchte. Abends gab es noch eine kleine Gala im Atlantik. Wer war alles da? Günther Jauch, Oliver Pocher, Barbara Schöneberger… – ich weiß es nicht mehr. Gülcan war gerade gegangen, glaube ich. Dein Vater hielt nochmals dieselbe Rede, die er schon am Vormittag gehalten hatte und anschließend gab es eine von diesen bescheuerten Zauber-Akrobatik-Shows.

Ich hielt mich an den Canapés schadlos und trank wohl auch einen Prosecco, da zog mich dein Vater zur Seite und wurde in unserem Gespräch sehr persönlich. Wie es denn unseren lieben Mondrian in Bochum so ergehe und so weiter. Logo habe ich ihm nichts von deiner Kifferei verraten oder die Sache mit dem Motorrad. Ist doch klar. Im Gegenteil habe ich deine großen Erfolge an der Universität angepriesen, obwohl ich so gut weiß wie du, dass du den Campus seit drei Jahren nicht mehr betreten hast. Was man halt so sagt, das große Bla möglichst elaboriert. Ich empfand deinen Vater in unserem Gespräch als ausgesprochen distanzlos und vulgär. Während ich die Form bewahrte, ja sogar noch etwas kühler wurde, erzählte er frauenfeindliche Witze. Und dass du eh mehr nach der Mutter gekommen wärest, und ob ich verstehen würde, wie er das meinen täte, hehehe und so. Er verstieg sich sogar so weit, in unserem Gespräch Künstler mehrmals als „verrückt“ zu bezeichnen. Und da entschied ich mich, den Artikel nicht zu schreiben. Und du darfst mir glauben, dass ich dafür einen hohen Preis zu zahlen hatte, aber ich hatte mich richtig entschieden. Ich hatte mich entschieden, den Artikel nicht zu schreiben, sondern stattdessen die Tränen der Piraten von Somalia zu beschreiben, anonym und ohne Honorar, irgendwo im digitalen Underground. Ja, so war das da. Und auch du solltest von deinem Vater kein Geld mehr annehmen, Mondrian. Du solltest jetzt mal anfangen, mit deinen Songs Geld zu verdienen, aber dafür müssen deine Songs ehrlich sein, sonst nützt dir das ganze D-Tuning und Nike-Drake-Gehabe rein gar nichts. Und wenn es dir nicht gelingen sollte, ein bisschen mehr Selbstrespekt aufzubauen, dann musst du dich eben aus Mülltonnen ernähren oder schlimmer noch: dir einen Job suchen. Das ist eben der Preis der Freiheit. Er ist ungebändigt und er frisst unsere Seelen auf, in den Nächten, wenn wir weinen wollen, es aber nicht können, weil der Nachbar auf dem Hausdach steht und springen will und damit alle auf Trab hält. Wichtig ist, dass man es aussprechen kann. Deshalb sprich es aus. Ich dachte du wärst ein Liedermacher, Mondrian? Was wendest du dich von mir ab, als wäre ich irgend so ein kaputtgedaddelter Ego-Shooter? Bin ich nicht, Mondrian. Mensch, überlege doch mal, was uns das für eine Kraft gekostet hat, all diese bürgerlichen Konventionen abzulegen und das ganze Leben neu zu erfinden?! Das war doch unsere Revolution, da an diesen Kneipentresen. Und jetzt sind wir endlich angekommen. Aber irgendetwas ist da noch in dir, das dich hemmt. Du musst schamlos sein. Das ist alles, was ich von dir verlange. Und wenn du dich nicht überwinden kannst, dann spielen wir eben nicht in der gleichen Liga, dann kannst du weiter bei Jochen den Merchandize-Stand machen. Kannst kreuz und quer durch das Land ziehen, nur um in seiner Nähe sein zu können. Ein bisschen kann ich das sogar verstehen. Mir ging es ja viele Jahre ähnlich. Als ich jung war, konnte ich keine Gedichte schreiben, weil mein ganzer Kopf voll mit Jochens Worten war. Egal was ich schrieb, es war immer irgendwie von Jochen inspiriert. Manche Zeilen hatte ich sogar vollständig aus Blumfeld-Songs abgeschrieben und merkte es immer erst hinterher. In den Nächten verfolgte er mich mit seinem milden spitzbübischen Lächeln und am Tage verrückte er die mir bekannte Welt. Dieser große Hexenmeister. Alles wurde mit Poesie angereichert. Mit seiner Poesie. Es war fürchterlich dieses beinah sexuelle Verlangen nach Jochens Worten. Oh, diese große Sehnsucht meiner jungen Jahre. Aber das ist doch alles Bullshit, Mondrian! Das ist doch jetzt unsere Zeit! Ja, man hat uns lange warten lassen, aber ist doch egal jetzt. Ich möchte nicht noch einmal zehn Jahre lang verzweifelt stoned mit der Gitarre auf dem Bett sitzen und rumheulen, da kommt nur Scheiße bei raus. Ich möchte jetzt über Los gehen – komm doch einfach mit. Das ist mehr als eine Einladung. Du hast mir das alles doch nächtelang erzählt. Sprich dass doch einfach mal öffentlich aus, Mondrian. Jetzt schnapp dir mal deine Gitarre und singe: „Ja, ich weiß, Papa hat alles kaputt gemacht, aber ich kann mich auch erinnern, wie du ständig Tabletten eingeschmissen hast und danach nicht mehr mit mir spielen wolltest, Mamma.“ – Herrlich kaputte Geste, Mondrian, klingt voll nach Eminem, bisschen kitschig vielleicht. Aber geht doch. Weiter so, alter Wämser. Lass doch einfach alles raus, mein Freund.

Eitelkeiten sollten wir uns abschminken, ich sag das der ganzen Kulturhauptstadt 2010: fangt doch mal an, eure Ängste und eure Wut aufzubrechen. Und stellt nicht immer die Liebe derer, die euch lieben, in Frage. Sie lieben euch, auch ohne dass ihr permanent das Alphatier simulieren müsst. Ich selbst bedauere es zutiefst, dass aus mir ein Alphatier geworden ist, denn ein Alphatier kann nicht vergessen.

Irre. Wie ich so auf meinem geilen Mountainbike durch die City brettere, düse ich überall an diesen fürchterlichen Skulpturen vorbei, diesen „Dicke Damen“ der Wittener Künstlerin Christel Lechner. Seit Wochen schon belagern sie nun die Stadt, auch habe ich oft den Verdacht, dass sie in der Nacht heimlich ausgetauscht werden, um die Leute nur noch verrückter zu machen. Kulturfördergeldverschwendung will man meinen. Aber was soll man machen? Die Leute lieben das.

Gorny nicht falsch verstehen

Der Flyer vom FKT: „komm früstücken. bring was mit. Lang ist die Local Hero Woche und lang war die Vorbereitung darauf. Nun steht alles und wartet auf Deinen Besuch. Wir werden vor Ort sein, Dich durchs Haus begleiten, mit Dir ein Bier im Innenhof trinken und am Donnerstag zu der schönen Musik von Unter anderem Max im Freien wippen. So eine Woche verdient einen außergewöhnlich schönen Abschluss. komm zum frühstück heisst es am Ende bei uns in der Diekampstraße. Wir haben Kaffee, Tee, Eier und Platz für alle, die mit uns einen schönen Morgen verbringen möchten und an einem warmen Sommersonntag mit Carsten Marc Pfeffer, Andre Gubisch und Thorsten Eisentraut einmal durch Amsterdam, zurück, hoch, und runter getragen werden wollen.“ – Jetzt weiß ich natürlich nicht, wer das geschrieben hat, aber ich tippe mal auf Guy Dermosessian, hat auf jeden Fall seinen Sound. Was umso pikanter ist, weil der ja das ganze Wochenende gar nicht in der Stadt ist, sondern auf dem Melt!-Festival in Was-weiß-ich-denn-wo, hehe. – Trotzdem ein guter Junge, der Guy. Erfinder des Bochumer Rundlaufes, wirklich allerhand. Super Leute allesamt hier: Gabi Moll, Dorothee Schaefer, Tobalo und noch ein paar andere. Und es gibt Frühstückeier! Wirklich zauberhaft. Ich rede mit zehn Personen gleichzeitig, alles synkopisch übereinandergeflappt, alles hochgradig miteinander vernetzt. Immer wieder klick und klack. Durch den permanenten Einfluss des Internets, der nunmehr seit weit über 10 Jahren wärt, haben sich meine Denkgewohnheiten weitaus umfassender an die Strukturen eines rhizomatischen Labyrinthes angepasst, als dass ich es jemals für möglich gehalten hätte. Und wie ich so mit dem Croissant durch die Erdbeermarmelade fahre, und auf meinem Tellerchen ein kleines Gesichtchen male, denke ich: natürlich unterliegt das alles immer noch den Parametern der Zeit, aber da ist auf einmal so viel Raum frei geworden. Und der ist extra für mich frei geworden. Und wie wunderbar das ist, dass jetzt jeder machen kann, was er will. Und denke weiter: jetzt auch mal ein ganz großes Dankeschön an den ehrenwerten Professor Jürgen Link, dem wir das alles hier zu verdanken haben. Der die besten Jahrzehnte seines Lebens dem Schreibtisch geopfert hat, um uns all das hier zu ermöglichen. Mit seinem Roman „Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der roten Ruhr-Armee“ hat Professor Jürgen Link uns allen ein riesiges Geschenk gemacht. Aber auch sein neuster Essay zum Rhizom ist sehr zu empfehlen, wenn auch noch nicht veröffentlicht. Lieber Jürgen, ich danke dir, die Faust in den Himmel gestreckt, dein Freund Carsten. Ja, so langsam wird es Zeit, die ersten Credits zu verteilen, denke ich. Das hat doch alles wunderbar geklappt. Quasi über Nacht bin ich zum KünstlerKünstler geworden. Ich habe die „Nouvelle digital“ erfunden. Sie wächst über sich selbst hinaus und wird im ewigen Hin und Her zwischen Autor, Leser und der Gegenwart zu Literatur, denn Ich, das sind ja viele. Wichtig ist, dass man von vornerein weiß, was man erzählen will, die Gegenwart fließt dann nur noch so mit ein. Ja, verändert sich selbst dadurch nochmal. Und noch einmal: zauberhaft! Vergesst doch den Magischen Realismus und diesen ganzen anderen Quatsch. Hier spielt das Leben. Vielleicht noch Müsli? Gerne noch einen Kaffee, liebe Dorothee. Ich mag vor allem diese bruckige Backsteinfassade im sumpfenden Mohn-Rot vom Moos überwuchert. Dieses verzärtelnde Geäst der gestutzten Eisenträger und all diese Drähte, die in ihrer Defloration immer auch an den Jugendstil gemahnen. Wie sich da alles wegsplatattert und gleichsam anschmiegt im Morgenbruch der Industrieruine. 100 Jahre alt das Gebäude? Das sieht man.

Das ist doch Wahnsinn, aber je öfter ich „Dieter Gorny“ schreibe, desto mehr potentielle Leser erreiche ich, weil die Suchmaschinen das alles miteinander vernetzten. Wenn in 2000 Jahren die Archäologen die ersten Festplatten unter dem Schutt der unbewohnbaren Industrieruinenlandschaft Sektor Ruhr freilegen, und dann die Chronologien wieder herstellen und so weiter, werden sie sich fragen, was dieser Carsten Marc Pfeffer mit Dieter Gorny zu tun hatte. Ist doch super. Nein? Kein Kaffee mehr? Ach, Gabi setzt gerade frischen Kaffee auf. Komm, ich helfe dir. Kannst du mal auf den Gitarrenkoffer aufpassen, Dorothee? Ja? Aber keine Installation daraus machen, hörst du, hehe. Geht gleich los, oder? Ich muss doch noch auf die Autobahn.

Schnell noch ein Schlückchen Sekt für den Kreislauf und dann geht es auch schon los. Mensch, was haben die sich für eine Mühe gegeben. Die Performance von Andre Gubisch und Thorsten Eisentraut ist einfach genial. Gekonnte Montage von Benn bis Jandl, dazu die Stimmen wie ein großer starker Bergfluss. Wunderbar. So muss man das erst mal hinkriegen. Und wie gut die dabei aussehen, diese geilen Typen, Jesus! – Das setzt mich jetzt natürlich enorm unter Druck, aber ich bin easy genug, um den Druck abzufedern und fange nun selbst mit meiner „gegen darstellung“ an. Besonders das existentialistische Endlos-Mantra findet viel Gehör: „Das Daddeln einstellen. Keine Angst haben. Den Körper erfinden. Die Fenster putzen. Amsterdam vergessen. Ein Buch schreiben. Nicht verzweifeln. Selber kochen. Hinschauen. Die Tage koppeln. Mit Fremden gehen. Das Nichts programmieren. Nichts verraten. Erwachsen sein. Gegen die Welt. Gegen das Leben. Für immer und dich. Nach sieben Jahren bin ich glücklich, denn nun bist du mein.“ – Kein großer, dafür aber ein warmer Applaus, genauso wie es unter Freunden seien sollte. Gerne würde ich noch länger bleiben, doch leider muss ich sofort weiter. „Den Arsch in Bewegung halten, um die Kohle ranzuschaffen“, wie es der liebenswerte Gunther Gabriel einmal so anschaulich auf den Punkt gebracht hat. Also rauf auf das Fahrrad und adele. Ein kleiner Hund läuft mir hinterher.

Le Mépris

Die große Anstrengung mit den Pedalen. Le Mépris, in dieser Situation wörtlich übersetzt, bedeutet natürlich: Energie. Es war doch auch die denkbar bescheuertste Idee gewesen, mich in meinem Zustand samt Gitarrenkoffer auf das Fahrrad zu schwingen. Von überall kommen nun Fahrräder her. 2 Millionen Fahrradfahrer fahren durch die Straßen, durch meinen Kopf direkt bis auf die Autobahn, und ich kann sie dabei nicht aufhalten. Kann mich nur ihrem Rhythmus anpassen, was mir nicht leicht fällt, weil ich meinen Körper, der zugegebener Maßen ein Rock’n-Roll-Tempel ist, seit nunmehr mehreren Tagen perfide in Schutt und Asche lege. Dieser fürchterliche Imperativ der Fitness! – Vielleicht sollte ich mich in irgendein Ärgernis reinsteigern und dadurch meine letzten Reserven mobilisieren, was natürlich nicht einfach ist, wenn man so aufgeregt und glücklich ist wie ich. Versuchen wir es doch einmal.

Jean-Luc Godard: Le Mépris, Frankreich 1963. Die Bardot so: “Ich verachte dich. Ich empfinde für dich nur noch Verachtung. Deshalb liebe ich dich nicht mehr. Ich verachte dich. Und wenn du mich anrührst, wird mir übel.“ – Habe ich lange Zeit nicht verstanden. Dagegen André Bazin gleich zu Beginn des Films: „Das Kino schafft für unseren Blick eine Welt, die auf unser Begehren zugeschnitten ist. Le Mépris ist die Geschichte dieser Welt.“

Carsten Marc Pfeffer: Le Mépris, Bochum 2010. Der Kopf so: Was habt ihr euch eigentlich gedacht, als ihr uns all das angetan habt? Manchmal verachte ich euch, wie ihr mit eurer Toskana-Bräune so selbstgefällig Brecht zitiert und an unseren Ehrgeiz appelliert. „Wir sind damals auf die Straße gegangen!“ – Darauf einen Grappa, mein lieber Rolf Dieter Brinkmann. Doch es gibt heute keine Straßen mehr, nein, heute gibt es nur noch Datenautobahnen. Uns verbindet nichts mehr. Nichts habt ihr erreicht, denn der Kapitalismus ist heute tausendmal schlimmer als er noch in den 60ern war, und da war er schon fürchterlich, Napalmbomben auf nackte Kinder und so. Ich werde das nicht vergessen. Einfach fürchterlich. Eigentlich immer schon. Der Kapitalismus war schon Scheiße als Kind. Und ja, ich weiß, das alles täglich schlimmer wird, und ich weiß auch, dass ihr behauptet, all das wäre unsere Schuld, weil wir, im Gegensatz zu euch, so unpolitisch seien. Ist es aber nicht. Und diese ganzen dummen karrieregeilen Arschlöcher im Fernsehen, die ihr jeden Abend seht, wenn ihr zurück von euren völlig sinnentleerten Dienstleistungsjobs seit, diese dummen karrieregeilen Arschlöcher mit ihrem neoliberalen Sprech und den gutsitzenden Anzügen, die repräsentieren uns doch gar nicht. Nein, das sind nicht wir, die haben einfach nur eine bessere Public Relation. Doch bemerken sie nicht, dass sie nichts bemerken. Sie repräsentativeren die entgegengesetzte Richtung, Papa. Du hast dich doch damals auch vor die Wasserwerfer gestellt, warum willst du heute, dass ich so werde wie die? Sie haben schneller studiert als wir, das ist richtig, ergo wissen sie auch weniger als wir. Dafür können sie besser funktionieren, so sagt man. Aber auch das täuscht, denn allein durch körperliche Anwesenheit und unambitionierten Power-Point-Präsentationen haben sie sich durch die Uni geschummelt. Und mit dem gleichen Esprit übernehmen sie heute verantwortungsvolle Posten jeglicher Provenienz und verursachen Bankenkrisen, ökologische Katastrophen und Krieg. Das ist die Wahrheit und auch dieses ganze Bernhardeske in meiner Sprache kotzt mich nur noch an. Wir werden eine ganz neue Sprache erfinden müssen, nur damit ihr uns nicht mehr versteht. Die LPs der Dead Kennedys nehmen wir natürlich mit. – Nein, das reicht noch nicht. Das reicht noch nicht… Hallo Jutta, ich hatte dich angefleht, deinen Einfluss geltend zu machen, die Haußmann-Intendanz wenigstens für eine Spielzeit zu verlängern. Ich hatte dich geliebt und du bekamst ein Kind von mir, aber du bist mit unserem Kind bei ihm geblieben, und jetzt muss Melanie in diesem vergifteten Klima, in diesem kleinbürgerlichen Angstwahn aufwachsen, in diesem widerlichen Streber-Milieu, solange bis auch ihr Herz zu Stein geworden ist, und sie endlich gehen darf. Hallo Jutta, höre doch endlich einmal damit auf, mich in der Nacht anzurufen und mich mit deinem Scheiß vollzuquatschen: „Bitte sag mir, dass ich kein schlechter Mensch bin!“ – Was soll dieser ganze kranke Seelen-Müll? Hör doch bitte auf damit. Ich weiß, dass es prinzipiell falsch ist, aber auch ich möchte einmal eine Grenze ziehen. Ich verachte dich. Ich empfinde für dich nur noch Verachtung. Deshalb liebe ich dich nicht mehr. Ich verachte dich. Und wenn du mich anrührst, wird mir übel. – Ein Fazit zur Bochumer Local-Hero-Woche? 60 Euro Schulden bei Tommyboy und einen Deckel von 174,20 Euro im Zacher. Komm zur Ruhr, wo ein raues Wort dich trägt. – Grrr!!!

PS: Aufregungen halten auf Trab. Sie sind der Freund des Tüchtigen. Ich renne in die Infights und erhalte mich selbst dabei am Leben: Angry Young Men: R3, Regie: Arne Nobel. Oder eben Fight Club nach Chuck Palahniuk & Jim Uhls mit Dagny Dewath, Arne Nobel, Akbar Paktin und Alexander Ritter, Regie: Oliver Paolo Thoma. Nächste Vorstellung: Freitag, 20. August um 19:30 Uhr wie immer unter dem donnernden Tonnengewölbe des Rottstr.5Theaters. Kommt zahlreich und bringt eure Freunde mit.

Kraftwerk kaputt

So, da wäre ich ja auch schon auf der A40, Ausfahrt Goldhamme: 2 Millionen Menschen auf der Autobahn! Alle sind sie heute da, ein gewaltiges Chaos, ein irrsinniges Rumgewusel der Massen. Die Sonne scheint und natürlich wird auch viel gesoffen. Alle sind sie heute da. Alle haben sie ihre Tische bezogen und präsentieren ihre Vorlieben, ihre semi-professionellen Hobbys. Ich zähle allein zwanzig Blaskapellen, dazu Bauchtanz, irgendwas mit Stickerei. „Kommt doch mal her, schaut euch das mal an.“ – Weiter hinten wird Golf gespielt, Jaquomo jongliert mit 5 Bällen gleichzeitig, Meister Pocke bläst dazu auf der Harp. Und alle reden sie miteinander, sind in bester Stimmung, keiner neidet dem anderem auch nur irgendwas. 2 Millionen Menschen auf der Autobahn. Ein friedliches Fest zwischen Dortmund und Duisburg. Alle sind sie heute da. Es ist das Event, über das am nächsten Morgen die Tageszeitungen allein über meinen Streckenabschnitt schreiben werden: „Zu diesem Zeitpunkt, eine halbe Stunde vor dem Ende, gab es auf dem Bochumer A40-Abschnitt 31 Sanitätsbehandlungen, 7 Krankentransporte, 15 Einsätze mit dem Rettungswagen, 6 mal musste der Notarzt ran. Zwei Teilnehmer waren vom Fahrrade gestürzt, bei einem Teilnehmer bestand Verdacht auf Herzinfarkt, ein anderer hatte einen Allergieschock nach einem Wespenstich.“ Und dann: „Kulturdezernent Townsend, mit einem Bein schon im Urlaub, schwänzte die Pressekonferenz auf der Autobahn, Block 79, Tisch Nummer 25, Kilometer 9,5. Er ließ einen langweiligen Satz ausrichten an die Medienvertreter, irgendwas mit ‚sensationell‘“. – Nein, noch nie waren so viele Menschen auf einer Autobahn, selbst 1973 nicht. Und so langsam bereue ich es, dass ich mein Fahrrad so leichtfertig an der Autobahnauffahrt hab stehen lassen, weil ich sah, dass man auf der Straßenseite, wo die Tische standen nur laufen durfte, auf der anderen Seite hingegen in dieselbe Richtung Fahrradfahren erlaubt war. Ich aber musste zu einem der Tische und dachte, lass das Fahrrad stehen, denn du darfst ja nicht über die Absperrung klettern. Was naiv gedacht war, weil alle das tun. Sogar der sensible Liedermacher Unter anderem Max wird über die Absperrung klettern. Erst vor wenigen Minuten ist er mit seinem Fahrrad auf der anderen Fahrbahn an mir vorbeigedüst. Hat mich natürlich nicht bemerkt, dachte wohl wieder an Eichendorff. Der ist jetzt bestimmt schon am Stand, und erzählt den Leuten irgendeinen Scheiß über mich. Schon 14:12 Uhr. Für 14 Uhr war der Gig angekündigt, verdammt, immer dasselbe. Ich habe völlig die Orientierung verloren. Der Schwindel ist zurück, nur viel stärker als zuvor. Immer wieder muss ich stehenbleiben und mich auf meinem Gitarrenkoffer stützen. Dazu das pulsierende Flickflack in meinem Kopf. Oh, alter Mann, warum denn nur das wilde Pony? Ach, wenn doch nur jemand hier wäre, der auf mich aufpassen könnte. Aber Tommyboy verschanzt sich heute den ganzen Tag im Medienhaus und ergeht sich per SMS in sinnfreien Durchhalteparolen: „Einszwei bei beuta: austrinkenzahlengehen ab 23u“. – Mal Unter anderem Max anrufen:

„Max, wo seid ihr?“
„Das willst du doch nicht wirklich wissen, oder?“
„Max, ich hab jetzt keine Zeit für so einen Scheiß!“
„Ist ja schon gut, Pfeffer, hehe. Also, warte mal, las mich mal überlegen. Also… Wir sind Kilometer 5,6, Block 70, Tisch12.“
„Das ist zu viel Information, sag mir einfach, wo ihr seid!“
„Bist du vor der Brücke?“
„Welche Brücke?“
„Vor Hamme.“
„Hamme?“
„Ja, Hamme. Bist du vor oder hinter Hamme?“
„Meinst du mit Hamme vielleicht Goldhamme?“
„Nein, Hamme.“
„Herrje Max, ich steh hier an diesem Edeka-Wagen, wo sie einem pisswarmes Bier verkaufen.“
„…“
„Max?“
„Ja, ich war gerade abgelenkt. Weißt du eigentlich, dass Frank Goosen hier auch einen Stand hat, an dem er Fußball-Bilder tauscht?“
„Äh… von Panini?“
„Ich meine schon.“
„Geil.“
„Finde ich auch. Also, Pfeffer, bis später dann. Und beeil dich mal, hier warten schon ganz viele Fans von dir.“ klick.
„Max?“

Himmel! Dieser Idiot! Jetzt geht er nicht mehr ans Handy ran. Vielleicht sollte ich mir noch ein Bier holen, irgendwann werde ich den Tisch der Goldkante schon finden, und dann kann ich immer noch spielen. Am Edeka-Wagen herrscht Volksfeststimmung, lange Schlange, aber egal jetzt. „Da ist er ja!“, höre ich eine Stimme hinter mir rufen. Ich drehe mich um, und da steht so eine völlig abgewrackte Alt-Hippie-Frau vor mir. „Carsten Marc Pfeffer, hehe.“ – Halb nimmt sie mich in den Schwitzkasten, halb zwingt sie mir ihre Zunge in den Mund. „Ein Küsschen nur.“ Sie schmeckt nach Erdnüssen und Eckes-Edelkirsch, ein Kuss wie aus einem Kassierer-Song. Ich könnte kotzen, möchte jetzt aber auch nicht den Spielverderber mimen. Im Gegenteil, ich fasse sogar noch einmal nach und greife nach ihren aufgedunsenen fetten Arsch, bis sie vor Heiterkeit quietscht. Lass mich sogar noch auf einen Schluck Eckes-Edelkirsch einladen, muss dann aber weiter, schließlich ist es schon lange Showtime. Herrlich diese Leute, so spontan, offen und witzig. Doch irgendwie ist jetzt auch das Zittern zurück, dazu der kalte Schweiß. Auch erkenne ich alles schlechter, alles wird ununterscheidbar. Zwar fühle ich mich ganz gut aufgehoben in diesem gigantischen Trubel, aber eigentlich sollte ich doch aufrecht stehen, habe jedoch das Gefühl immer mehr zum Erliegen zu kommen. Ich irre noch ein bisschen hin und her, aber eigentlich ist es vorbei. Weiter nördlich zieht ein Schneesturm auf, ganze Berge aus Akten fallen nun vom Himmel: Geburtsurkunden, Leistungsnachweise, Steuerbescheide, die Scheidungsunterlagen, ein Testament. Das Grau der Autobahn wird zum Schwarz meiner Augen.

Hiergeblieben!

Sanitäter! Sanitäter! – Im Rettungswagen der Malteser herrscht größte Betriebsamkeit. An meinem vom Bier aufgeschwemmten DieHardBody sind gleich zwei am rumwerken.

„Hast du schon die Fingerkuppen von dem gesehen?“
„Diabetiker vielleicht.“
„Der Gitarrenkoffer?“
„Würd ich mich nicht drauf verlassen, mach mal lieber mit Blutbild.“
„Allright, dann brauch ich aber echt mal ne Pause.“
„Ich auch. Da hinten hat Edeka nen Stand.“
„Hab ich auch schon gesehen.“
„…“
„Was ist? Was guckst du denn jetzt wieder?“
„Ach, weißt du, diese Sache mit der Sabbel und…“

Da jagt er mir auch schon die Spritze rein. Herrlich, wie das kribbelt. Die Männer verlassen nun den Wagen, der in Wirklichkeit ja ein Fluggefährt ist. Nur Sammy, der kleine Hund, der mir seit dem FKT gefolgt ist und ich bleiben zurück. Da ruckelt auch schon die ganze Kapsel. Und jetzt heben wir ab. Wahnsinn, wie sich die Perspektive verändert. 2 Millionen Menschen auf der Autobahn. Alle sind sie heute da. Eine gewaltige Menschenmenge bewegt sich in eine Richtung von Duisburg nach Dortmund. Und wir steigen immer höher auf und ich höre mich sagen: „Nein, Sammy, so weit oben war ich noch nie. Sieh doch nur…“ – Gewaltige Marschkolonen auf der Flucht vor sich selbst. 2 Millionen Menschen versuchen eine Gemeinschaft herzustellen, dort, wo ansonsten die Autos fahren. Und Sammy und ich steigen immer höher und rufen: Hiergeblieben, ihr Kreativen an der Ruhr! Was wollt ihr denn in Berlin? So viele sind schon gegangen: „Christian, Arnold, Atta, Sebastian, Tina, Mark, Nicole, Andreas, Frank, Astrid, Martin, Felix, Konrad, Sabine, Christoph, Franz, Phillipp…“ (Zukünftige Erhebung: Mighty Laurin, Stand: 21. Juli 2010). Am gleichen Tag um 16:17 Uhr wird wie folgt der mächtige Wolfgang Wendland auf Platz 19 dann kommentieren: “Du hast es auf den Punkt gebracht.“ – Allerdings da schon wieder in einem anderen Sinnzusammenhang. Hach, ist das alles kompliziert. Aber irgendwie bin auch ich da jetzt angekommen. Sammy, was sagst du dazu?

„Mir ist das Internet egal. Hauptsache wir fliegen.“
„Ach, Sammy…“
Ich mag das, wie du riechst, wenn du deinen Kopf zu mir wendest und mich mit heraushängender Zunge so fragend ansiehst. Einen Freund wie dich hatte ich wirklich noch nie. Du kleiner Knuffi, ich bin echt ein bisschen verliebt in dich, und ich weiß jetzt auch, wie ich das Problem mit meinem verpatzten Auftritt lösen kann.

„Du meinst The Great Gig In The Sky?“
“Richtig, mein kleiner Freund.“
„…“
„Schau mal da unten ist Boris Gott!“
„Hör auf zu winken, er kann uns nicht sehen.“
„Was macht er denn da unten?“
„Was soll er schon machen? Er steht auf einen Tisch und spielt einen Rock’n-Roll-Gig mitten auf der Autobahn, das gleiche, was du jetzt auch tun könntest, wenn du nicht so abgefuckt wärst.“
„Und was singt er?“
„Hör doch genau hin. Er singt unser Lied.“
„Acapulco! Oh, wie ist das schön!“

Come on Baby, lass uns gehn
Und mit der Flut nach Süden ziehn
Das Auto und das Sofa bleiben stehn
Wir könnten dort viel freier sein
Nur du und ich am Strand allein
Liebe und Tequilla Tag und Nacht

In Acapulco
Du und ich in Mexiko
Acapulco, here we go
Acapulco
Endlich raus aus diesem Zoo
Acapulco, here we go

Shilly Shally

Ach Sammy, ich mag das, wie du riechst, besonders wenn von deinen Lefzen der daumendicke Sabber rinnt. Hör mal: Ein Lied mehr: Mein Urgroßvater war ja Tambourmajor im Ersten Weltkrieg gewesen. Immer sprang er als erster aus dem Graben, um die Soldaten mitzureißen. Um sie in das Speerfeuer der Maschinengewehre zu schicken, in dem ihre schönen jungen Körper dann mannigfaltig zerfetzt wurden [Jüngerzitate unbedingt vermeiden]. Irgendwie muss das meinem Urgroßvater zu Kopf gestiegen sein. Na klar, gesoffen haben sie alle. Allerdings galt das Bier damals noch als bourgeoise, die Kumpels tranken Schabau, respektive: Branntwein. Alle haben sie hier schon immer sehr viel gesoffen, außer die Industriebarone natürlich, die haben sich ausschließlich von Knäckebrot ernährt. Aber wo war ich stehen geblieben? Ach ja, der Urgroßvater. Der hat dann jedenfalls an einem Mittwoch – so viel ist überliefert – den Meister in der Fabrik grün und blau geschlagen. Warum weiß man nicht und zum Spekulieren bleibt keine Zeit. Jedenfalls wurde der Urgroßvater deswegen aus der Fabrik rausgeschmissen und die ganze Familie musste aus der Siedlung in Bochum-Dahlhausen ziehen, denn die gehörte natürlich auch dem Fabrikbesitzer. Von da an ging es mit meiner Familie abwärts, Sammy. Zusammengepfercht auf kleinstem Raume mussten sie von Almosen leben. Und das bei 5 Kindern! Und das in den 20er-Jahren! Als woanders gerade der Jazz entdeckt wurde und die Partys cheap and dirty waren. Du kennst ja diese Bilder von Otto Dix. All das ist lange her. Mein Opa musste für Brot beim Pastor betteln gehen, denn die hatten ja noch dahinter das Krankenhaus und stellten alles selber her. Dieses Brot musste eine Woche reichen, es war lebensnotwendig, sonntags gab es einen Löffel Rübenkraut dazu. Natürlich gab der Pastor gerne, allerdings wollte er auch immer wissen, ob das Büblein schön brav gewesen ist. Ob das Büblein auch immer sonntags in der Kirche gewesen war und sich nicht am Gießkännchen rumgespielt habe, da ansonsten der Beelzebub käme und die eh schon verdammte Familie noch tiefer in die Hölle hinabziehen würde. Diese Demütigungen hat mein Großvater zeitlebens nie wieder vergessen. Und auch wenn er trotz seiner denkbar schlechtesten Startbedingungen eine Karriere absolvierte, er schaffte es immerhin zum Vorarbeiter, und somit gleichsam den Grundstein für die unglaubliche Aufstiegsgeschichte meiner unglaublich deklassierten Familie legte, so betrat er doch zeitlebens nie wieder eine Kirche. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb er sich von den Nazis nie ganz hat vereinnahmen lassen, er hatte früh ein gesundes Maß an Misstrauen gegenüber jeder Art von Glaubensätzen erlernt. Doch das klingt jetzt natürlich auch wieder so fürchterlich. Nein, wir sind nicht frei von Schuld, mein Opa nicht und ganz bestimmt auch nicht ich. Auch ich habe mich schon mehrerer Verbrechen schuldig gemacht. Und auch wenn es sich bei diesen Verbrechen ausschließlich um Gedankenverbrechen gehandelt hat, so macht das die Sache nicht besser. Es ist doch nur, dass wir die ganze Zeit diese Worte gebrauchen und gar nicht wissen, was sie überhaupt bedeuten, weil all die Angst und Scham davor sehr viel größer ist. Nein, da spricht man nicht drüber: Und als sie zurück kamen, zerstört und voller Schuld, da konnten sie nicht miteinander reden. Standen sich wieder gegenüber an der Werkbank, vielleicht für dreißig Jahre noch und konnten nicht miteinander reden. Und in den Familien setzte sich das fort, diese ganze kaputte Spießigkeit. Dazu wieder der Hunger, diesmal nach Leben.

„Was würdest du tun, wenn du Hunger hättest, Sammy?“
„Keine Ahnung.“
„Würdest du Erde essen?“
„Schwer vorstellbar.“
„Würdest du das erzählen, dass du schon mal Erde gegessen hast?“
„Auf keinem Fall.“
„Eben.“
„Eben was?“
„Hab ich vergessen.“

Diese unglaubliche Aufstiegsgeschichte meiner deklassierten Familie, wie sie viele Familien im Ruhrgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Von der so genannten Volksschule über die Realschule bis ans Gymnasium und dann an die Universität. Diese unglaubliche Aufstiegsgeschichte meiner Familie, an deren vorläufigen Zielgeraden ein Ignorant und ein Wahnsinniger steht: ich, ich selbst und all das, was man damit bewegen kann. Wir waren ja sehr arm damals. Ich weiß noch, wie ich als Kind bei meinen Großeltern im Waschkeller, unweit des Kohlenkellers, in einer riesigen metallenen Wanne baden musste. Oma erhitzte das Wasser auf dem Herd in der Küchennische in bulligen Töpfen, und Opa musste die schweren Dinger immer zu mir runter in den Keller tragen. Was mir großen Spaß bereitete, wenn er kam. Doch wenn er ging, um noch mehr warmes Wasser zu holen, fiel ich zurück in den kalten Schauer und sang in meine innere Finsternis die liebegewonnenen Lieder der Beatles hinein, die ich in meinem Alter noch nicht der Sprache nach verstehen konnte, deren tieferer Sinn sich mir jedoch schon sehr früh aufgrund ihrer bewusstseinserweiternden Klang-Performance aufgetan hatte: Ja, vieles würde anders werden.

Im Gegensatz zu meinen Großvater ging ich gerne in die Kirche. Ich sang im Chor und lernte Trompete, manchmal durfte ich sogar auf der Kirchenorgel rumklimpern. Der Pastor hatte immer ein offenes Ohr für meine wilden Geschichten und samstags durften meine Freunde und ich im Garten der Probstei Fußball spielen. Ich ging immer hin und schaute mir alles ganz genau an, bis ich eines Tages das Interesse daran verloren hatte und mich anderen Bereichen zuwandte. Aber so machte ich es fortan immer: mit den Augen stehlen. Einmal durch alle Sinusmilieus geflippt. Da war diese irrsinnige Lust in mir, alles einmal mitzumachen, alles einmal einzuwerfen. Und so wurde ich täglich reicher. Denn „kein Plätzken, dat ich nich backen kann“, wie unsere liebe Tana Schanzara so gerne sang. Schließlich ist doch alles genauso gekommen, wie ich es in meinem ersten Eintrag am Montag, den 12. Juli in diesem Blog, in dieser Nouvelle digital versucht hatte zu formulieren: Letztendlich werden die Songs entscheiden müssen, Sammy. Ansonsten ziehe ich nämlich doch noch nach Amsterdam und verabschiede mich aus dem öffentlichen Leben. So oder so, es wird optimal werden, und ich freue mich schon jetzt darauf, mein kleiner Freund und du kommst natürlich mit. Hunde sind in Amsterdam kein Problem, das habe ich beobachtet. Allerdings solltest du dich vor den Fahrrädern in Acht nehmen, aber das kriegst du hin. Das hat viel mit Rhythmus zu tun, weißt du. Alles muss fließen, aber dafür muss man mutig genug sein, die Selbstkontrolle ein Stück weit abzugeben. Nicht jedem gelingt es, dies nicht als Einschränkung zu erleben, ich aber mag das sehr, besonders entlang der Grachten, und ich weiß, du wirst es auch sehr mögen, mein wauschiger Gefährte mit dem weißen Fleck auf dem schwarzen Schlappohr. Arbeiten kann ich überall und wenn nicht, dann ernähre ich mich eben aus Mülltonnen, Hauptsache ich habe ein Ziel vor Augen.

Email an dich

Liebe Offline-Redaktion,

ich werde Montag nicht zur Produktion kommen, weil ich mich einfach mal um mein eigenes Leben kümmern muss. Frage: Könntet ihr mir bitte das Honorar trotzdem überweisen? Ihr wisst ja, dass mein Konto gesperrt ist und Gage habe ich auch keine bekommen. Außerdem könnten durch die gegenwärtigen Entwicklungen immense Krankenhauskosten auf mich zukommen, schließlich bin ich ja seit Jahren nicht mehr krankenversichert. Seid ihr so gut, ja? Fände ich prima.

PS: Das mit der Online-Ausgabe tut mir natürlich leid. Ist auch wirklich nicht Jaquelines Fehler gewesen. Nein, gebt nicht der Praktikantin die Schuld, das wäre unfair. Ich hatte sie abgelenkt, weil ich in der Redaktion wie irre die digitalen Turntables rocken musste, als wir eigentlich die Artikel und Bilder online stellen sollten. Ich machte schwer auf You-Tube-VJ: Grebe, der Hard-Core-Logo-Soundtrack, Rancid und natürlich Ultravox. Und Jaqueline fragte immer wieder: was ist das? Wo kommt das her? – Und so kam ich halt ins Labern: Rainald Grebes Version des alten Funpunk-Klassikers Für Immer Punk ist natürlich zehnmal besser als das Original von den Goldenen Zitronen, weil sie in ihrer Reduktion den wirklichen Kern des Liedes freilegt. Da steckt eben auch viel Wehmut drin, die man bei den Zitronen gar nicht raushören kann, weil die sich ja diese ganzen Spaßvögel ins Studio geholt hatten. Die Infantilität von Grebes Piano-Spiel verstärkt diesen Eindruck: Ja, alle sind wir älter geworden. Vielleicht hätten wir doch alle Punk bleiben sollen, hehe. – Eigentlich hätte es damit gut sein müssen, denn die Zeit war ja schon vorangeschritten und es gab noch viel zu tun. Aber irgendwie war ich jetzt auf den Geschmack gekommen und klickte mich durch den Soundtrack von Hard-Core-Logo, diesem abgefahrenen Roadmovie, der ja auch viel von meiner eigenen Lebensgeschichte erzählt: immer mit den Jungs auf Tour und so, hehe. Ärgerlicherweise fand ich nicht All The People Who Died. Aber gerade diesen Song wollte ich der Jaqueline vorspielen, weil er ein perfektes Beispiel für eine formvollendete Synthese aus Flow und Attitude darstellt. Schließlich fiel mir ein, dass der Song ja gar nicht auf dem Hard-Core-Logo-Soundtrack ist, sondern bei Dawn Of The Dead im Abspann verwendet wurde, dieser widerlichen Snyder-Neuauflage des alten Romero-Klassikers. Ich entschied mich, All The People Who Died direkt in die You-Tube-Suchanfrage zu tippen und war erstaunt, dass mit diesem Song nicht etwa Dawn Of The Dead gefeatert wurde, sondern irgend so eine amerikanische Mysterie-Serie: „Lost“, glaube ich, bin mir aber nicht mehr sicher. Ich musste Jaqueline fragen, die völlig genervt war, schließlich glaubte sie ja immer noch, dass wir hier wirklich arbeiten würden, hehe. Na ja, ich entschied mich, etwas zurück zu rudern und den Content doch noch online zu stellen. Ich klickte Olympia WA von Rancid an und begab mich wieder an die Arbeit. Copy and Paste. Ich machte mich an Rolfs Artikel, aber etwas beunruhigte mich: wie konnte es sein, dass Rancid zu ihrem genialen Olympia WA keinen Clip hatten, sondern stattdessen nur das Platten-Cover der And Out Come The Wolves auf dem Medienplayer erschien? Tim Armstrong mit Iro zusammengekauert auf einer Hinterhof-Treppe in Ney York, die Oberarme schwer tätowiert. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen. Herrje, also nochmal zurückgeklickt und die Rancid-Homepage gecheckt. Aha, hatte ich mir doch gedacht: alles in bester Ordnung, da ist ja der Clip. Aber warum war das Ganze nicht miteinander verlinkt, verdammt noch mal?! Eine unglaubliche Unruhe bemächtigte sich meiner. Ich musste erst mal raus, um eine Zigarette zu rauchen. Als ich wieder zurück in die Redaktion kam, war an Arbeit natürlich nicht mehr zu denken. Feed content providet at blablabla – das wird man ja verrückt bei. Ich glaube, auch Jaqueline hatte mittlerweile kapituliert. Sie wirkte auf einmal so verschnupft, so als würde sie innerlich weinen. Wir alle mussten jetzt erst mal unsere Nerven beruhigen. So entschied ich mich Dancing With Tears In My Eyes von Ultravox anzuklicken, dieser wundervolle Song, der mir auch heute noch, 26 Jahre bevor ich ihn zum ersten Mal hörte, immer noch eine Gänsehaut garantiert. Aber ach, der Video-Clip. Hatte ich ja ganz vergessen, was ich für ein Problem damit habe, weil der Clip mich doch in meiner Kindheit so sehr traumatisiert hatte: Dieser Störfall im Kernreaktor. Midge Ure als Loverman-Pappi mit dem Auto auf dem Weg nach Hause. Auf den Straßen schon überall Panik, immer wieder der Cut zur pulsierenden Alarmanlage des Reaktors, für 1984 durchaus flott geschnitten. Dann zuhause die Frau: unglaublich schön: 80er-Jahre-Fönfrisur und so. Sie duschen gemeinsam, dann schauen sie nochmal nach ihrer kleinen Tochter, die ja schon ins Bett geschickt wurde, obwohl sie noch gar nicht müde war. Sorgenvolle Blicke, doch voller Güte und Liebe. Dann Cut: das Schlafzimmer. Midge Ure breitet das Bettlaken aus und umschlingt damit ihre nackten Körper. So legen sie sich auf das Bett, innig in ihren Blicken verschlungen. Ein Mann und eine Frau. Eigentlich die beste Szene des Clips, so sagte ich zu der Jaqueline. Zu wieviel Zutrauen und Zärtlichkeit die beiden Totgeweihten im Augenblick kurz vor dem Super Gau noch fähig sind. Dann durch das Fenster eine Welle aus Licht. Zurück bleibt ein bunter Kreisel der Tochter unter dem Bett der Eltern, gestrandet im Schattengemenge der Zeiten sowie ein Super8-Film, der das Familienidyll in besseren Tagen zeigt. Dieser Film wird jetzt nochmal abgespult, bis auch er sich in der lodernden Sphäre der Radioaktivität auflöst. – So war das da, und ich natürlich die ganze Zeit am loslabern, während die Jaqueline sich das Näschen kraulte. Diese ganze perverse Angst unserer Kindheit!, echauffierte ich mich. Das muss man sich einmal vorstellen, wie krank solche Systeme sind, die kleine Kinder in der Angst leben lassen, dass nur ein Knopfdruck reichen würde, und alles wurde sich in Nichts auflösen. Einfach alles, die totale Auslöschung, diese monströse Idee der totalen Auslöschung in unseren kleinen Köpfen! Was hat das bloß mit unseren Psychen gemacht?! Da darf man gar nicht drüber nachdenken! Und dann auch noch Tschernobyl!, schrie ich die Jaqueline an, da ja plötzlich alles aus mir rausbrach. Alles war bis zum Platzen angespannt, bevor es dann in sich zusammenfiel. Und ich spürte diesen Druck in meiner Kindheit. Dieser böse Traum. Die Idee der totalen Auslöschung. Die Leute waren ja alle wie verrückt. Das ganze Ende der 80er war wie ein einziger böser Fiebertraum. Ich rannte durch die Straßen und glaubte immer noch an Breakdance. Das Fieber hatte meine jungen zarten Nerven völlig zerrüttet, dazu immer noch Iron Maiden, ja sogar Slayer, das konnte nicht gut gehen. Ich wollte immer nur weiter und weiter, und als dann alles zusammenbrach, erlebte ich das Ende des Ostblocks wie einen persönlichen Burn Out. Richtig, da ist etwas in sich zusammengebrochen, aber zuvor hatte es sich bis an seine Grenzen erschöpft. So, wie ich mich hier heute auf dieser Autobahn, denn schließlich geht uns alle das etwas an. 2 Millionen Menschen auf der Autobahn. Ich sehe das doch alles von hier oben: Alle sind sie heute da. Und deshalb bleibt dieser verdammte Content heute auch mal offline. Nein, Jaqueline und ich werden heute einfach mal das Nichts aufblasen, den schwarzen Bildschirm, diesen herrlichen Blödsinn. Denn wenn der Leser auf unsere Homepage klickt und verärgert feststellen muss, dass da nichts steht, dann steht da ja nicht Nichts. Im Gegenteil haben wir eine Art von digitalem Voodoo betrieben und das Nichts mit unseren Geschichten programmiert, respektive: meinen Geschichten, denn Jaqueline hat ja nicht so viel erzählt. Es würde mich nicht wundern, wenn der enttäuschte Leser unsere Homepage frustriert wegklicken und en passant auf You-Tube wechseln würde. Und was würde er sich da ansehen? Ihr wisst es schon, oder? Na klar: Grebe, den Hard-Core-Logo-Soundtrack, Rancid und natürlich Ultravox. Der enttäuschte Leser würde wieder glücklich sein. Also: alles nicht so schlimm. Ich glaube, Jaqueline sah das letztendlich auch so, doch bleibt es schwer zu sagen, sie war ja so schweigsam, als wir gemeinsam zur Haltestelle der U35 gingen an diesem schönen Sommertag, als die Ökonomie einmal eine kleine Auszeit nahm… So, jetzt müssen Sammy und ich aber wirklich weiter. Und bitte denkt an das Honorar, ja? (Das waren ungefähr 8.400 Zeichen.)

Love & Peace & Paninaro ‘95
Carola von der Steedt

Von hier aus betrachtet

Mit Bushido gesprochen: Was wollt ihr eigentlich von mir? Mit 14 bin ich von zuhause abgehauen und habe mir Europa von unten angesehen. Ich könnt mich nicht ficken, nein niemals, nein. (Klar habe ich mir viel vom HipHop abgeguckt, aber mein größter Trumpf sind nicht die Credibilities, mein größter Trumpf bleibt meine Ehrlichkeit.) Deswegen darf man Dieter Gorny auch nicht falsch verstehen. Der macht nicht auf Pappi, nein, der meint es ehrlich. Aber weil er so ein Überflieger ist, liebt er vielleicht die erfolgreichen Kreativen ein bisschen mehr. Na und? Warum sollte das unser Problem sein? Wir sollten uns jetzt mal auf uns selber konzentrieren, die Drogen weglassen und nicht immer die Nächte in den Kneipen durchmachen. Tommyboy und ich, das ist natürlich etwas anderes. (Weiter westwärts planen in Essen gerade einige Kreative die Besetzung des schon lange Jahre leerstehenden DGB-Hauses an der Schützenbahn. Die Gewerkschaft wird Strafanzeige erstatten. Es wird einen öffentlichen Brief an die Herren Gorny, Pleitgen und Scheytt geben, ein Ruf nach Solidarität. Er wird unbeantwortet bleiben.)
Wie werden uns mit aller gebotenen Höflichkeit ein Stück weit distanzieren müssen. Um einen neuen Blick zu entwickeln. Wir müssen die Ränder neu definieren, um dann ins Zentrum vorzudringen mit unseren eigenen Sachen. Bis hierhin ging doch alles gut. Also ich lebe gerne hier. Aber hört mir doch auf mit eurem Schrei nach Größe, das ist doch albern. Was soll denn das? Um Investoren anzulocken? Wozu denn? Hier wird es immer Arbeit geben. Das wollen sie uns immer nur weis machen, dass die Arbeit eine Extra-Einladung bräuchte, um zum Arbeitgeber zu werden, was natürlich Blödsinn ist. Wo Menschen nebeneinander leben, wird es immer Arbeit geben. Die Formen könnten sich allerdings ändern. So könnte ich beispielsweise im Zacher ein paar Lieder spielen, wenn ich bei Kibi meinen Deckel nicht mehr zahlen kann. Und mein Nachbar könnte Suppe kochen, wenn die Arbeitsämter nicht mehr zahlen können, und diese Suppe dann auf der Straße verkaufen, oder besser: tauschen, oder noch besser: verschenken. Darüber mache ich mir die geringsten Sorgen. Vielleicht wäre das sogar besser so. Vielleicht kämen wir dadurch alle wieder mehr ins Gespräch miteinander, genauso wie es uns dieser sagenhafte Sonntag auf der gesperrten A40 glauben machen will. Oder in zwei Wochen die Juice Beats im Dortmunder Westfalenpark. Tocotronic werden erwartet. Ja, hallo?! – Da freu ich mich doch wie ein Kind drauf. Besonders weil ich da mit meinem Presseausweis überall umsonst reinkomme. Aber bevor dies möglich ist, muss ich mich natürlich zurückverwandeln ist etwas ganz anderes. Etwas, das nicht ganz so sehr der Ehrlichkeit (und natürlich auch der Eitelkeit) entspricht. Denn im Augenblick bin ich klein und verwundbar, und es wäre ein Leichtes, mir jetzt den Rest zu geben. Kann natürlich auch ne Falle sein, hehe.

Purple Rain

Ein letztes Liebeslied: Deine Hand in meiner Hand. Ich hatte ein gutes Gefühl dabei, und auch als wir uns küssten. Mir hat das sehr gefallen. Nein, habe keine Angst, ich werde nichts verraten, du Schöne. Die Nacht hatte sich ja bereits über den Stadtpark gelegt, die Wiesen waren langsam feucht geworden und wir irrten all so durch die dunklen Büsche, barfuß so wie die Arbeiterkinder hier schon vor 100 Jahren, als anderswo gerade die Forderung aufkam, die Grenzen zwischen Kunst und Leben zu überwinden. Und ich sagte: Mir ist das vollkommen egal, wo du herkommst. Schließlich leben wir in einer Universitätsstadt. Diese ganze Eleganz einer Susan Sontag, die du heute Nacht zu Schau trägst, will mir immer und immer wieder sanft aufgehen. Das ist nicht Trash, nein, das ist Camp. Du bist nicht nur einfach schön, nein, da strahlt auch noch irgendetwas unbeschreibbar Zeitloses durch dich hindurch. Und das kriegt mich immer und immer wieder und wirft mich auf mich selbst zurück, dort, wo du schon lange angekommen bist. Dieser Zauber in deinem Lächeln, wenn ich dir in die Augen blicke und dabei deine Hand auf der vom Morgentau befeuchteten Wiese halte. Ich mag auch diese dicken DJ-Kopfhörer, die du so lässig geschwungen um deinen schönen Hals trägst. Zeig mal her, was hörste denn da?

it’s time we all reach out 4 something new
u say u want a leader
but u can`t seem 2 make up your mind
i think u better close it
and let me guide u 2 the purple rain

Oha, die Venus von Botticelli. – Du hast einen guten Musikgeschmack. Ich mag auch dein Lachen, du kannst dich ja noch richtig schütteln. Ok, dass es Vollmond ist, das ist jetzt Zufall. Aber lass uns nochmal küssen, schüchtern, so wie Teenager. Du magst das auch? Ich mag das sehr. Wie dein Haar meinen Geruchssinn bindet und ich mir mit deiner Hand über mein Gesicht fahre und vorsichtig deine Fingerspitzen küsse, dann will ich bleiben. Verstehst du das? Ja? – Du freust dich sogar? Dann war dies der beste Tag. Komm doch nochmal her. Nimm mich mal im Arm. So ist es schön, wahr und gut. Und wenn du irgendetwas brauchst, lass es mich wissen, ich werde es besorgen. Kein Problem, Kleines. Für dich höre ich sogar mit dem Trinken auf. Alles, was du willst. So wie Mozart in meinen naiven Ohren erklingt, will ich es mit dir teilen: Schaum frisch aus den Wolken gezapft. Nimm es dir, ich schenke dir auch noch meinen Teil. Ich will jetzt nichts hören von Ökonomie, nur wie zwei Herzen schlagen in der Dunkelheit. I never wanted to be your weekend lover. Mache was du willst, doch bitte lass mich in deiner Nähe sein. Hier in Bochum: wir beide und all die anderen: Renate, Helmut, Dr. Love, Kibi, Mirko, Britta, der Ubumann, Hannes, Myrte, Mathias, Silke, Volker, Gurke, Arne, Tim, Frauke, Wolfgang1 und Wolfgang2, Mark, Achim, Maya, Olli, René, Uwe, Pappe, Sandra, der Ingenieur, Eva, Björn, Pascal, Paula, Franky, Sille, Joachim, Grete, Martin, Ali, Peter, Pappe, Jens, Donato, Irmel, Birgitt, Easy, Jakob, Thomas, Ingried, Richie, Olga, Tommyboy, Werner, Petzi, Tobias, die Nerd-Geschwister, Mondrian, Liz, Patrick, Manni, Sebastian (danke fürs Korrekturlesen, auch wenn es nicht viel gebracht hat), Gertrud, Klaus, Ralle, Alex, der Graue, Karsten, Janette, Peck, Tina, Unter anderem Max, Nina, Harry, Gabi, hatte ich schon Markus? – gleich dreimal, dann Sabrina, Nasty, Norbert, Kiki, Ayleen, Nora, Ayca, Marita, Corinna (danke für die Fotos), Dorija, Astrid und Marleen, Toto, Nicole, Birte, Hardcore-Uwe, Günther, Hendrik, Udo, Rolf, Anette… – ach ja und auch Manfred und Sibille und Sammy natürlich nicht zu vergessen. Sammy wird ab jetzt überall mit dabei sein.
Also meine Freunde, macht es gut. Ich verabschiede mich jetzt. Und nenne das ganze hier einfach mal Content-Overdrive. Es sprengt so wunderbar subversiv die Grenzen des Portals, allein durch Flow, Fleiß und Impetus. Man meint es wäre sinnlos, aber dem ist nicht so. Ich weiß nicht, ob ihr die Energie hattet, bis hierhin runterzuscrollen, ich aber hatte den Atem dafür, und das war noch gar nichts. Es geht doch jetzt erst alles richtig los, deshalb muss ich auch unbedingt weiter. Aber zuvor muss ich mich noch bei drei Freunden bedanken, denen ich in meinen flüchtigen Ausführungen so übel mitgespielt habe und die so tapfer mitgespielt haben: Tommyboy, Unter anderem Max und natürlich der Kapitalismus. – Ist doch klar, dass ich das Ganze am Ende noch einmal so blöd postmodern brechen muss, um diese Pose wieder abschütteln zu können, und auch weil das immer wieder coole Leute zieht, wenn man den Schreibprozess aufbricht. 300.000 Klicks pro Monat, guck doch mal, ich habe es geschafft, Bushido.

Schreibt ruhig eure Kommentare, ich darf ja jetzt auch wieder. Und ich vergesse auch nicht, die Rechnungen zu schreiben. Nein, vergesse ich nicht. Ich bin ein Kraftwerk und ihr könnt das auch sein, wenn ihr nur wollt, und wir alle sind hier heute zusammen auf dieser Autobahn, aber es ist das Herz, das bis ans Ende schlägt. Vergesst das nicht. Adieu, meine Lieben. Sammy und ich fliegen hier noch ein bisschen über den Ruhrschnellweg und schauen uns alles an. Von hier aus erkennt man mal etwas mehr, mal etwas weniger. Doch Sammy weiß Bescheid. Wauwau. – Wahnsinn, wir kennen uns erst seit ein paar Stunden und sind schon die besten Freunde geworden. So ist das halt manchmal hier bei uns an der Ruhr.
„Was würdest du jetzt am liebsten hören, Carsten?“
„Na was wohl? – Einen Song von den Pet Shop Boys, schön urban und sweet.“
„…“

Weitermachen.

Was bisher geschah:

A local Hero´s Diary I: Drei Akkorde weiter…Klack

A local Hero´s Diary II: Alles in vollem Gange…Klack

A local Hero´s Diary III: Sex, Drogen & Godard…Klack

A local Hero´s Diary IV: Ganze Tiere grillen…Klack

A local Hero´s Diary V: Weil es Liebe ist…Klack

A local Hero´s Diary VI: Schnick Schnack Schnucki…Klack