Otto Sander „Angst vor dem Tod habe ich nicht, aber…“

In Memoriam: Otto Sander ist tot. 2009 gab er den Ruhrbaronen ein Interview:

Ich treffe Otto Sander in der Bar des Bochumer Schauspielhauses. Vor wenigen Minuten noch stand er auf der Bühne der Kammerspiele und spielte den trunksüchtigen Vater in Thomas Bernhards „Der Ignorant und der Wahnsinnige“. Es dauert etwa zehn Minuten, bis die Schauspieler die Bühne verlassen dürfen, da das Publikum den Schauspielern ausgiebig Applaus spendet. Während des etwa einstündigen Gesprächs wirkt Otto Sander entspannt, aber dennoch sehr konzentriert. Ich will mit ihm über Bernhard, Beckett und den Tod reden.

Herr Sander, in Thomas Bernhards Werk kommen hauptsächlich Wahnsinnige, Mörder, Selbstmörder und Sterbende vor? Wie stehen Sie dazu?

Was Thomas Bernhard auszeichnet, ist, dass er spielt mit Themen wie Tod, Leben und Endzeit. Er geht spielerisch mit diesen Dingen um. Genau das ist das schöne am Theater, dass man Probleme spielerisch löst. Und das gefällt mir. Natürlich kommen dabei auch Verbrecher und Schwerstalkoholiker vor. Das ist ja klar. Aber es wird spielerisch damit umgegangen. Das ist keine Setzung. Nicht: Das muss so sein wie es ist. Sondern: Es könnte so sein, es könnte aber auch ganz anders sein.

Was fühlen Sie, wenn sie den trunksüchtigen Vater in der „Ignorant und der Wahnsinnige“ spielen?

Ein Gefühl habe ich nicht. Das lasse ich in der Garderobe und mache dann den Text von Herrn Thomas Bernhard. Für diese Rolle habe ich wochenlang das Blindsein studiert. Wie man sich bewegt und wie man damit umgeht, Alkoholiker zu sein. Wie man dann trinkt und die Flasche hält, wie man zittert – all das habe ich vorher probiert. (schmunzelt und überlegt) Aber Gefühle habe ich dabei nicht.

Wann haben Sie Bernhard zuerst getroffen?

Erstmals gesehen habe ich ihn 1972 in Salzburg, anlässlich der Premiere von „Der Ignorant und der Wahnsinnige“. Damals gab es den Skandal, dass es bei der Uraufführung dunkel werden sollte. Die totale Finsternis wurde aber nicht genehmigt. Die Notbeleuchtung blieb also an und schien auf die Bühne, so dass man alles erkannte. Der Bühnenbildner damals stand dann am Schaltkasten und hat die Hauptsicherung rausgeknallt. Da kam sofort ein Feuerwehrmann und hat ihn am Pferdeschwanz weggezerrt und die Sicherung wieder reingeknallt. Dann haben wir gestreikt und haben gesagt: „Wir spielen nicht mehr, es sei denn, es ist eine Minute absolut dunkel.“ Das wurde aber nicht genehmigt und wir haben nicht mehr gespielt. Thomas Bernhard kam danach zur zweiten Aufführung, in der wir nicht gespielt haben, zu uns in die Garderobe und sagte: „Sander, jetzt müssen Sie spielen. Gerade jetzt in diesem Chaos.“

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Otto Sander wurde am 30. Juni 1941 in Hannover geboren. Als Filmschauspieler wurde er durch Rollen in „Die Blechtrommel“, „Das Boot“ und „Himmel über Berlin“ bekannt. Neben Bruno Ganz und Gert Voss zählt er zu den bedeutendsten Theaterschauspielern Deutschlands. Zudem zählt er zu den beliebtesten Hörbuchsprechern. Vermutlich gibt es nur wenige Menschen, die seine eindringliche Stimme nicht kennen. Die Zeitschrift vanity fair nannte ihn unlängst „the voice“. 2008 wurde er auf der Berlinale für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

„Deutschland ist ein stinknormales Land“

Henryk M. Broder (DIE WELT) über den Sendestart der zweiten »Deutschland-Safari«, Geschmacklosigkeiten, das Alter und Indira Weis

Herr Broder, Sie haben sich zusammen mit Ihrem Freund Hamed Abdel-Samad für die ARD wieder auf große Deutschland-Safari begeben. Die wichtigste Frage vorweg: Wird Wilma, Ihre Foxterrier-Hündin, wieder mit an Bord sein?

Hamed und ich würden niemals ohne Wilma losfahren. Sie ist der eigentliche Star der Sendung. Überall da, wo Wilma eine Kamera sieht, schaut sie sofort rein. Ich habe noch nie einen Hund gehabt, der dermaßen kamerageil gewesen wäre.

Worauf darf man sich sonst noch freuen?

Die zweite Staffel ist noch mal einen Zacken besser, schärfer und unterhaltsamer als die erste, weil Hamed und ich inzwischen ein eingespieltes Paar sind – ungefähr so wie Jack Lemmon und Walter Matthau. Zudem gibt es gleich in der ersten Folge eine atemberaubende Einstellung, in der Indira Weis im Bikini so wunderschön aus dem Wasser steigt, dass es schon Oscar-verdächtig ist.

Wie haben Sie Indira Weis bei den Dreharbeiten erlebt?

Sie sieht nicht nur rasend gut aus, sie ist in der Tat auch ein kluges Mädchen. Hat was in der Bluse und im Kopf, eine sehr angenehme und witzige Person. Mein Treffen mir ihr gehört zu den vielen Momenten in meinem Leben, in denen ich bedauerte, dass ich schon so alt bin – auch, wenn ich für die Zukunft nichts ausschließen will (lacht).

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Ilja Richter: „Wer am Ziel ist, ist naturgemäß am Ende angelangt“

© DERDEHMEL © DERDEHMEL

Ilja Richter wurde 1952 in Berlin geboren. Schon als Kind wirkte er in Hörspielen und Filmen mit. 1971 startete die ZDF-Musiksendung »Disco«, die Richter als Moderator bundesweit populär machte. Nach dem Ende von »Disco« 1982 wechselte Ilja Richter zum Theater und reüssierte als Schauspieler und Regisseur. Daneben schrieb er Kolumnen für die taz und veröffentlichte mehrere Bücher. Die »Disco« Revival-Tour, unter anderem mit »Middle of the Road« und Chris Andrews, startet am 5. Mai in München und führt bis 28. Mai durch 17 deutsche Städte. Zeit für ein Gespräch mit dem Entertainer über die »Disco«-Jubiläumstour, sein »5-Minuten-Judentum« und Heino.

Herr Richter, Ihre Sendung »Disco« startete vor 40 Jahren im ZDF und war elf Jahre lang Kult. Nervt es Sie, wenn man Sie nach so langer Zeit immer noch auf die Show anspricht?

Nur die Frage der Journalisten, ob es mich nervt, nervt. Dass die Menschen mich auf der Straße nach wie vor auf »Disco« ansprechen, finde ich wunderbar.

Sie gehen im Mai samt Stars und Bands der 70er-Jahre auf große Jubiläumstour. Worauf darf man sich freuen?

Auf eine großartige Familienshow mit einem bestens gelaunten Moderator und ausgewählten Klassikern der vergangenen Jahrzehnte.

»Licht aus – whomm! Spot an – jaaa!« Wird man auch wieder ihren legendären Slogan hören?

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Begnadeter Dilettant

Foto: Jerry Zigmont Dass Woody Allen ein ebenso genialer Regisseur wie intelligenter Autor ist – geschenkt. Doch ist der in Brooklyn geborene Filmemacher auch ein guter Klarinettist? Und lohnt es sich gar, für den Besuch seines Konzerts an diesem Freitag in Köln eines der nicht gerade günstigen Tickets zu kaufen?

Die Antwort könnte deutlicher nicht sein: Natürlich ist der Stadtneurotiker als Musiker ein Dilettant und natürlich bleiben seine musikalischen Fähigkeiten hinter seinen filmischen weit zurück. Die Klarinette klingt meist quiekend und spröde, als käme Allen andauernd außer Puste. Seine Virtuosität ist, kurz gesagt, nicht ganz so groß wie seine Leidenschaft für die Musik.

Und doch ist es ein Glück, dass der 75-Jährige seine Heimat New York verlassen hat, um am Rhein eines der raren Konzerte zu geben. Denn die Auftritte von Woody Allen & His New Orleans Jazz Band sind trotz musikalischer Mängel stets auch ein außergewöhnliches Erlebnis. Sie sind weniger Konzert denn Event, das Publikum huldigt jenem Star, der uns so viele schöne Kinostunden beschert hat. Und schon allein, weil es nicht allzu oft vorkommt, dass Allen in Deutschland gastiert, lohnt sich ein Konzertbesuch. Für gewöhnlich spielt er mit seiner Band seit über 30 Jahren jeden Montag im Manhattaner Carlyle Hotel und schlägt wegen dieses jour fixe auch gern einmal Einladungen zur Oscar-Verleihung aus. Der Termin ist inzwischen Kult und jede Vorstellung ausverkauft. Und Hand aufs Herz: Spielte Barack Obama Klavier, wäre die Musik nicht auch zweitrangig?

Für das Konzert in der Philharmonie Köln gibt es noch Tickets: 0221-280280 oder www.koelner-philharmonie.de

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„Wir alle tragen das Böse in uns“

© Foto: Guido Krzikowski

Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein, heißt es bei Nietzsche. Stimmt das überhaupt? Im Ruhrbarone-Interview spricht Josef Wilfling, langjähriger Leiter der Münchner Mordkommission, über menschliche Abgründe, die Beziehung zwischen Täter und Ermittler und über die Frage, ob er selbst zum Mörder werden könnte.

Herr Wilfling, als Mordermittler der Kriminalpolizei München wurden Sie über 20 Jahre lang tagtäglich mit den Abgründen der menschlichen Natur konfrontiert. Hat sich Ihr Menschenbild dadurch verändert?

Das bleibt nicht aus, wenn einem immer wieder vor Augen geführt wird, was Menschen anderen Menschen antun können. Nach und nach habe ich die nüchterne Einsicht gewonnen, dass wir Böse und Gut zugleich sind. Wir alle tragen das Böse in uns, deshalb müssen wir es fortwährend bekämpfen. Es kommt darauf an, das uns innewohnende Vermögen zu lügen, zu betrügen oder gar zu ermorden in Zaum zu halten. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder von uns zum Mörder werden kann.

Gilt das auch für Sie?

Ich kann für mich ausschließen, dass ich einen Menschen aus Habgier oder aus Wollust ermorden würde. Ausschließen kann ich aber nicht, dass auch mich die Emotionen irgendwann einmal überwältigen könnten, wenn ich in die entsprechende Situation hineingeraten und bis aufs Blut gereizt werden würde. Erfahrungsgemäß bricht es schneller aus einem hervor als man gemeinhin annimmt.

Aus welchem Grund bricht „es“ aus manchen von uns hervor?

Ein Beispiel: Der brave Ehemann kommt nach Hause, ertappt seine Frau mit einem anderen und wird dann auch noch von beiden beschimpft – schon ist es geschehen. Er wird zum Täter und sitzt am nächsten Tag bei der Mordkommission zum Verhör.

Was ist das häufigste Mordmotiv?

Habgier. Danach kommen die niedrigen Beweggründe, also alles, was uns an Emotionen in die Wiege gelegt wurde: Eifersucht, Hass, Rache. All das kann uns von heute auf morgen zum Täter werden lassen.

In Fritz Langs legendären Film „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ sagt der Mordermittler in Bezug auf sein Klientel…

… „Ich erkenne meine Schweine am Gang.“ Ich schätze den Film sehr, nur: 99 Prozent der Täter, mit denen ich zu tun hatte, waren Menschen wie du und ich. Den Mörder gibt es nicht. Das Böse geht durch alle Schichten. Egal ob intelligent oder dumm, dick oder dünn, reich oder arm – es kann jeden treffen, weil alle Menschen von Emotionen gesteuert werden. Das Böse ist in den meisten Fällen immer auch ein Sieg der Gefühle über den Verstand.

Die Erkenntnisse der Hirnforschung legen den Schluss nahe, dass es keine Schuld geben kann, da alles, so auch das Böse, gehirnphysiologisch determiniert ist. Demnach wäre es dem Menschen nicht möglich, Herr seiner Gefühle zu sein.

Man kann das Individuum nicht von seiner Pflicht verantwortlich zu handeln entbinden. Es wäre schlimm, wenn irgendwelche neurobiologische Vorgänge in irgendwelchen Hirnwindungen darüber bestimmen würden, ob wir zum Mörder werden oder nicht.

Was also nicht sein darf, kann auch nicht sein?

Nein, der Mensch hat einen freien Willen, er kann sich entscheiden! Dieser von Gott – oder der Natur – gegebene freie Wille versetzt uns in die Lage, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Es sei denn, man ist krank und kann infolgedessen diese Unterscheidung nicht treffen. Jeder Gesunde aber muss die Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Das Vermögen, unsere Gefühle zu beherrschen zeichnet uns aus. Es unterscheidet uns von Tieren.

„Es soll in unserer Galaxie hundert Milliarden solcher Sonnensysteme wie unseres geben und wiederum hundert Milliarden solcher Galaxien. Und das soll nur zehn Prozent des Universums ausmachen, dazwischen ist es leer und kalt. Wenn Sie sich das nur zwei Sekunden lang vorstellen, ist alles, was wir tun, völlig unbedeutend“, hat der Strafverteidiger und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach kürzlich in einem Interview gesagt. Warum sollten wir, inmitten dieses unvorstellbaren bedeutungslosen kosmischen Nichts, überhaupt irgendwelche Gesetze befolgen?

Weil es uns sonst gar nicht gäbe! Der Kosmos mag noch so gewaltig sein, wenn wir nicht unsere Gesetze befolgen würden, hätten wir uns schon längst umgebracht und ausgelöscht. Außerdem ist es unsere verdammte Pflicht, in dieser Welt, in der es offenkundig alles andere als gerecht zugeht, nicht auch noch Leid hinzuzufügen. Die Notwendigkeit für Recht und Gesetz ergibt sich aus den scheußlichen Morden, die ich aufzuklären hatte. Der nur schwer zu ertragende Anblick von grausam hingerichteten Menschen ist Grund genug, dass wir stets nach der goldenen Regel handeln sollten.

Haben Sie eine Erklärung dafür, aus welchem Grund so viele ansonsten durch und durch friedlich Bürger geradezu süchtig sind nach blutrünstigen Krimis und Thrillers?

Vielleicht stellt diese Vorliebe einen notwendigen Kontrapunkt zu unserem ansonsten eher langweiligen demokratischen Alltag dar. Für viele ist es ein schaurig-schönes Gefühl in Abgründe hineinzuschauen, ohne selbst davon betroffen zu sein. Dabei spielt sicherlich Neugier eine große Rolle. Wenn der Leser aber nur einmal an einem echten Tatort mit echten Leichen stehen würde – von der Faszination würde nichts mehr übrig bleiben. Dass einzige, was man dann spürt ist Fassungslosigkeit, Mitleid mit den Opfern und nicht zuletzt auch Wut auf den Täter.

In Ihrem Buch „Abgründe“ beschreiben Sie, dass die Beziehung zwischen Täter und Mordermittler in der Verhörsituation außerordentlich komplex ist. Sie beschreiben zum Beispiel, dass manche Täter nur deshalb gestehen, um ihnen gewissermaßen ein Geschenk zu machen.

Es kommt durchaus vor, dass der Mordermittler aus der Sicht des Täters eine Art Vaterrolle einnimmt. Ein Serienmörder zum Beispiel hat mir nach Monaten des Verhörs seine Tat gestanden, um länger in meiner Gegenwart sein zu können. Die Chemie zwischen Täter und Ermittler muss stimmen. Dabei habe ich oftmals auch schauspielern müssen und mich dem jeweiligen Tätertypus angepasst. Für den Ermittlungserfolg ist das unverzichtbar.

Inwiefern?

Im Verhör mit einem Täter, der seinen Ehepartner übertötet hat, biete ich mich als Beichtinstanz an. Viele dieser Täter können mit ihrer Schuld nicht leben und werden früher oder später versuchen, sich ihre Tat von der Seele zu reden. In diesen Fällen muss ich emphatisch sein. Wenn ich aber einen eiskalten Mörder verhöre, muss ich mich anders verhalten. Bei diesem Typus kann zum Beispiel ich nicht an dessen Gewissen appellieren. Er hat nämlich keins.

Zum Abschluss noch eine Frage, die man sich nach der Lektüre Ihres Buches zwangsläufig stellt. Hatten Sie im Laufe Ihrer Karriere nie Angst, dass Ihnen ein Täter, den Sie überführt haben, nach seiner Freilassung auflauert?

Es gibt schon sehr gefährliche Täter, die ich hinter Schloss und Riegel gebracht habe und die mittlerweile ihre Strafe abgesessen haben. Ich verhehle nicht, dass ich denen lieber nicht alleine nachts im Park begegnen möchte. Aber die sind ja auch nicht dumm und wissen, dass man schnell auf sie als Täter kommen würde – falls sie den Angriff auf mich überhaupt überleben würden.

Stand-up trifft Klesmer: Jüdisches (er)leben

Heute beginnen in Nordrhein-Westfalen die Jüdischen Kulturtage. Nicht weniger als 500 Veranstaltungen werden rund um das diesjährige Motto „jüdisches [er]leben“ bis zum 17. April angeboten. Darunter finden sich Lesungen mit hochkarätigen Autoren wie Louis Begley und Rafael Seligmann, Auftritte von Stand-up-Comedian Oliver Polak sowie Themenabende mit dem vielversprechenden Titel „Happy Hippie Jew Bus“.

Bereits zum vierten Mal finden die Kulturtage in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland statt. Nahezu ganz NRW beteiligt sich an dem Programm. Alles in allem sind 52 Städte und 14 jüdische Gemeinden mit eigenen Veranstaltungen vertreten. Einen Schwerpunkt bildet dabei das Angebot aus den Gebieten Musik, Film, Bildende Kunst, Literatur, Tanz und Theater. Ein zweiter Themenkomplex der Kulturtage sind die zahlreichen Begegnungsprojekte. Sie sollen das Judentum einem nichtjüdischen Publikum näherbringen. So bieten etwa die Gemeinden in Essen, Herford und Mönchengladbach kostenlose Synagogenführungen an, in deren Rahmen Gemeindevertreter in jüdische Religion, Bräuche, Rituale und Feste einführen. Darüber hinaus wird der Journalist Michael Wuliger in mehreren Lesungen aus seinem ebenso witzigen wie bissigen Buch „Der koschere Kgnigge. Trittsicher durch die deutsch-jüdischen Fettnäpfchen“ vortragen.

Ein Blick in das Programm verrät, dass der Fokus der Kulturtage bewusst auf der Gegenwart zugewandter Themen liegt. In Köln beispielsweise trifft mit dem Liedermacher Hanjo Butscheidt jüdischer Charme auf Kölsche Lebensart; in Gelsenkirchen gibt es gleich an vier ganzen Tagen die Gelegenheit, die traditionelle, aber auch moderne aschkenasische und sephardische Küche kennenzulernen. Zwar soll auch dieses Mal eine ganze Reihe von Auftritten der obligatorischen – zumeist mit Nichtjuden besetzten – Klezmer-Bands ein authentisches Bild vom Judentum vermitteln. Doch angesichts der zum Teil ideenlosen Programme in den Vorjahren und der leeren Kassen in Nordrhein-Westfalen ist den Veranstaltern ein großes Kompliment zu machen. Ihnen ist es gelungen, die Erinnerung an die Opfer der Schoa wachzuhalten, ohne das heutige Leben der Juden in der Bundesrepublik aus dem Blick zu verlieren.

Man müsste schon den österreichischen Spötter Karl Kraus bemühen, um auch hier das viel zitierte Haar in der Suppe zu finden. Denn angesichts des prallen Programmkalenders der Kulturtage fragt man sich unweigerlich, wo man, um mit ebenjenem Kraus zu sprechen, nur all die Zeit hernehmen soll, so viele Veranstaltungen nicht zu besuchen. Jede Entscheidung für einen Abend ist zwangsläufig eine Entscheidung gegen mehrere andere, nicht weniger interessante Termine. Für die Schirmherren der Kulturtage, NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Zentralratspräsident Dieter Graumann, könnte es indes keine schönere Beschwerde geben.

Daniel Hope: „Alles, was schiefgehen kann, geht auch schief“

 

Daniel Hoppe Foto: © Harald Hoffmann - Deutsche Grammophon

Geigenvirtuose Daniel Hope über kleine und große Pannen, Yehudi Menuhins Blackout und ein explodierendes Klavier

Herr Hope, in Ihrem neuen Buch »Toi, toi, toi! Pannen & Katastrophen in der Musik« schreiben Sie, dass Musiker oft sehr abergläubisch sind. Wie ist das bei Ihnen, tragen Sie bei Auftritten stets eine Hasenpfote bei sich?
(lacht) Nein, ich habe einen anderen Glücksbringer. Meine Hasenpfote ist ein bestimmtes Seidentuch, das ich bei Konzerten immer dabei habe. Ich weiß, dass das irrational ist, aber diese Art von Routine beruhigt mich irgendwie. Dabei kann einem nichts und niemand helfen, wenn man auf der Bühne steht und ein teuflisch schweres Solo spielen muss.

Welches war Ihre bisher größte Panne bei einer Aufführung?
Das schlimmste Erlebnis hatte ich bei einem Konzert in Frankreich, als mir mitten in einem Streichquartett von Mozart eine Saite riss. Sie war mit solcher Wucht zersprungen, dass sie mir ins Gesicht schnellte und das messerscharfe Metall meine Oberlippe aufschnitt. Das Blut tropfte ohne Unterlass, sodass ich hinter der Bühne behandelt werden musste. Doch das war noch nicht alles …

… Murphys Gesetz …
…genau, »alles, was schiefgehen kann, geht auch schief«. Als ich auf die Bühne zurückkehrte, kicherten meine Mitspieler jedes Mal, nachdem sie zu mir geblickt hatten. Erst leise und heimlich, aber bald darauf schon ganz unverhohlen. Schließlich brachen sie in überbordendes Lachen aus – der ganze Saal lachte laut und fröhlich mit.

Was war geschehen?
An meiner geplatzten Lippe war von der ärztlichen Behandlung ein großes Stück blutgetränktes Papier kleben geblieben. Das muss in etwa so ausgesehen haben wie die Nudel in dem populären Sketch von Loriot. Zu allem Überfluss musste ich nach dem Konzert auch noch feststellen, dass ein Hund, der durch eine offene Außentür hereinspaziert war, auf meinen Instrumentenkoffer gepinkelt hatte.

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„Amy Chuas Erziehungsmethoden sind gefährlich und kontraproduktiv“

Zwang funktioniert, behauptet die chinesisch-amerikanische Juraprofessorin Amy Chua in ihrem weltweit viel diskutierten Buch „Battle Hymn of the Tiger Mother“. Chuas Erziehungsmethoden seien eine „gefährliche Grenzüberschreitung“, meint hingegen die US-Bestsellerautorin Nicole Krauss. Druck und Kontrolle bei der Erziehung von Kindern, wie es in China gang und gäbe ist, führten später keineswegs zu beruflichem Erfolg.

Nicole Krauss, in den USA hat Amy Chuas Buch »Battle Hymn of the Tiger Mother« wütende Proteste ausgelöst. Wie stehen Sie als jüdische Mutter zu dem von Chua propagierten strengen chinesischen Erziehungsstil?

Ich halte es für eine krasse Grenzüberschreitung, dass Chua ihre Töchter beispielsweise als »Müll« beschimpfte, um sie zu noch besseren Leistungen anzuspornen. Ebenso skandalös ist es, dass sie ihnen drohte, ihre Stofftiere zu verbrennen, wenn sie nicht unverzüglich perfekt Klavier spielen. Das alles klingt für mich nach der Pädagogik einer längst überwunden geglaubten Zeit.

Nach Chuas Auffassung sicherten Zwang und Druck den langfristigen Erfolg der Kinder. Die westliche Kuschelpädagogik hingegen bringe den Nachwuchs um seine Chancen. Heiligt der Zweck nicht die Mittel?

Keinesfalls. Zudem sind Chuas Erziehungsmethoden nicht nur gefährlich, sondern auch kontraproduktiv. Wenn Eltern ihr Kind zu Höchstleistungen drillen, werden sie auf lange Sicht das genaue Gegenteil erreichen.

Weshalb?

Ein auf totaler Kontrolle basierender Erziehungsstil traumatisiert die Kinder, und das wird sich später auch beruflich negativ auswirken – vom moralisch höchst verwerflichen Aspekt dieser Pädagogik ganz zu schweigen.

Gleichwohl plädieren bereits die ersten westlichen Journalisten für eine strengere Kindererziehung, um in Zukunft mit aufstrebenden Ländern wie China konkurrieren zu können.

Gegen ein gewisses Maß an Strenge ist auch nichts einzuwenden. Würde ich meinen Söhnen alles erlauben, wäre unser Haus bereits mehrmals in Flammen aufgegangen (lacht). Aber Verantwortung darf nicht mit Zwang verwechselt werden. Der Geheimnis von erfolgreichen Menschen ist, dass sie intrinsisch motiviert sind – und nicht, dass sie zu etwas gezwungen werden. Das sollten überehrgeizige Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder beachten.

Jüdische Mütter sind bekannt dafür, dass sie großen Wert auf Bildung legen. Welche Rolle spielt für Sie und Ihren Mann Jonathan Safran Foer eine jüdische Erziehung?

Es ist uns sehr wichtig, dass unsere Söhne eine jüdische Vorschule besuchen. Ich beobachte mit Freude, dass dort ihr Interesse für das Judentum geweckt und ihre religiöse Identität auf spielerische Weise gestärkt wird. Da das Judentum eine Religion des Lesens ist, wird dort auch viel gelesen. Für mich ist das der wirkliche Schlüssel zum späteren Erfolg im Beruf.

Inwiefern?

Je besser ein Kind lesen kann, desto größer ist sein schulischer Erfolg. Umso größer ist dann wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass es einen qualifizierten, gut bezahlten Job finden wird. Und das Beste ist: Wenn man es ihnen selbst vorlebt, greifen die meisten Kinder ohne Zwang ganz von selbst zu Büchern. Mein ältester Sohn bekommt nicht genug von den Geschichten in der hebräischen Bibel.

Vielleicht sollten Sie und Amy Chua sich einmal zusammensetzen und über die Vorteile jüdischer Erziehung sprechen.

Gute Idee. Wissen Sie, die Tigermutter will dasselbe wie die klassische jiddische Mamme: Ihr Kind soll erfolgreich und glücklich sein. Nur, dass die Tigermutter denkt, das müsse mit Härte erzwungen werden. Da würde ich sie gerne eines Besseren belehren.

Das Interview erschien, in anderer Version, zuerst bei der “Jüdischen Allgemeinen”.

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„Sport und Politik sind zwei unterschiedliche Welten – wenn es um Israel geht, ist oft das Gegenteil der Fall“

Foto: Assaf Yekuel
Anlässlich des dieser Tage stattfindenden Dubaier Tennisturniers erhielt ich die Gelegenheit, mit der israelischen Spielerin Shahar Peer über ihre diesjährige Teilnahme in Dubai zu sprechen, die nicht nur von der politischen Eiszeit zwischen Israel und dem Emirat überschattet wird. Denn auch aus persönlichen Gründen ist dieses Turnier für die Weltranglistenelfte keineswegs wie jedes andere. 2009 verbot der Turnierveranstalter ihr die Einreise, weil man die arabischen Zuschauer nach dem Gaza-Krieg nicht mit einer israelischen Spielerin „reizen“ wollte. Im Jahr darauf durfte sie zwar wieder teilnehmen, musste aber rund um die Uhr von 25 Bodyguards bewacht werden. Man befürchtete einen antiisraelischen Racheakt wegen eines zuvor in Dubai, mutmaßlich vom Mossad, getöteten Hamas-Funktionärs.

Shahar Peer, Sie haben in den vergangenen Jahren mit dem WTA-Tennisturnier in Dubai alles andere als gute Erfahrungen gemacht. Mit welchen Gefühlen treten Sie dort an?

Dieses Turnier ist für mich angesichts der zurückliegenden Ereignisse durchaus negativ besetzt. Als Profi muss man aber in der Lage sein, alles Negative auszublenden. Ich bin überzeugt, dass mir dies gelingen wird. Deswegen freue ich mich darauf, hier wieder sportlich auf mich aufmerksam machen zu können.

Vor zwei Jahren wurde Ihnen vor dem Turnier die Einreise nach Dubai verweigert. Die Veranstalter sagten damals, man wolle mit Ihrer Teilnahme die arabischen Zuschauer nach dem Gaza-Krieg nicht reizen …

… das war wirklich eine sehr unschöne Geschichte. Sport und Politik sind zwei unterschiedliche Welten, sie sollten nicht miteinander vermengt werden. Wenn es um Israel geht, ist leider oft das Gegenteil der Fall.

Im Jahr darauf durften Sie auf internationalen Druck hin zwar wieder teilnehmen, mussten aber rund um die Uhr von 25 Bodyguards bewacht werden. Man befürchtete einen antiisraelischen Racheakt wegen eines zuvor in Dubai, mutmaßlich vom Mossad, getöteten Hamas-Funktionärs. Wie sind Sie damals mit der außergewöhnlichen Situation zurechtgekommen?

Ich rief mir immer wieder in Erinnerung, dass diese Stimmung gegen mich nicht die Mehrheit repräsentierte. Denn ich erhielt aus der ganzen Welt auch extrem viel Zuspruch. Zudem habe ich versucht, die Situation psychologisch ins Positive zu wenden.

Wie das?

Ich sagte mir: Du wirst vermutlich gerade besser beschützt als Präsident Obama – ideale Bedingungen, um sich einzig und allein aufs Spiel zu konzentrieren!

Es scheint geholfen zu haben. Sie haben hervorragendes Tennis gezeigt und das Finale nur knapp verpasst. Hat diese Ausnahmesituation Sie womöglich sogar stärker gemacht?

Ich möchte diese Umstände nicht noch einmal erleben, aber es stimmt: Die Bedingungen haben mich angespornt. Druck kann lähmen, für mich ist er eine starke Antriebsfeder und lässt mich in der Tat stärker spielen.

Im Unterschied zu anderen Spielerinnen stehen Sie stets vor einer besonderen Herausforderung: Zu Hause erwartet man von Ihnen Siege, im Ausland polarisieren Sie, weil Sie Israelin sind. Ist es zuweilen eine Last, nie nur sich selbst, sondern immer auch den jüdischen Staat und seine Politik zu repräsentieren?

Dass die Israelkritiker bei manchen Turnieren gegen mich demonstrieren, ist mir mittlerweile egal. Und dass sich viele Israelis mit meinen Erfolgen identifizieren, schmeichelt mir mehr, als dass es mich belastet. Ich liebe dieses Land und bin stolz, es auf der ganzen Welt vertreten zu dürfen. Wir sind eine Nation, in dem der Nahostkonflikt zwangsläufig eine große Rolle spielt. Da ist es nur allzu verständlich, dass man sich über jede positive Nachricht freut und am Erfolg des anderen teilhaben möchte.

Andere israelische Prominente wie das Topmodel Bar Refaeli haben sich um den Armeedienst gedrückt. Sie nicht. Darüber versteuern Sie Ihre Einkünfte ganz bewusst in Israel. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Wie fast alle dort möchte ich meinen Teil zum Erhalt dieses Landes beitragen. Man kann nicht nur in den Genuss der Vorteile kommen, man muss die Gesetze achten. Wenn jeder glaubte, für sich eine Ausnahme machen zu können, gäbe es Israel nicht mehr – und das wäre eine Katastrophe.

Das Interview erschien, in anderer Version, zuerst bei der „Jüdischen Allgemeinen“.

„Thomas Bernhard war ein Scheusal sondergleichen“

Heute wäre Thomas Bernhard 80 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass zeigt der TV-Sender TW1 die Themenwoche „80 Jahre Thomas Bernhard“. Im Rahmen dieser Reihe kommt auch Bernhards langjähriger „Lebensmensch“ Karl Ignaz Hennetmair zu Wort, mit dem ich kürzlich über seine Freundschaft zu dem österreichischen Autor, dessen Wutausbrüche und den „Märchenonkel“ Marcel Reich-Ranicki sprach. Naturgemäß ist es ein nicht ganz gewöhnliches Gespräch geworden. Gleich zu Beginn fährt mir Hennetmair, ganz im Sinne des Übertreibungskünstler Thomas Bernhard, „in die Parade“ und lässt sich in unvergleichlicher Art und Weise über Österreich aus.

Herr Hennetmair, lassen Sie uns über Thomas Bernhard reden. Sie waren…

… verzeihen Sie, dass ich Ihnen gleich zu Beginn in die Parade fahre, aber es ist nichts weniger als eine unglaubliche Perversität, dass das österreichische Feuilleton, das sich angesichts seiner durch und durch primitiven Berichterstattung schämen sollte, sich als solches zu bezeichnen, heuer nur mehr über den grässlichen Peter Handke oder die anderen scheußlich einfallslosen, vom Staat gleichwohl hoch alimentierten sogenannten Schriftsteller berichtet, und nur alle paar Jahre, wenn denn mal ein runder Geburtstag ansteht, an einen Jahrhundertschriftsteller wie der Thomas es war, erinnert.

Nun, ehrlich gesagt habe ich mit dem österreichischen Feuilleton nicht das Geringste am Hut.

Seien Sie froh! Die Zeitungen in Österreich sind ganz und gar stumpfsinnig, ja geradezu gemeingefährlich. So etwas gibt es nur hier, nirgends sonst.

„Niemand ist perfekt, außer Thomas Bernhard wenn er schimpft“, schrieb Siegfried Unseld seinerzeit. Offenkundig hat er sich geirrt. Sie stehen Bernhards Schimpfkanonaden in nichts nach.

Das mag sein. Wenn man sich jahrzehntelang mit Thomas Bernhards Leben und Werk auseinandersetzt, hat das naturgemäß Folgen.

Man läuft Gefahr, seine von Misanthropie und Hass auf alles Österreichische geprägten Satzkaskaden zu übernehmen? Das klingt zugegebenermaßen beängstigend.

Das ist der Preis, den man für die Lektüre seiner Bücher zahlen muss. Und fürs Protokoll: Die österreichische Presse ist bekannt für ihre Niederträchtigkeit. Das wissen alle – mit Ausnahme der Österreicher!

Wagen wir einen zweiten Versuch, Herr Hennetmair. Sie waren einer der wenigen Menschen, deren Nähe Thomas Bernhard zuließ. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Schauen Sie, der Thomas hat die sogenannten Intellektuellen wegen ihres affektierten Auftretens gehasst. Die Landbewohner wiederum verachtete er wegen ihres Stumpfsinns. Ich hingegen war weder das eine noch das andere. Als früherer Ferkelhändler und später dann als Realitätenvermittler stand ich irgendwie dazwischen. Ich glaube, er hat schlicht und einfach meine ehrliche, unverstellte Art gemocht, die in seinem Milieu, dem Kunstbetrieb, nicht existierte.

Was schätzten Sie an dieser Freundschaft?

Wenn man in der tiefsten österreichischen Provinz einen Geistesmenschen wie ihn trifft, ist das ein Glücksfall. In ihm fand ich inmitten dieser ganzen Geschmacklosigkeit einen Gesprächspartner. Die Welt wäre ja eine ganz und gar sinnlose, wenn es nicht Menschen wie Thomas geben würde, die uns mit ihrem Geist von unserer lächerlichen Existenz ablenken.

In seinem Werk reflektierte Thomas Bernhard geradezu monomanisch Krankheit und Tod. Wie müssen wir uns vor diesem Hintergrund den privaten Bernhard vorstellen?

Wenn er arbeiten konnte, schrieb er sich die Verzweiflung vom Leib, so dass wir abends ganz entspannt Krimis oder Sportschau schauen konnten. Der Thomas war dann ein sehr heiterer Mensch. Ungemütlich wurde er nur, wenn er nichts zu Papier brachte.

Was genau bedeutet „ungemütlich“?

Er brauchte immer ein Ventil, um Druck abzulassen. Wenn er nicht schreiben konnte, gingen wir als Ausgleich kilometerlang spazieren; da hat er dann über den Tod monologisiert. Monologe, die er anschließend Wort für Wort in seinen Büchern wiederholt hat, wie ich später feststellte.

Haben Sie diese Spaziergänge mit der Zeit nicht gelangweilt?

Es heißt, er hätte immer wieder ein und dasselbe Buch geschrieben – ein Riesenschmarrn! Wie bei seinen Büchern geriet man unweigerlich in einen Sog, wenn der Thomas Vorträge hielt. Minetti hat mit Recht gesagt, dass er in Bernhards Sätzen zu Hause ist. So ist es auch bei mir.

In Ihrem 2001 publizierten Tagebuch „Ein Jahr mit Thomas Bernhard“ beschreiben Sie, wie schwierig es war, nicht seinen Zorn zu erregen. War es eine Freundschaft auf Augenhöhe?

Das war es uneingeschränkt. Ich habe ihm immer geradeheraus meine Meinung gesagt. Alles andere hätte er auch nicht akzeptiert. Dessen ungeachtet war die Freundschaft zu ihm eine ungeheure Herausforderung. Es glich meinerseits gelegentlich einem Tanz auf dem Vulkan.

Inwiefern?

An einem Tag war er der liebste Mensch auf Erden. Dann wiederum glich er dem Bruscon aus seinem „Theatermacher“ und ließ an nichts und niemanden ein gutes Haar. Diese Wut zu ertragen konnte anstrengend sein. Bei aller Liebe, Thomas war immer auch ein Scheusal sondergleichen.

1975 kam es zwischen Ihnen beiden zum Bruch. Haben Sie es jemals bereut, sich mit ihm eingelassen zu haben?

Niemals! Mir war immer klar, dass es schwieriger ist, mit einem Geistesmenschen befreundet zu sein als mit einem Idioten. Dem Idioten können Sie ja alles sagen, ohne dass er es versteht. Gegenüber dem Geistesmenschen muss man aber stets acht geben. Der Künstler ist naturgemäß feinfühliger als der Fleischhauer.

Warum sprechen Sie bis heute nicht über den Grund des Bruchs?

Na, weil ich finde, dass das nur den Thomas und mich etwas angeht. Er hat eben andere Menschen oft ohne jeden Grund beschuldigt. Und da habe ich ihm jedes Mal gesagt: „Ich schau dich lebenslänglich nicht mehr an, wenn du mich so beschuldigst.“ Ich habe nur Wort gehalten.

Um welche Beschuldigung handelte es sich genau?

Guter Versuch, aber schon allein dem Thomas zuliebe sage ich kein Sterbenswort. Das nehme ich mit ins Grab.

Bernhards Biographin Gitta Honegger schrieb, dass er homosexuell gewesen sei und dass das bei Ihrer Entzweiung womöglich eine Rolle spielte. Wie stehen Sie dazu?

Na, das ist doch wirklich ein ganz großer Schmarrn. Ich weiß von mindestens einem Fall, wo er mit einer Dame weggegangen ist und bei ihr übernachtet hat. Man darf halt nicht alles glauben, was die Leute zwischen Buchdeckel klatschen. Jedes Jahr ein neues infames Gerücht. Was die Honegger heute, war der Marcel Reich-Ranicki früher.

Sie spielen darauf an, dass Reich-Ranicki einmal schrieb, Bernhard sei infolge seines lebenslangen Lungenleidens impotent gewesen.

Ja, eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen. Jeder weiß, dass Reich-Ranicki gerne den Märchenonkel gibt und sich Geschichten ausdenkt, weil ihm die Wirklichkeit zu fad ist. Aber wie ich wird der ja bald enteignet, dann hat es sich ohnehin. Dann spielt es keine Rolle mehr, wer was sagt.

Enteignet? Wie meinen Sie das?

Na, Sie sind noch jung, bei Ihnen dauert es hoffentlich noch eine Weile. Aber früher oder später werden wir in dieses dunkle Nichts unter unser aller Füssen gestoßen. Das ist ja die eigentliche Gemeinheit im Leben. Dagegen werde ich wie Thomas Bernhard bis zum Schluss aufbegehren.

Das Interview erschien, in anderer Version, zuerst auf Cicero Online.

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