„Man kann nicht Demokratie predigen, aber mit Diktaturen ins Bett gehen“

Gestern Vormittag sprach ich mit Hamed Abdel-Samad über die Demonstrationen in Ägypten. Der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler hält sich gerade in Kairo und nimmt an den Protesten gegen Mubarak teil. Im Interview weist er darauf hin, dass es überwiegend die Zivilgesellschaft ist, die auf die Straße geht und gegen das Regime demonstriert. Die Islamisten seien „in der Minderheit und werden von allen Bürgern sofort zurechtgewiesen, wenn sie ihre Parolen rufen“, sagte Abdel-Samad. Der Westen solle seine zögerliche Haltung gegenüber den Protesten überdenken und Mubarak nicht länger unterstützen.

Herr Abdel-Samad, Sie halten sich gegenwärtig in Kairo auf und nehmen an den Demonstrationen gegen Staatspräsident Husni Mubarak teil. Wie ist zurzeit die Lage in der ägyptischen Hauptstadt?

Ich befinde mich gerade unmittelbar am Tahrir-Platz, auf dem sich schätzungsweise mehr als 100.000 Demonstranten versammelt haben. In Sprechchören und auf Transparenten wird der sofortige Rücktritt Mubaraks gefordert.

Wie verhalten sich das ägyptische Militär und die Polizei?

Die Armee hat unsere Forderungen als legitim bezeichnet und sichert zu, keine Gewalt einzusetzen. Ich beobachte auf den Straßen immer wieder Szenen der Verbrüderung zwischen dem Militär und den Zivilisten. Die Polizei hingegen hat sich in Luft aufgelöst. Sie existiert nicht mehr. Das Volk hat das Zepter in die Hand genommen und lenkt die Geschicke des Landes.

Werden Sie auch am sogenannten „Marsch der Millionen“ teilnehmen in Richtung Präsidentenpalast?

Selbstverständlich. Wir wollen, dass Mubarak von seinem Thron runterkommt und aufgibt. Er leidet unter Realitätsverlust. Er geht mit Ägypten um, als sei das Land sein Besitz.

Mubarak hat infolge der Proteste Reformen zugesichert und möchte mit der Opposition ins Gespräch kommen. Wird sich die Protestbewegung damit zufrieden geben?

Auf gar keinen Fall. Mit ein paar kosmetischen Änderungen lassen sich die Ägypter nicht abspeisen. Man glaubt Mubarak ohnehin kein einziges Wort mehr. Die Leute wollen mehr, sie wollen eine Systemänderung. Sie fordern ein Ende von Mubaraks Regime.

Die Fernsehbilder legen nahe, dass es sich überwiegend um einen Aufstand von bürgerlichen Kräften handelt und nicht von Islamisten. Wer genau sind die Demonstranten?

Es ist ein Querschnitt der ägyptischen Gesellschaft. Alle nehmen teil und marschieren friedlich nebeneinander: Jung und alt, reich und arm, gebildet und ungebildet. Die Menschen haben ihre Angst vor dem Regime abgelegt. Durch die Proteste wird in Ägypten nichts mehr so sein wie zuvor.

Wie groß ist die Gefahr, dass die Muslimbrüder die von den Zivilisten ausgehenden Aufstände nutzen und sich an die Spitze der Bewegung setzen?

Selbstverständlich gibt es vereinzelt Muslimbrüder, die sich unter die Demonstrierenden mischen. Die Islamisten aber sind in der Minderheit und werden von allen Bürgern sofort zurechtgewiesen, wenn sie ihre Parolen rufen. Sie müssen wissen: Mubarak verkauft dem Westen seit rund 30 Jahren erfolgreich die Illusion, dass er die einzige Alternative zu den Islamisten sei.

Ein Irrtum, wie sich spätestens jetzt herausstellt.

Ein grandioser Irrtum. Es gibt mittlerweile eine neue Genration, die überhaupt nichts mit den Islamisten zu tun haben möchte: die Facebook-Generation. Und diese will Veränderung, Demokratie, Freiheit und Wohlstand. Sie wird sich dieses Mal nicht mit Weniger zufrieden geben.

Wie realistisch ist es, dass Mubarak durch den „Marsch der Million“ noch heute endgültig gestürzt wird?

Das halte ich durchaus für möglich. Noch wird er von den USA und dem Militär gestützt. Sobald aber einer der beiden Mubarak fallen lässt, ist sein Regime Geschichte.

Als es 2009 in Iran breiten Protest gegen Ahmadinedschad und seinen Wahlbetrug gab, ließ er die Demonstranten blutig niederschlagen. Gibt es Anzeichen dafür, dass Mubarak diesem Beispiel folgt, um seinen Kopf zur retten?

Das wäre Mubaraks Todesurteil. Wenn er noch einmal Gewalt sprechen lässt, sorgen die Ägypter dafür, dass er hingerichtet wird. Er wird sich nicht halten können. Früher oder später wird er zurücktreten.

Mohammed el Baradei ist für den Westen das Gesicht der ägyptischen Protestbewegung. Würden die Ägypter ihn als Mubaraks Nachfolger akzeptieren?

Er wäre ein geeigneter Mann. Jeder kann Ägypten besser führen als Mubarak. Aber letztlich wird das ägyptische Volk darüber in freien und demokratischen Wahlen entscheiden.

Die EU-Staaten haben in der Vergangenheit beste Beziehungen zu autokratischen Herrschern wie Ben Ali in Tunesien oder Mubarak in Ägypten unterhalten. Wie beurteilen die Ägypter die Arabien-Politik des Westens?

Es wird hier ganz genau registriert, wie sich Europa verhält. Man kann nicht Demokratie predigen, aber mit Diktaturen ins Bett gehen. Ben Ali etwa wurde in Frankreich jahrelang von Sarkozy hofiert und nachdem er gestürzt wurde, lässt er ihn – wie mutig – nicht nach Paris einreisen. Das ist zutiefst heuchlerisch.

Was sollte die EU jetzt tun, um die demokratischen Entwicklungen in Ägypten zu unterstützen?

Europa erhält gerade die Chance, seine Fehler nicht zu wiederholen. Bundeskanzlerin Merkel & Co. sollten sich endlich einmal auf die richtige Seite stellen, um ihre Glaubwürdigkeit in der islamischen Welt wiederherzustellen. Die europäischen Staaten müssen mehr Demokratie wagen. Und auch die Bürger in Deutschland können etwas tun. Sie sollten Frau Merkel, die ich sehr schätze, einen Brief schreiben: ‚Seien sie nicht heuchlerisch! Tun Sie das, was sie immer predigen! Unterstützen sie die Demokratie! Heute ist der Tag der Wahrheit: Demokratie oder Heuchlerei!‘

Gelten die Proteste auch den USA, die Mubarak seit Jahrzehnten in Milliardenhöhe unterstützt hat?

Zweifelsfrei. Im Kollektivgedächtnis des ägyptischen Volkes wird sich zeigen, wer auf unserer Seite steht und wer nicht. Wer tatsächlich demokratische Verbündete sucht, der sollte jetzt die Proteste unterstützen. Die Angst der USA vor einem Erstarken der Muslimbrüder ist ganz und gar unbegründet. Wir erleben zurzeit, dass die große Mehrheit der Araber Freiheit, Demokratie und Frieden einfordern. Wenn die USA also Mubarak weiterhin unterstützen, opfern sie die Demokratie der vermeintlichen Sicherheit.

Das Interview erschien zuerst auf Cicero Online.

„Der Wedding ist für Juden die Hölle“

Für Arye Sharuz Shalicar war der tägliche Weg zur Schule im Berliner Stadtteil Wedding „ein Spießrutenlauf“. Muslimische Mitschüler lauerten ihm auf und verprügelten ihn, nachdem sie erfahren hatten, dass er und seine Familie iranische Juden sind. Vor zehn Jahren zog er von Deutschland nach Israel, heute ist er Sprecher der israelischen Armee und hat nun ein ebenso verstörendes wie lesenswertes Buch über seine Jugend in Berlin verfasst.

Herr Shalicar, Ihre kürzlich erschienene Autobiographie trägt den Titel „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“. Was hat es auf sich mit diesem Satz?

Das ist eine gängige Redensart in Iran. Meine Eltern können sich noch gut daran erinnern, wie ihnen dieser Satz im Ghetto von Babol hinterhergerufen wurde. In Iran werden Juden seit Jahrhunderten als Menschen zweiter Klasse betrachtet. Deshalb sind sie vor meiner Geburt nach Deutschland gezogen. Sie wollten in der Bundesrepublik ein besseres, von antisemitischen Anfeindungen freies Leben führen.

Haben Ihre Eltern diese Entscheidung rückblickend bereut?

Ja und nein zugleich. Einerseits waren wir in Deutschland viele Jahre außerordentlich glücklich. Wir wohnten zuerst im friedlichen Berliner Multikulti-Stadtteil Spandau, dort wurden wir als Juden akzeptiert und hatten zahlreiche Bekannte. Dann zogen wir in den Wedding, was ein kolossaler Fehler war. In diesem Ortsteil herrschen Zustände, die es rund sechseinhalb Jahrzehnte nach Hitler nicht geben darf.

Was genau änderte sich durch den Umzug in den Wedding?

Erst einmal nicht viel. Nur dass man auf den Straßen keine Deutschen mehr sah, sondern nur noch Türken und Araber. Weil ich jedoch genauso dunkel aussah wie alle Jugendliche im Wedding, habe ich schnell Anschluss gefunden. Alle nahmen an, dass ich wie sie ein Muslim sei.

Bis Sie eines Tages mit einer Goldkette zur Schule gingen, um mit Ihren Kollegen, die alle Halsketten trugen, mithalten zu können. Nur hingen an Ihrer keine arabischen Schriftzeichen, sondern ein großer Davidstern.

Ja, von dem Tag an hat mein bester Freund Mahavir, ein muslimischer Inder, nicht mehr mit mir geredet. Weil alle Juden Todfeinde von Muslimen seien und verrecken müssten, erklärten alle Muslime im Wedding mich zu ihrem Feind. Seitdem war nichts mehr wie zuvor. Mein Leben wurde von einem Tag auf den anderen zu einem Spießrutenlauf. Es war die Hölle.

Inwiefern?

Ich wurde von den muslimischen Jungs gequält, erniedrigt und gedemütigt. Sie versuchten, mich systematisch fertigzumachen. Am schlimmsten war eine Begegnung in einer U-Bahn-Station mit den sogenannten „PLO-Boys“, einer palästinensischen Gang. Mit deren Anführer Fadi hatte ich vor meinem „Outing“ öfters zusammen Basketball gespielt, nun befahl er mir: „Jude, mach das Maul auf!“, stopfte mir Erdbeeren in den Mund und ohrfeigte mich. In meiner Weddinger Zeit wurde ich oft beschimpft, bespuckt und geschlagen, aber den Mund im wahrsten Sinne des Wortes gestopft zu bekommen hat mich mehr traumatisiert als alles andere.

Wie geht ein 13-Jähriger mit so einer massiven körperlichen und seelischen Verletzung um?

Im Gespräch mit meinen Eltern wollte ich unbedingt verstehen, warum ich auf einmal anders gesehen wurde. Ich hatte viele Fragen.

Was haben Ihre Eltern geantwortet?

Mein Vater sagte: „Sharuz, bevor ich anfange, dir Geschichten zu erzählen, um dir verständlicher zu machen, wer oder was du bist, musst du eins im Voraus wissen und es dein ganzes Leben lang behalten: Du bist Jude, und die ganze Welt hasst dich!“ Es klingt komisch, aber bevor er mir das sagte, wusste ich nicht, dass wir Juden sind. Wir haben zwar regelmäßig meine Großeltern in Israel besucht, aber meine Eltern haben mich nie mit etwas Jüdischem konfrontiert.

Würden Sie sagen, dass es diese fortwährenden Anfeindungen im Wedding waren, die Sie zum Juden gemacht haben?

In gewisser Weise ja, denn dadurch habe ich erkannt, dass meine Hauptidentität das Jüdische ist. Bis dahin habe ich mich immer als Berliner gesehen, dessen Eltern aus dem Iran stammen. Durch den Hass meines Umfelds und den Gesprächen mit meinen Eltern aber habe ich gemerkt, dass ich mich geirrt hatte. Das Persische und das Berlinerische waren nebensächlich.


Das Interview erschien, in anderer Version, zuerst auf Cicero Online.

Curved Yellow Fruits

Curved Yellow Fruits + Gloria Swanson, Freitag, 26. November, 19.30 Uhr, ROTTSTR5 Theater, Bochum, Eintritt: 6 Euro

Rund um das Grenzgebiet zwischen Rock, Funk und Jazz bietet die vierköpfige Band dem Zuhörer ein vielfältiges Klangerlebnis. Mal treffen vertrackte Basslinien auf melancholische Vocals, mal lateinamerikanische Rhythmen auf psychedelische Gitarrensounds. Es geht den Musikern aus dem Ruhrgebiet in erster Linie darum, die diversen Einflüsse einem übergeordnetem Konzept zu unterwerfen. Keine lose Ansammlung bewährter Standards, sondern größtmögliche Vielfalt in der Einheit.

Jasmin Tabatabai im Interview: „Der Iran befindet sich in Geiselhaft“

Gestern berichtete Stefan Laurin an dieser Stelle über die von Ahmadinedschad & Co. gefangen gehalten BamS-Journalisten. Ihr Verbrechen? Sie hatten mit dem Sohn der zum Tode verurteilten Sakineh Ashtiani gesprochen und wollten über die drohende Steinigung seiner Mutter berichten. So wie es aussieht, das zeigt nicht zuletzt das unberechenbare Verhalten des Regimes gegenüber den deutschen Journalisten, wird auch der Protest des Westen nicht die Tötung Ashtianis verhindern können. Das meint auch die deutsch-iranische Schauspielerin Jasmin Tabatabai, mit der ich kürzlich über „den religiösen Fanatiker“ Ahmadinedschad, Steinigungen und Fanatismus geredet habe.

Frau Tabatabai, glauben Sie, dass die Proteste des Westens gegen die drohende Steinigung der vermeintlichen Ehebrecherin und Mörderin Sakineh Ashtiani das Regime in Teheran zum Einlenken bringen werden?

Nein, denn Präsident Ahmadinedschad und seine Clique von religiösen Fanatikern machen, was sie wollen. Sie haben spätestens bei den Protesten der Opposition im vergangenen Jahr ihr wahres Gesicht gezeigt. Was hätten sie heute noch zu verlieren? Es ist inzwischen hinlänglich bekannt, dass ihre Politik barbarisch ist.

Warum sollte der Westen dennoch weiterhin gegen die mögliche Steinigung Ashtianis protestieren?

So hilflos und traurig es auch klingen mag: Weil es richtig ist. Denken Sie nur an Sajjad Ghaderzadeh, den Sohn von Ashtiani, der verzweifelt für die Aufhebung der Steinigung seiner Mutter kämpft. Jeder sollte gegen diesen grausamen Akt seine Stimme erheben. In mir steigt Hass auf, wenn ich bloß an die Strafe denke. Die Frauen werden bis zum Hals in die Erde eingegraben. Nach geltendem iranischen Gesetz wirft der Vater oder ein naher Verwandter den ersten Stein. Dann macht die Meute so lange weiter, bis die Verurteilte zu Brei geschlagen wurde. Es ist zum Verzweifeln. Angesichts dieser Lage läuft man Gefahr, irgendwann zu resignieren.

Gilt das auch für die Oppositionsbewegung? In der Vergangenheit gab es immer wieder Proteste, die blutig niedergeschlagen wurden.

Ahmadinedschad und die Basidsch-Miliz haben die Menschen mit Gewalt eingeschüchtert. Der Westen hat trotz seiner ausführlichen Berichterstattung nur einen kleinen Teil dessen gesehen, was die Iraner für ihren Widerstand in Kauf nehmen. Viele sind aus diesem Grund vorsichtiger geworden. Indes: Man kann ein Volk sehr lange, aber nicht ewig unterdrücken. Das zeigt die Geschichte immer wieder. Es gibt dieses Bild von der Glut unter der Asche, das in diesem Fall ganz zutreffend ist. Die Mehrheit der Iraner hasst Ahmadinedschad und das, was er sagt.

Auch seine Drohungen gegenüber dem »Krebsgeschwür« Israel?

Das, was Ahmadinedschad betreibt, ist Politik. Er ist ein religiöser Fanatiker. Sie müssen wissen, dass Iraner Juden nicht hassen.

Mit Verlaub: Der Antisemitismus ist sogar bei Irans Oppositionellen durchaus keine Ausnahme.

Die Juden im Iran haben jahrhundertelang in Freiheit und Frieden gelebt. Es ist mir sehr wichtig, dass diese Botschaft weitergegeben wird. Die Iraner hassen die Juden nicht im Geringsten. Das Land ist von Ahmadinedschad und seiner Verbrecherbande in Geiselhaft genommen worden. Dieser Mann ist ein Wahnsinniger. Das, was er in Bezug auf Juden und Israel sagt, ist nicht das, was die Iraner denken. Die Zustimmung für ihn ist im Land weniger verbreitet, als man gemeinhin glaubt.

Das Interview erschien zuerst in der Wochenzeitung “Jüdische Allgemeine”.

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Literaturnobelpreisträger Günter Grass im Interview: „Die Geldelite verhält sich asozial“

Ich habe kürzlich Günter Grass in Karlsruhe zu einem Interview getroffen. Es war ein ausgesprochen interessantes Gespräch, in dem wir sowohl über Literatur als auch über Politik sprachen. Grass bekannte, dass er sich nach der Veröffentlichung seines jüngsten Buches Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung „leergeschrieben“ fühle. Er denke zwar jedes Mal, dass es sein letztes Buch gewesen sei, „dieses Mal aber ist es, glaube ich, eine von mir zu recht angestellte Vermutung, dass ich nicht mehr die Zeit haben werde, an ein langwieriges episches Konzept heranzugehen.“ Das Ende des Lebens fürchte er aber „überhaupt nicht“. Er habe nie gedacht, dass er einmal 83 Jahre alt werde. „In diesem Alter ist jeder Tag, jedes Frühjahr ein Geschenk.“

Auch der unvermeidliche Thilo Sarrazin und seine Thesen zu integrationsunwilligen Migranten waren ein Thema unseres Gesprächs. Der Nobelpreisträger grenzte sich entschieden von seinem (Noch-) Parteikollegen ab. Vielmehr noch als muslimische Integrationsverweigerer seien die Parallelgesellschaften der Reichen in Deutschland ein gewichtiges Problem. „Sich nach amerikanischem Muster in bewachten Wohnbezirken abzuschotten, dort sein Eigenleben zu führen und die Konten ins Ausland zu verlagern – meines Erachtens ist das asozial.“

(…) Seitdem, Herr Grass, mischen Sie sich ein und ergreifen nach wie vor unermüdlich Partei für die Demokratie. In Grimms Wörter kritisieren Sie zum Beispiel, dass in der Bundesrepublik Grundrechte schwinden und unsere Verfassung zunehmend in Gefahr gerät. Woran genau machen Sie diese Tendenz fest?

In der Verfassung heißt es, dass die vom Volk gewählten Abgeordneten unabhängig sind. Tatsächlich aber verlässt kein wichtiges Gesetz unseren Bundestag, ohne dass die Lobby ihren Einfluss geltend gemacht hätte – sei es die Atom-, Pharma- oder Hotellobby. Diese Einflussnahme beschädigt unsere Verfassung grundlegend. Man darf sich nicht wundern, wenn sich immer mehr Wähler fragen, ob es überhaupt noch Sinn macht, zur Wahl zu gehen und sich mit politischen Prozessen auseinanderzusetzen.

Der politische Diskurs in der Bundesrepublik wird seit mehr als zwei Monaten maßgeblich von Thilo Sarrazins Aussagen über muslimische Zuwanderer bestimmt. Viele Bürger sind ihm dankbar dafür, dass er endlich ein Problem thematisiert habe, das die Politiker zu lange totgeschwiegen hätten. Wie stehen Sie zu den Thesen dieses Sozialdemokraten?

Ich verfolge diese Debatte mit großem Überdruss. Thilo Sarrazins Analyse, warum es mit der Integration nicht klappt, mag zum Teil richtig sein, durch seine biologistischen und vulgärdarwinistischen Einlassungen aber werden sie entwertet. Zudem kann ich im Gegensatz zu Sarrazin nicht erkennen, was problematisch daran sein soll, wenn Einwanderer Teile der Kultur ihrer Eltern behalten.

Das allein wird von Sarrazin nicht als problematisch bezeichnet. Was er beklagt, sind jene 10 bis 15 Prozent Integrationsverweigerer, die in einer Parallelgesellschaft leben.

Diese Ausnahmen von der Regel gibt es, kein Zweifel. Zugleich aber lebt die sogenannte Geldelite Deutschlands in einer Parallelgesellschaft. Sich nach amerikanischem Muster in bewachten Wohnbezirken abzuschotten, dort sein Eigenleben zu führen und die Konten ins Ausland zu verlagern – meines Erachtens ist das asozial.

In Wahrheit also sind es die Superreichen, die – um in Sarrazins Diktion zu bleiben – Deutschland abschaffen?

Ich will diesen Kreisen nicht die Kraft zusprechen, dass sie dazu in der Lage wären. Mir kommt es lediglich darauf an zu sagen, dass auch die Geldelite in einer problematischen Parallelgesellschaft lebt. Es wird mit zweierlei Maß gemessen. Die einseitige Fokussierung auf Integrationsdefizite der Muslime finde ich bedenklich, das unentwegte Beschwören des christlichen Abendlandes unerträglich.

Warum?

Die Geschichte des Abendlandes ist durch und durch blutig. Das ist für uns kein großes Ruhmesblatt. Ohne die Vorarbeit muslimischer Gelehrter wäre die Renaissance in Europa nicht denkbar.

Diese Hochzeit der islamischen Kultur gab es unstrittig, doch seitdem scheint es in vielen Bereichen eine Art Stillstand zu geben…

… und auch unzählige Muslime bedauern, dass sie anders als Europa den Prozess der Aufklärung nicht gehabt haben. Aber wenn wir mit uns ehrlich sind: Ist die Aufklärung bei uns ganz und gar angekommen? In Spanien steht die Trennung von Staat und Religion auf der Kippe, in Polen ebenfalls, und von Italien mag ich gar nicht erst reden. Bevor wir diese Trennung von den Muslimen immer wieder einfordern, sollten wir erst einmal vor der eigenen Tür kehren. Gegenwärtig wird die Integrationsdebatte in einem Ton geführt, den ich unsäglich finde – insbesondere in Bayern.

Sie spielen auf Horst Seehofer an, der einen Stopp muslimischer Zuwanderer forderte, obwohl die Bundesrepublik schon allein aus demographischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen ist.

Ja, und um es ganz deutlich zu sagen: Ich halte Thesen dieser Art für hochgefährlich. Um den Beifall von bestimmten Schichten zu erhalten, bedient Horst Seehofer eine Art von Fremdenfeindlichkeit, die in Deutschland schon immer einen Nährboden hatte. Und die Kanzlerin…

… die Seehofer in seiner Forderung nach einem Zuwanderungsstopp beipflichtete und das Projekt Multikulti für tot erklärte…

… sagt mal dies und mal das. In ihrer Position wäre ein klares Wort notwendig gewesen. Stattdessen richtet sie sich mal nach dem und dann wieder, wenn es ihr gerade nutzt, nach jemandem wie Herrn Seehofer.

Ist das das Dilemma einer Kanzlerin, die sowohl die Forderungen der CSU als auch der FDP berücksichtigen muss, ohne den Markenkern ihrer eigenen Partei zu vernachlässigen?

Nein. Das ist das Dilemma einer Kanzlerin, die über keine Strategie verfügt. Eine solche Konzeptlosigkeit wird früher oder später vom Wähler abgestraft (…)

Das Interview erschien, in anderer Version, zuerst auf Cicero Online.

Nazi Horror Picture Show am Düsseldorfer Schauspielhaus

Wenn den Zuschauer nichts mehr zu erregen, nichts mehr zu verstören und nach all den von Kunstblut, Kotze und Koitus geprägten Inszenierungen des modernen Regietheaters nichts mehr zu schockieren vermag, hilft nur noch eins: Nazis und Juden müssen her!

So oder so ähnlich scheinen deutsche Regisseure zu denken, wenn sie darüber nachsinnen, wie sie mit einer Inszenierung am ehesten auf sich aufmerksam machen können. Denn eines haben die Theatermacher mit der Zeit gelernt: Eine Woyzeck– oder Faust-Aufführung ruft für gewöhnlich nur wenig Resonanz bei Publikum und Medien hervor. Aber die Aufführung eines Stückes, in dem »Heil Hitler« gerufen wird und Juden erschossen werden, kann sich von vornherein großer Aufmerksamkeit gewiss sein. Als etwa der Regisseur Roberto Ciulli vor rund einem Jahr am Mülheimer Theater an der Ruhr Fassbinders antisemitisches Drama Der Müll, die Stadt und der Tod inszenierte, berichtete sogar die Tagesschau über die Premiere. Auf Anhieb waren alle Vorstellungen des finanziell angeschlagenen Hauses ausverkauft.

Diesem Prinzip der kalkulierten Provokation seines Mülheimer Nachbarn folgend, zeigt nun das Düsseldorfer Schauspielhaus Elfriede Jelineks Stück Rechnitz (Der Würgeengel) – und löst prompt einen handfesten Theaterskandal aus. Offenkundig scheint man nicht nur an der Ruhr, sondern auch am Rhein genau zu wissen, welche Knöpfe man drücken muss, um einen Eklat zu produzieren.

Elfriede Jelinek, österreichische Literaturnobelpreisträgerin von 2004, reflektiert in ihrem Stück den Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Der Titel steht für ein Massaker, bei dem im März 1945 in Rechnitz an der österreichisch-ungarischen Grenze am Rande eines rauschenden Festes 180 jüdische Zwangsarbeiter ermordet wurden. Zum Zeitpunkt des von Margit Gräfin Batthyány, einer Enkelin des Stahlmagnaten August Thyssen, veranstalteten alkoholseligen Kameradschaftsabends, zu dem auch HJ-Führer, örtliche NSDAP- und SS-Größen geladen waren, stand die vorrückende Rote Armee bereits 15 Kilometer vor dem Dorf. Gegen Mitternacht bat Franz Podezin, Ortsgruppenleiter der NSDAP, einen Teil der Gäste nach draußen, verteilte Waffen und lud dazu ein, die Zwangsarbeiter zu erschießen. Ob die Gräfin Batthyány mitgeschossen oder »nur« zugeschaut hat, ist bis heute ungeklärt. Die Adelige floh Ende März 1945 in die Schweiz, wo sie 1989 hochbetagt starb, ohne je zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.

Doch Jelinek scheint das an Grausamkeit nicht zu reichen. Sie spannt am Schluss des Stückes einen Bogen von Rechnitz zu dem »Kannibalen von Rotenburg« und zitiert dessen authentischen Dialog mit seinem Opfer. Der damals 39 Jahre alte Armin Meiwes hatte im Jahr 2001 einen Ingenieur aus Berlin mit dessen Einverständnis entmannt, getötet und Teile der Leiche gegessen.

Holocaust plus Kannibalismus: Damit schockt man schlagzeilenträchtig Publikum und Kritik. Wobei die Düsseldorfer Theatermacher ihre Inszenierung als eine Art Erweiterung der historischen Perspektive verstehen. »Wir Nachgeborenen haben uns einen Blick auf die NS-Zeit zurechtgelegt, der mehr oder weniger sagt, der Holocaust ist ein bürokratischer und verwaltungstechnischer Akt gewesen«, sagt Hermann Schmidt-Rahmer, Regisseur der Düsseldorfer Inszenierung. »Und die Jelinek sagt, es ist ein dionysischer Rausch gewesen, in dessen Verlauf Menschen gegessen worden sind.«

Die Premiere vor rund drei Wochen rief jedenfalls tumultartige Publikumsreaktionen hervor (und entsprechend breite Medienberichterstattung). Zahlreiche Zuschauer verließen den Saal noch während des Stücks, andere riefen wütend »Aufhören!«. Bei der zweiten Aufführung einen Tag später bespuckte ein empörter Besucher die Spielleiterin.

Ganz anders bei der Aufführung vergangene Woche. Nichts mehr war von Empörung und Eklat zu spüren. Gebuht, geschimpft und gespuckt hat dieses Mal niemand. In kaum drei Wochen scheint alle Wut verpufft und einer zurückhaltenden Zustimmung gewichen zu sein. Ganz sicher lag das daran, dass die Aufführung diesmal quasi pädagogisch eingebettet wurde. Vor der Inszenierung führte der Dramaturg in die Thematik des Stückes ein. Nach der Vorstellung stellten sich die Schauspieler und die künstlerische Leitung in einem Publikumsgespräch den Zuschauern.

Ungeklärt blieb dabei jedoch die zentrale Frage: Warum stellt das deutsche Theater die Jahre 1933 bis 1945 immer wieder geradezu obsessiv aus der Perspektive der Täter dar? Auch in Jelineks Stück treten die Opfer nicht ein einziges Mal in Erscheinung – und bleiben so das, was sie sind: anonym, stumm, tot.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“.

„Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen“ – ein Fall für die NPD?

Stephan J. Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden, hat für Deutschlands derzeit umstrittensten Sachbuchautor einen Tipp: »Ich würde Herrn Sarrazin den Eintritt in die NPD empfehlen, das macht die Gefechtslage wenigstens klarer und befreit die SPD.« Der (Noch-)SPD-Politker sei ein Populist. Mit seinen »rassistischen Hasstiraden« diffamiere er, …
… biete aber gleichzeitig keine Lösungen an. Auch für Dieter Graumann, den Vizepräsidenten des Zentralrats, sind die Aussagen des SPD-Politikers unannehmbar, vor allem dessen These, »alle Juden teilen ein bestimmtes Gen«. Damit spiele Sarrazin Menschen gegeneinander aus und reduziere sie allein auf ihr Erbgut. »Das ist ein unerträglicher Rekurs auf die Rassentheorien der Nazis.« Der ehemalige Berliner Finanzsenator habe damit »endgültig eine rote Linie überschritten«. Graumann forderte, dass die Bundesbank sich von ihrem Mitarbeiter trennen solle: »Die Meinung von Herrn Sarrazin hat nichts mit der Bundesbank zu tun. Daher sollte sie auch besser nichts mit Herrn Sarrazin zu tun haben.«

Henryk M. Broder verteidigt dagegen den Autor des Buches Deutschland schafft sich ab. »Es ist der erste Fall einer Hexenjagd in Deutschland seit Mitte des 17. Jahrhunderts«, sagte der Journalist der Bild am Sonntag. Er bezweifle, »dass alle die, die Thilo Sarrazin jetzt so voreilig kritisieren, sein Buch überhaupt gelesen haben«. Sarrazins These von einem spezifischen Juden-Gen sei keinesfalls antisemitisch. Der Spiegel-Autor will lieber darüber diskutieren, wie die Bundesrepublik dem Phänomen integrationsunwilliger muslimischer Migranten begegnet.

Eine solche Debatte ist auch dem Rassismusforscher Wolfgang Wippermann wichtig, schließlich gäbe es bei integrationsunwilligen Muslimen häufig antisemitische und islamistische Einstellungen. Doch Sarrazin verhindere mit seinen Thesen die Lösung dieses Problems. Für den Berliner Historiker stellen Sarrazins Thesen vielmehr »Rassismus in Reinform« dar. Wenn dieser über ein jüdisches Gen, Vererbung von Intelligenz und gebärfreudige Muslime, die ihre Dummheit weitergeben würden, polemisiere, sei das biologistisch, kulturalistisch und rassistisch. »In der NS-Zeit glaubte man, Juden an ihren Nasen erkennen zu können. Herr Sarrazin meint da heute wohl weiter zu sein.« Auch der Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, geht mit dem 65-jährigen Buchautor hart ins Gericht. Hier werde »eine Gruppe, egal welche, aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Ethnizität, ihrer Religion kollektiv verteufelt«. Der Frankfurter Publizist Michel Friedman nannte Sarrazin einen »Hassprediger«, den es zu stoppen gelte. »Es kann keine Toleranz mehr für diese Intoleranz geben.«

Uneingeschränkten Applaus erhält der Bundesbanker indes von der rechtsextremen NPD. Sarrazin liege mit seinen Aussagen ganz auf Parteilinie, sagte der Vorsitzende Udo Voigt: »Unsere Aussagen werden damit salonfähiger, und es wird dann auch immer schwieriger, Verurteilungen wegen Volksverhetzung anzustreben«, äußerte er gegenüber dem Fernsehmagazin »Report Mainz«. Sarrazin selbst allerdings wehrt sich gegen diese Art der Vereinnahmung. Bei der Vorstellung seines Buches sagte er an einen Journalisten gewandt: »Wenn Sie einer verabscheuungswürdigen Person begegnen, die behauptet: Die Erde ist rund, bleibt Ihnen nichts übrig, als zu antworten: Du hast recht, aber du bist trotzdem ein Arschloch.«

Nach seinem Interview mit der Welt am Sonntag teilte Sarrazin in einer Presseerklärung bekanntlich mit, dass er sich bei seinen Bemerkungen über ein spezifisches Gen bei Juden lediglich auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse stütze. »Ich bin kein Genetiker«, räumt er zwar ein, gleichwohl ist er überzeugt, dass vieles für die Richtigkeit seiner These spreche. »Aktuelle Studien legen nahe, dass es in höherem Maße gemeinsame genetische Wurzeln heute lebender Juden gibt, als man bisher für möglich hielt.« Und er betont: Mit einem Werturteil habe dies nichts zu tun.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“

Links draußen – Höger, Dierkes, Steinberg & Co.

Neuerdings gelten sie als zu lasch: Linke-Politiker wie Norman Paech, Wolfgang Gehrcke oder Annette Groth, die sich selbst als »israel-kritisch« bezeichnen. Im Umfeld der Partei werden sie beschimpft…

… denn eine seit wenigen Wochen kursierende Unterschriftensammlung mit dem Titel »Menschen- und Völkerrecht sind unteilbar« geht noch weiter und fordert die Einstellung aller Annäherungen der Partei an Israel. Zugunsten einer vermeintlich propalästinensischen Solidarität. Dass im April die Bundestagsfraktion ein Papier verabschiedete, in dem sie sich zum Existenzrecht Israels bekennt und unter anderem das »sofortige Ende des palästinensischen Raketenbeschusses« fordert, bringt die Freunde eines harten Kurses gegen den jüdischen Staat noch mehr in Rage.

Als Initiator des »Menschen-und Völkerrechtspapiers« gilt Thomas Immanuel Steinberg, ein sich seit Jahren im Milieu tummelnder selbsternannter Publizist. Die Parteiprominenz, auch ihr »israelkritischer« Teil, fehlt unter den über 150 Unterschriften fast völlig. Einzig Inge Höger, die Bundestagsabgeordnete, die Ende Mai zur Besatzung der umstrittenen Gaza-Flottille gehörte, hat signiert. Von »Apartheidähnlichen Verhältnissen« in Israel ist die Rede, der Zionismus sei Rassismus und basiere auf dem europäischen Kolonialismus. Daher solle Deutschland keine Waffen nach Israel liefern, und Produkte, die in den besetzten Gebieten oder Ostjerusalem hergestellt werden, dürften nicht nach Europa exportiert werden. Sogar, dass die Palästinenser das Recht hätten, ihren »Befreiungskampf bewaffnet zu führen«, ist da zu lesen. Das gehe »gegen die Repressionsorgane der Unterdrücker«, sagt Mitinitiator Steinberg, der das Papier auf seiner Webseite präsentiert. Wer wen bedroht, ist für Steinberg klar: »Die israelische Seite ist somit Täter, die palästinensische Seite Opfer.« Wolfgang Gehrcke, der als strategischer Kopf der »Israelkritiker« gilt, sieht für Steinbergs Petition hingegen keinen Bedarf: »Das Positionspapier der Fraktion Die Linke ist klar und eindeutig.« Dem Obmann der Partei im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags genügt das: »Deswegen werde ich gegenwärtig keine weiteren Positionspapiere unterzeichnen.«

Bei den als Pro-Israel-Fraktion geltenden Kräften in der Partei bleibt man trotz Steinbergs Kampagne gelassen. Das Papier gebe nur die Meinung einiger weniger Mitglieder der Linkspartei wieder. Nicht mal den Sprung auf Tagesordnungen von Parteiveranstaltungen habe es geschafft, sagt man beim BAK Schalom, dem Bundesarbeitskreis in der Linksjugend, der für die israelfreundlichsten Thesen in der Partei steht. »Die große Mehrheit der Partei vertritt in Bezug auf Israel jene Positionen, die die Fraktion im Bundestag am 20. April in Form des Positionspapiers formuliert hat«, heißt es im BAK. Gleichwohl rüsten die Kräfte auf, die einen Ausverkauf der internationalen Solidarität wittern, wenn Linke israelische Sicherheitsinteressen ernstnehmen. Steinbergs Petition gehört zu dieser Kampagne, auch ein mit viel Aufwand vertriebenes Buch des umstrittenen Duisburger Lokalpolitikers Hermann Dierkes und der Publizistin Sophia Deeg, Bedingungslos für Israel?, gehört dazu. Und abgewickelte DDR-Professoren wie Detlef Joseph tingeln mit Buchtiteln wie Vom angeblichen Antisemitismus der DDR durch die Lande. Der Umstand, dass im Nahen Osten ein jüdischer Staat existiert, löst bei einigen innerhalb und außerhalb der Links-Partei Obsessionen aus.

Nicht zuletzt deswegen sieht Samuel Salzborn, Politologe und Antisemitismusforscher, bei der Partei Die Linke ein »handfestes Antisemitismusproblem«. Zwar finde sich in den Papieren der Steinbergs, Dierkes’ und Josephs ein »Sammelsurium von linksextremen, israelfeindlichen Parolen der letzten Jahrzehnte«, und die Unterzeichner seien oftmals Personen, »die gern wichtig wären – für die sich aber politisch letztlich niemand wirklich interessiert«. Aber, fügt Salzborn hinzu, immer wenn Petra Pau oder der BAK Schalom den Israelhass in ihrer Partei thematisieren, begegnet ihnen eine erstaunlich breite Front des Widerstands.

Der Artikel, den ich zusammen mit meinem Kollegen Martin Krauss von der Wochenzeitung „Jüdische Allgemine“ verfasst habe, erschien zuerst hier.

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Nahostkonflikt erreicht Berliner Villenviertel

Seit mehr als vier Wochen kämpft der Palästinenser Firas Maraghy vor der israelischen Botschaft im noblen Berliner Stadtteil Schmargendorf für Papiere, um mit seiner Tochter nach Ost-Jerusalem reisen zu können. Die Geschichte eines Hungerstreiks.

Firas Maraghy ist erschöpft. Die Wangen des 39-jährigen Palästinensers sind eingefallen, mehr als 15 Kilogramm hat der ohnehin schon schmächtige Mann in den letzten vier Wochen abgenommen. Weil seine Finger vor Hunger zittern, dauert es mehrere Minuten, bis es ihm gelingt, eine Zigarette zu drehen und endlich anzuzünden. Wie in Zeitlupe öffnen und schließen sich seine müden Augen. Nur wenn Maraghy über den Grund seines Hungerstreiks spricht, kehren für einen kurzen Moment Kraft und Entschlossenheit in sein Gesicht zurück. »Ich verlange lediglich das, was mir zusteht – nicht mehr, aber auch nicht weniger«, sagt Maraghy bestimmt und fügt nach kurzem Zögern hinzu: »Für dieses Recht bin ich bereit zu sterben.«

Schon seit Jahrzehnten fühlt sich der in Ost-Jerusalem geborene Mann von den israelischen Behörden ungerecht behandelt. Denn obwohl auch seine Familie seit mehreren Generationen in der Heiligen Stadt lebt, gilt er als staatenlos und besitzt lediglich eine Aufenthaltskarte für das von Israel im Zuge des Sechstagekrieges 1967 eroberte Gebiet. Als die israelische Botschaft ihm dann im April dieses Jahres auch noch die Reisedokumente für seine sieben Monate alte und in Deutschland geborene Tochter Zaynab verweigerte, habe er nicht länger tatenlos bleiben können: »Wie würden Sie reagieren, wenn man Ihnen verbieten würde, mit Ihrer Familie in die Heimat zurückzukehren?«, fragt Maraghy aufgebracht.

Hinzu komme noch ein weiteres Problem, sagt der Friedensaktivist Reuven Moskovitz, der den Palästinenser bei seinem Hungerstreik unterstützt. Wenn Maraghy nicht bis Mai 2011 für mindestens anderthalb Jahre nach Ost-Jerusalem reise, werde er sein Rückkehrrecht verlieren. Deshalb müsse er sich entscheiden, ob er die Frist verstreichen lassen oder ohne Frau und Kind für 18 Monate in Ost-Jerusalem leben will. »Weil beide Entscheidungen schlimme Folgen für ihn hätten und er keinen Ausweg mehr weiß, hat mein Freund aufgehört zu essen«, sagt der Israeli. Die Botschaft in Berlin sowie die Regierung in Jerusalem, so Moskovitz‘ Überzeugung, messe mit zweierlei Maß.

In einer Stellungnahme der Botschaft heißt es, dass Maraghy sich mit seinem Anliegen an die falsche Behörde gewandt habe. Ausschließlich das Innenministerium in Jerusalem könne die Tochter als Einwohnerin Israels registrieren. Und das auch nur dann, wenn er nach Israel zurückkehren würde. Doch das kommt für Maraghy nicht in Frage: »In Israel würde der Fall wie bei so vielen meiner Bekannten jahrelang bei den Behörden liegen.« Es geht ihm nicht zuletzt auch ums Prinzip. »Warum gilt Artikel 13 der Erklärung der Menschenrechte nicht auch für mich und meine Familie?«, fragt er erneut. Ebendiesen Artikel hat seine Frau, die Islamwissenschaftlerin Wiebke Diehl, auf ein Plakat gemalt, das neben Maraghys Liegestuhl steht: »Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.«

Unterdessen erfährt Maraghy immer mehr Unterstützung. So forderte zum Beispiel Fanny-Michaela Reisin von der Internationalen Liga für Menschenrechte am Freitag ein offizielles Signal der deutschen Politik. Nachdem bei Kundgebungen bereits Vertreter der Linkspartei anwesend waren und sich für Maraghy einsetzten, will nun am Montag Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) den Palästinenser in Schmargendorf aufsuchen.

Warmer Tee Selbst der israelische Botschafter in Deutschland, Yoram Ben-Zeev, habe sich kürzlich ausgesprochen höflich mit ihm unterhalten, sagt Maraghy. »Er hat mich vergeblich darum gebeten, wieder etwas zu essen und mich mit meiner Forderung an das israelische Innenministerium zu wenden.« Auch die Anwohner des noblen Villenviertels seien alle sehr nett zu ihm, versichert er. Besonders morgens und abends kommen viele und bringen warmen Tee.

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»Jeder hat sein Bündel zu tragen« Dani Levy im Interview

Seit Donnerstag läuft im Kino Dani Levys neuer Film »Das Leben ist zu lang«. Das Staraufgebot liest sich wie das Who is Who des deutschen Kinos: Veronica Ferres, Udo Kier, Meret Becker, Heino Ferch, Elke Sommer, Gottfried John und Yvonne Catterfeld, um nur die Prominentesten zu nennen. Wenngleich Levy sich mit seiner Tragikomödie ganz und gar verhoben hat (meine Rezension des Films für die „Jüdische Allgemeine“ kann man hier nachlesen), ist ein Interview mit dem in Berlin lebenden Schweizer Regisseur immer wieder ein Highlight.

Herr Levy, warum ist das Leben, wie es in Ihrem neuen Film heißt zu lang?

Das Leben ist zu lang, weil man zu viel Zeit vergeudet und seine Möglichkeiten nicht nutzt. Man könnte jedoch auch sagen: Das Leben ist nicht zu lang, aber die Tage sind zu kurz. In beiden Fällen ist das Leben Tag für Tag komplex und anspruchsvoll.

So wie für Alfi Seliger, die Hauptfigur Ihres Films. Der ist ein Nebbich, wie er im Buche steht. Was reizt Sie an diesen sympathischen, aber ganz und gar lebensuntüchtigen Charakteren, wie sie in Ihren Werken immer wieder zu sehen sind?

Nun, die wirklich legendären und starken Komödienfiguren sind immer Verlierer. Wir identifizieren uns mit ihrem vergeblichen Tun, weil auch wir tagtäglich kämpfen müssen. Jeder hat sein eigenes Bündel zu tragen, jeder von uns hat das, was ich Verliererschatten nenne. Genau dieser Blick auf die Schattenseite interessiert mich, auf bestimmte Art und Weise tragen doch viele von uns einen Nebbich in sich.

Inwiefern steckt auch in Dani Levy ein Nebbich?

Es gibt in meinem Leben immer wieder Phasen existenzieller Verunsicherungen. Ich lebe in einem Spannungsverhältnis zwischen dem, was ich mir wünsche, und dem, was ich tatsächlich erreiche. Ich fühle mich gelegentlich ungemein bedeutungslos, manchmal habe ich das Gefühl, ich bin am falschen Ort zur falschen Zeit. Oder im falschen Film. Ich ziehe aber aus diesen Zweifeln und inneren Kämpfen mein künstlerisches oder kreatives Potenzial.

Ist diese Sicht auf das Leben nicht geradezu kennzeichnend für viele jüdische Künstler?

Es ist kein exklusiv jüdischer Blick, aber der jüdische Film oder die jüdische Literatur ist durchdrungen von der Verliererperspektive. Zudem haben Juden einen natürlichen Zweifel an der Realität. Wir misstrauen dem, was wir vorgegaukelt bekommen. Bin ich wirklich da, wo ich denke, dass ich bin, oder bin ich bloß eine kleine Ameise auf einem riesigen Blatt, über das hinaus noch eine ganz andere Realität existiert?

Die gleichen Fragen stellt sich auch Alfi, als er ahnt, dass er eine Figur in einem Film, also nicht mehr als die Marionette seines Regisseurs ist.

Alfi erkennt, dass sein Schicksal vorbestimmt ist und legt sich mit seinem Schöpfer an. Er nimmt sein Leben in die eigenen Hände. Ich befürchte, das ist das Einzige, was uns übrig bleibt, wenn es uns nicht gut geht. Die Vorstellung, dass wir unsere eigenen Fäden in der Hand haben, finde ich tröstend. Trotzdem glaube ich an eine höhere Ordnung. Wir wissen nicht alles. Mein Ziel war es, einen Film zu drehen, der das Publikum kitzelt und aus seiner passiven Konsumhaltung rausholt.

Film als Axt für das gefrorene Meer in uns?

Sehr poetisch. Schön, wenn Film etwas in uns auslöst.

Das Interview erschien zuerst in der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine