Ich schildere den GAU – Interview mit Leon de Winter

Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter zählt zu den erfolgreichsten Gegenwartsschriftstellern in Europa. Auch als Essayist meldet sich der Sohn niederländischer Juden regelmäßig zu Wort: Den einen gilt er als Verteidiger der Aufklärung, den anderen als ein islamophober Hysteriker, der mit seinen Kommentaren leichtfertig antimuslimische Ängste schürt. Im Interview spricht de Winter über seinen neuen Roman, Israels düstere Perspektiven und die Gefahr durch den Iran.

Herr de Winter, Ihr Roman Das Recht auf Rückkehr ist von Teilen der deutschen Literaturkritik als „israelische Kampfprosa“ und „Manifest der Antiaufklärung“ bezeichnet worden. Was sagen Sie zu dieser Lesart?

Eine Umschreibung wie die zitierte aus der taz ist völliger Unsinn. Offensichtlich gibt es Menschen, die ihre ideologische Brille niemals absetzen. Ja, mein Roman spielt im Israel des Jahres 2024, das nach wie vor von den politischen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern bestimmt wird. Aber ich habe vor allem einen Roman über einen Vater geschrieben, der seinen Sohn verloren hat und mit diesem Verlust nicht weiterleben kann. Es geht um Trauer und Ängste sowie Verluste innerhalb einer jüdischen Familie.

Im Buch ist Israel auf einen Stadtstaat rund um Tel Aviv zusammengeschrumpft. Wie wahrscheinlich ist diese Perspektive?

Es ist der „worst case“, der GAU, den ich in meinem Roman schildere. Es wird hoffentlich nie so weit kommen, aber völlig ausgeschlossen ist es nicht. Ich wollte als Schriftsteller untersuchen, was passieren kann, wenn bestimmte Umstände sich nicht ändern. Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft Israels.

Warum?

In Israel gibt es eine immer größere ultraorthodoxe Gruppe, die sich auf eine ganz andere Weise mit Israel identifiziert als es die säkularen Juden tun. Außerdem ist da eine immer größer werdende arabische Bevölkerung, die sich immer weniger mit Israel verbunden fühlt. Bei diesen drei Gruppen der israelischen Gesellschaft kann man immer weniger die Bereitschaft feststellen, sich mit dem jeweils anderen zu identifizieren und sich als ein Staat zu begreifen. Vor diesem Hintergrund drohen Israel in den kommenden zehn Jahren große Spannungen. Das alles bildet den Hintergrund meiner Geschichte.

In Ihrem Roman heißt es an einer Stelle, die palästinensischen Araber hätten die Juden „mit ihren Gebärmüttern“ besiegt.

Dieser Umstand ist schon längst demografische Realität in Israel. Der große Zuwachs von Menschen in Gasa und im Westjordanland ist einer der Hauptgründe der Spannungen. Wenn eine Mutter vier Söhne in schwierigen Umständen ohne Zukunftsperspektive wie in Gasa hat, dann bekommt jede Gesellschaft eine immense Zunahme von Gewalt.

Das Recht auf Rückkehr ist Ihr bislang pessimistischster und verstörendster Roman.

Offensichtlich wird dieses Buch von den Lesern pessimistischer aufgefasst, als es von mir beabsichtigt war. Eine Geschichte funktioniert immer auf mehreren Ebenen. Es ist eine Warnung vor der Zukunft, deshalb kann es keine heitere Geschichte sein. Wie die meisten meiner Geschichten geht es um Verlust, Trauer und Abschied. Man spürt eine große Trauer beim Abschied von einem Kind. Die Hauptfigur meines Romans bleibt aber trotz aller Verluste noch voll Hoffnung. Ich habe die Zukunft hoffentlich nicht komplett schwarz gemalt.

Immerhin haben Sie in letzter Zeit häufig Ihre Enttäuschung über die Politik Israels zum Ausdruck gebracht. Was kritisieren Sie konkret?

Enttäuschung ist das falsche Wort. Ich verstehe die schrecklichen Grenzen der Möglichkeiten in dieser Region. Ich verstehe, wie schwer es ist, dort zu überleben. Ich verstehe, wie schwierig es ist, mit den Aktivitäten der Nachbarn, die autokratisch oder diktatorisch regiert werden, leben zu müssen. Wie soll man da überleben und was für eine Politik wäre vor diesem Hintergrund angemessen? Die Nachbarn Israels heißen eben nicht Norwegen oder Schweden. Es ist fast unmöglich, wenn man sich die Möglichkeiten der israelischen Politiker, die eigene Moral zu schützen, vor Augen führt.

Sie meinen die Bedrohung durch den Iran?

Ja. Es naht eine große Konfrontation mit dem Iran – auch wenn der Iran gleichzeitig in der Region die größte Hoffnung ist. Sollte die iranische Oppositionsbewegung doch noch erfolgreich sein, würde sich auf einen Schlag die Lage im Nahen Osten ändern. Es bedeutete das Ende der islamistischen Revolutionen und eine große Änderung in der islamischen Welt. Wenn die Opposition aber endgültig scheitert, so wie es aussieht, dann wird das Mullah-Regime in Teheran – und in dessen Gefolge auch Hamas und Hisbollah – weiter radikalisiert. Was das für Israel bedeutet, kann sich jeder denken. Auf dieser Grundlage wollte ich ein Zukunftsbild von Israel entwerfen.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Israel gezielt die Standorte im Iran angreifen wird, an denen Atomwaffen vermutet werden?

Ich bin überrascht, dass es noch nicht passiert ist. Ich hatte es schon vor drei Jahren erwartet, als deutlich wurde, dass der Iran ein Atomprogramm unterhält. Weil die Amerikaner die muslimische Welt nicht weiter provozieren möchten, wird diese Arbeit letztlich an Israel hängen bleiben – auch wenn die sunnitischen Staaten große Angst haben vor einer schiitischen Atombombe. Sollte es so weit kommen, wäre es besser, wenn Israel und Amerika zusammen auftreten. Amerika wird sich entscheiden müssen.

Leon de Winter: Das Recht auf Rückkehr. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes, Zürich 2009, 549 S., 22,90 €

Der französische Simmel

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Der französische Schriftsteller Marc Levy ist ein Phänomen. Seine Romane haben sich bisher weltweit mehr als 17 Millionen mal verkauft. Ob in Europa, Australien, Asien oder in den Vereinigten Staaten – veröffentlicht Levy einen neuen Roman, wird er sofort zum Bestseller. Sogar in Saudi-Arabien lieben die Leser die Geschichten des jüdischen Autors. Und dennoch – oder gerade deshalb? – wird Levy von der Literaturkritik nicht beachtet. Wie geht er damit um? Eine Annäherung.

Marc Levy ist eigentlich ein ausgesprochen umgänglicher Gesprächspartner. Stellt man ihm jedoch die Frage, ob es ihm etwas ausmache, dass die Literaturkritik seine Romane konsequent ignoriert, reagiert er ungehalten. »Die sogenannten Intellektuellen sind Idioten «, sagt der in New York lebende französische Bestsellerautor aufgebracht. »Ich weiß selbst, dass ich nicht der neue Marcel Proust bin. Aber auch ich mache viele Menschen mit meinen Büchern glücklich. Das sollten die Herren vom Feuilleton niemals vergessen.« Nach einigen Sekunden des Schweigens lächelt Levy dann schon wieder versöhnlich und sagt, dass er sich manchmal vorkomme wie der Anfang des Jahres verstorbene Erfolgsschriftsteller Johannes Mario Simmel. Auch der wurde von der Kritik geschmäht, während eine riesige Leserschaft ihn geradezu verehrte.

MILLIONENAUFLAGEN Der Vergleich mit Simmel liegt durchaus nahe. Wie dieser veröffentlicht Levy mit geradezu unheimlicher Regelmäßigkeit einen Bestseller nach dem anderen. Nicht nur in Frankreich, auch in England, den USA, Asien und Deutschland stehen seine Liebesschmöker auf Spitzenplätzen in den Büchercharts. Mittlerweile liegt die Gesamtauflage seiner Werke bei mehr als 17 Millionen verkauften Exemplaren. Dass er dessen ungeachtet in den Literaturbeilagen allenfalls als ein Beispiel für niveaulose Unterhaltungsliteratur erwähnt wird, »daran habe ich mich bis heute nicht gewöhnt «. Umso mehr freut sich der 1961 in Boulogne-Billancourt geborene Verlegersohn über die zahlreichen Zuschriften seiner Leser. »Viele bedanken sich bei mir dafür, dass meine Bücher sie aufmuntern, wenn es ihnen schlecht geht.« Levy möchte den Lesern, so versteht er seinen Auftrag als Schriftsteller, eine Auszeit vom Alltag schenken. Aber die Leser helfen auch ihm. Immer wenn er eine Schreibblockade hat, alles in Frage stellt und mit der Schriftstellerei am liebsten aufhören möchte, wirft er einen Blick in seine Mailbox. »Dann weiß ich wieder, warum ich mich jeden Tag an den Schreibtisch setze und mir Geschichten ausdenke.«

SPÄT BERUFEN Dass er einmal Autor werden würde, daran hatte Levy, bis er fast vierzig Jahre alt war, nie auch nur einen Gedanken verschwendet. Der gelernte Baumeister betrieb mit zwei Freunden ein Architekturbüro in Paris. Trotz großer Erfolge aber begann ihn seine Arbeit immer mehr zu langweilen. »Mir hatte in all den Jahren etwas gefehlt. Ich wollte in gewisser Weise etwas Bleibendes schaffen. « 1998 entstand, hauptsächlich an arbeitsfreien Wochenenden, Levys erster Roman. Seine Schwester Lorraine, eine Filmregisseurin, machte ihm Mut, das Manuskript einem Verlag zu schicken. Nur acht Tage später kam der Anruf des Verlegers, der das Buch nur zu gerne veröffentlichen wollte. Unter dem Titel Solange du da bist wurde der Debütroman millionenfach verkauft und 2005 mit Reese Witherspoon und Mark Ruffalo in den Hauptrollen verfilmt. Solange du da bist erzählt die Geschichte eines Mannes, der in seinem Badezimmerschrank den Geist einer Komapatientin vorfindet und sich Hals über Kopf in die Kranke verliebt. Wie alle Bücher von Levy weist auch dieser Roman nur selten vielschichtige erzählerische Einfälle auf. Im Mittelpunkt aller seiner Geschichten stehen stets zwei Liebende, die erst nach allerlei Schwierigkeiten zueinanderfinden. »Das ist es, was seine Leser so sehr an Marcs Büchern lieben«, weiß Levys deutscher Agent. »Seine Romane haben einen unglaublich hohen Wiedererkennungswert. «

CÉCILIA SARKOZY Bis heute, sagt Marc Levy, habe er es nicht bereut, Schriftsteller geworden zu sein. Das Einzige, was ihn als Autor störe, sei, auf Lesereisen die immer gleichen Fragen beantworten zu müssen. Vor allem belustigt es ihn, dass er seit drei Jahren überall danach gefragt wird, ob er dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy tatsächlich die Frau ausgespannt hat, wie zahlreiche Medien damals zu berichten wussten. »Ich sollte es auf Band aufnehmen und es jedem Journalisten vor dem Interview vorspielen: Ich hatte keinen Sex mit Cécilia Sarkozy«, sagt der Autor lachend und lehnt sich in seinem Stuhl zurück.

Im November kommt eine weitere Verfilmung eines seiner Bücher in die Kinos: Wenn wir zusammen sind. Regisseurin ist Marcs Schwester Lorraine. Die beiden werden den Film in Berlin präsentieren. Wahrscheinlich wird Levy auch dann wieder genervt werden von Fragen über sein Verhältnis zur Literaturkritik – oder zu Cécilia Sarkozy.

Literatur und Jazz: Arwed Fritsch und linked souls zu Gast in Hagen

Als Maler ist der aus Herdecke stammende Künstler Arwed Fritsch bereits seit Jahren bekannt. Und auch mit seinen Rauminstallationen und Plastiken hat der Künstler im Laufe der Jahre auf sich aufmerksam gemacht. Nun tritt der 66-jährige Fritsch auch literarisch in Erscheinung und liest morgen, am 18. September, in Hagen aus seinem noch unveröffentlichten Roman "Jom Sheila". Das Buch spielt zu großen Teilen in der israelischen Wüste und hat – wie nahezu jedes Stück bedeutender Literatur – die Vergänglichkeit des Lebens und der Liebe zum Gegenstand.

Musikalisch begleitet wird der Autor vom Jazzquintett linked souls. Für alle Musikinteressierte ist die aus ganz Nordrhein-Westfalen stammende Band noch ein Geheimtipp. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es nicht lange beim Status des Geheimtipps bleiben wird. Erst kürzlich gewannen die überaus talentierten Musiker den Landeswettbewerb »JugendJazzt«.

Der Eintritt ist frei. Hagen, Minervastraße 47. Beginn ist um 11 Uhr.

György Konrád über Osteuropas Erinnerung an Krieg und Holocaust

 Foto: Flickr

»Entfesselte Erinnerung. Die Auseinandersetzung mit Völkermord, Zwangsarbeit und dem Zweiten Weltkrieg nach 1989« – so hieß eine internationale Konferenz der Stiftung Erinnerung–Verantwortung–Zukunft und der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die vor einigen Wochen in Berlin stattfand. Die Festrede hielt der bekannte ungarische Schriftsteller György Konrád. Am Rande der Konferenz ergab sich – bei Whiskey und Rotwein in einem Café am Potsdamer Platz – die Möglichkeit, mit Konrád über die Erinnerungsformen Osteuropas zu sprechen.

Herr Konrád, mit welchen Gefühlen besuchen Sie als Überlebender des Holocaust diese Konferenz, auf der die Verbrechen an den Juden wissenschaftlich-abstrakt behandelt und die Lebensgeschichten der Opfer nur am Rande thematisiert werden?

Meine Teilnahme an dieser Veranstaltung erscheint mir notwendig, aber auch ein wenig frivol. Dieses Gefühl ist unvermeidlich. Für Menschen, die nicht meine Erfahrungen gemacht haben, ist es naturgemäß etwas anderes. Trauer können wir nur für Menschen empfinden, die wir gekannt und geliebt haben.

Wie haben sich die osteuropäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Judenverfolgung auseinandergesetzt?

Es wurde von den Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg vermieden, über dieses Thema zu sprechen. Man wollte keine Teilung der Gesellschaft riskieren. Es spielte keine Rolle, ob man als Arbeiter Jude, Christ oder Muslim war. Und es gab Antisemitismus. Auch das ein Grund, warum man nicht über die Verbrechen an den Juden sprach.

Haben sich die osteuropäischen Länder nach 1989 ausreichend mit der eigenen antisemitischen Vergangenheit befasst?

Diese Bereitschaft war nicht sonderlich stark ausgeprägt. Das hatte seinen Grund. In der Sowjetunion galt das Wort »Zionist« als Schimpfwort. Es gab natürlich auch nach 1989 Regierungen, die latent antisemitisch eingestellt waren. Und noch heute sprechen Rechtsradikale von der »Achse New York–Tel Aviv«. Aber man kann nicht behaupten, dass es innerhalb des rechten Parteienspektrums nur judenfeindliche Stimmen gegeben hätte. Sicherlich: Einige Politiker haben den Holocaust geleugnet. Aber es gab auch diejenigen, die sich mit den Juden vor dem Hintergrund der Schoa solidarisierten und für sie Verständnis hatten.

Wie beurteilen Sie die deutschen Formen der Erinnerung an die sechs Millionen ermordeten Juden?

Deutschland nimmt seine Geschichte sehr ernst und bekennt sich zur Schuld am Zweiten Weltkrieg. Das schätze ich sehr. Eine solche Bereitschaft, sich mit den eigenen Untaten auseinanderzusetzen, ist in den Ländern der früheren Sowjetunion nur schwer zu finden. Wenn wir ein falsches Bild von der Vergangenheit haben, dann sind wir auch fähig zu anderen Verbrechen.

Wie aktuell die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist, zeigen in diesen Tagen auch Russlands und Polens gegensätzliche Interpretationen des Hitler-Stalin-Pakts. Haben sich beide Länder hinreichend kritisch auch mit der dunklen Seite ihrer Geschichte befasst?

Keines der beiden Länder ist unschuldig. Aber sie sind auch Opfer. Sowohl Russland als auch Polen sagen die Wahrheit, aber beide Staaten verschweigen auch etwas. Es ist für mich immer erfreulich, wenn einzelne Menschen während der Schoa nach dem Satz aus dem Talmud gehandelt haben: »Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt.«

Was ist der Grund dafür, dass in Ihrer Heimat Ungarn der Hass auf Juden in solch bedenklichem Maße zunimmt?

Weil es sie gibt!

 

© Jüdische Allgemeine: 10.September 2009

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Fassbinder in Mülheim: Ein ästhetisches und ethisches Desaster

Als der letzte Satz gesprochen und das Licht auf der Bühne allmählich erloschen war, deutete nichts darauf hin, dass im Mülheimer Theater an der Ruhr soeben eines der umstrittensten Schauspiele der deutschen Theatergeschichte uraufgeführt worden war. Anders als 1985, als im Frankfurter Schauspiel Fassbinders Drama Der Müll, die Stadt und der Tod zum ersten Mal inszeniert werden sollte, gab es dieses Mal keine Proteststürme oder aufgebrachte jüdische Demonstranten, die die Bühne blockierten und die Aufführung verhinderten. Nicht einmal ein Buh-Ruf war zu vernehmen.

Stattdessen setzte, als der Vorhang fiel, begeisterter, minutenlang andauernder Beifall ein. Die Zuschauer – neben Pressevertretern ausschließlich geladene Gäste – riefen Bravo, stampften mit den Füßen und verstärkten ihren Applaus noch einmal hörbar, als Roberto Ciulli, der Regisseur der Inszenierung, die Bühne betrat, sich verbeugte, seinem Publikum gut gelaunt dankte und unzählige Glückwünsche entgegennahm.

TRAVESTIE-SHOW Auch in den meisten Feuilletons war anschließend zu lesen, Ciulli habe eindrucksvolle Bilder für den in der Gesellschaft nach wie vor vorhandenen Antisemitismus gefunden. Geraten Theaterkritiker sonst nicht selten wegen marginaler Detailfragen in Streit, herrschte diesmal weitgehend Einigkeit. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung urteilte, dass Ciullis Inszenierung »eine leidenschaftliche Klage über die Kälte in der Welt« sei. Der Regisseur habe gezeigt, dass Fassbinders Drama in den vergangenen Jahrzehnten »sinnlos« Angst und Wut hervorgebracht habe. Die Welt sprach gar davon, der Zentralrat der Juden in Deutschland habe nicht aus Entrüstung über das Stück dessen Verbot gefordert, vielmehr sei es nur eine Pflichtübung gewesen. Doch keineswegs ohne Grund war Stephan J. Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, nach einem Besuch der Proben der Meinung gewesen, das Schauspiel solle nicht aufgeführt werden, da es die »Charaktere schablonenhaft und mit den üblichen Klischees behaftet« darstelle. Kramers Worte waren noch diplomatisch formuliert. Tatsächlich war Ciullis Aufführung – die schauspielerischen Leistungen der Darsteller ausgenommen – ganz und gar missraten. Sie glich einer geschmacklosen, auf billige, vor allem antisemitische, Kalauer abzielenden Travestie-Show: Eine lustvoll dargebotene Ästhetisierung antisemitischer Tiraden und Stereotype, deren Hintergrund das Geräusch einströmenden Gases und der sich in regelmäßigen Abständen öffnende Ofen von Auschwitz bildete.

AUFKLÄRUNG? Da half es auch nichts, dass das Drama in zwei weitere Stücke von Fassbinder eingebettet wurde und der Judenhass hier im Gewand der Aufklärung daherkam. Ciulli hatte im Vorfeld davon gesprochen, dass sein Stück auf den latenten Antisemitismus in Deutschland aufmerksam machen werde und stellte die kühne Behauptung auf, dass »in jedem von uns ein Antisemit steckt«. Seine Inszenierung sei notwendig, um das zu ändern. Angesichts dieser geschmacklosen, auf billige Effekte setzenden Aufführung eines Provinztheaters wird das wahrscheinlich kaum geschehen. »Es gibt eine moralische Verpflichtung, dass, wann immer man sich diesem ungeheuren Thema Holocaust nähert, das Ergebnis extrem gut sein sollte«, hat der Schriftsteller Daniel Kehlmann vor Kurzem in einem Interview mit dieser Zeitung gesagt (vgl. Jüdische Allgemeine vom 27. August, S. 17). Genau dies ist bei Ciullis Inszenierung nicht der Fall. Der Zentralrat der Juden in Deutschland und die Jüdische Gemeinde Mülheim-Oberhausen-Duisburg hatten in einer gemeinsamen Erklärung darum gebeten, das Theater möge »aus Respekt vor den wenigen Überlebenden des Holocaust und den Millionen von Toten auf die Aufführung verzichten«. Proteste wie weiland in Frankfurt/Main hatte man aber nicht organisieren wollen. Gemeindevorsitzender Jacques Marx sagte, er wolle nicht, dass Mülheim mit dieser Inszenierung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werde. So geriet der vergangene Donnerstagabend zu einem jener verstörenden Momente im deutsch-jüdischen Verhältnis, die einen, wieder einmal, ratlos zurückließen.

AUSVERKAUFT Für das Mülheimer Theater dagegen war es ein rundum gelungener Abend. Ciullis Inszenierung wurde allerorten gefeiert, ARD und ZDF berichteten von der Premiere. Das idyllisch in einem Stadtwald gelegene Schauspielhaus konnte sich anschließend vor Kartenwünschen kaum retten. Die nächsten Vorstellungen sind allesamt ausverkauft.

 

Diese Rezension erschien zuerst am 8.Oktober 2009 in der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung sowie einen Tag darauf auf www.achgut.com

Roberto Ciullli über seine umstrittene Fassbinder-Inszenierung

Am Donnerstag wurde am Mülheimer Theater Fassbinders Schauspiel "Der Müll, die Stadt und der Tod" uraufgeführt. Im vorliegenden Interview, das in den Tagen vor der Premiere geführt und am 24.9.2009 in der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung veröffentlicht wurde, gibt der Regisseur Auskunft über seine viel diskutierte Aufführung.

Herr Ciulli, es gibt starke Proteste gegen Ihre Fassbinder-Inszenierung. Auch der Zentralrat der Juden und die Jüdische Gemeinde Mülheim sehen sich nach einer Voraufführung in ihrer Kritik bestätigt. Bleiben Sie dennoch dabei, "Der Müll, die Stadt und der Tod" zu inszenieren?

Ja. Wir wussten um die Bedenken, die es gegenüber diesem Stück gibt und haben deswegen bereits im Frühjahr die Jüdische Gemeinde in Mülheim kontaktiert und angekündigt, dass wir das Schauspiel im Rahmen eines dreiteiligen Fassbinder-Projekts spielen möchten. Ich nehme die Ängste sehr ernst und glaube, dass sie berechtigt sind. Trotzdem bedauere ich die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Zentralrat der Juden und uns. Wir sind aber nach wie vor überzeugt, dass es richtig ist, dieses Projekt zu realisieren.

Warum?

Im Rahmen des Fassbinder-Projektes werden wir auch "Nur eine Scheibe Brot" aufführen. Das Stück handelt von der Problematik, in einem antisemitischen Klima einen Film über Auschwitz zu realisieren. Der dritte Teil des Projekts ist das Drama "Blut am Hals der Katze", das den Verfall der Sprache auch als Ursache und Folge des Faschismus zeigt. Dieses Projekt bietet die Gelegenheit, auf den durchaus vorhandenen Antisemitismus in Deutschland aufmerksam zu machen. Wer über unseren Versuch urteilt, muss sich mit dieser Inszenierung auseinandersetzen.

Wie soll das funktionieren: mit judenfeindlichen Parolen auf der Bühne Antisemitismus zu bekämpfen?

Es gibt in der Theaterliteratur eine Reihe von Texten, die mit judenfeindlichen Parolen gegen Antisemitismus angehen. Auf der Bühne Antisemitismus aufzuzeigen, zu entlarven und zu bekämpfen, ohne die Figuren antisemitische Phrasen und Klischees aussprechen zu lassen, erscheint fast unmöglich.

Haben Sie Verständnis dafür, dass es Menschen gibt, die so etwas partout nicht hören und sehen wollen?

Ja, Menschen denen solch unvorstellbar Schreckliches angetan wurde, müssen mit dem allergrößten Respekt und der allergrößten Nachsicht behandelt werden. Auch darüber habe ich mir Gedanken gemacht. Doch damit solche antisemitischen Äußerungen nicht mehr gehört werden müssen, und das nicht nur auf der Bühne, machen wir diese Inszenierung. Gäbe es in der Aufführung Anhaltspunkte dafür, dass sie antisemitisch ist, wäre ich der Erste, der sie absetzen würde.

Ihr Theater ist sehr stark im Iran vertreten. Glauben Sie, man würde Ihre Inszenierung in Teheran als ein Schauspiel begreifen, das Antisemitismus demaskiert?

Die Frage ist, von welchem Iran wir sprechen. Ich glaube, dass es auch im Iran genug Intellekt gibt, diese Aufführung als einen Beitrag zur Bekämpfung des Antisemitismus in der Welt zu verstehen und sie aus diesem Grund gutzuheißen. Aber es wäre politisch nicht klug, diese Aufführung im Iran zu zeigen. Die Lust ist gering, dort missverstanden zu werden und Applaus von der falschen Seite zu bekommen.

Bundestagspräsident Lammert im Interview

Foto: Deutscher Bundestag

Nach der Wahl ist vor der Wahl: Bei der Europawahl am 7. Juni hat die CDU jede Menge Stimmen verloren. Als nächster Meilenstein steht die Bundestagswahl im September auf dem Programm. Bundestagspräsident Norbert Lammert im Gespräch mit Ruhrbarone-Autor Philipp Engel über die Weltfinanz- und Wirtschaftskrise, Studiengebühren und die Einbildung, gebraucht zu werden.

 

Herr Bundestagspräsident, Sie haben in Bochum an der Ruhr-Universität studiert und an der Fakultät für Sozialwissenschaft promoviert. Mit welchen Gefühlen denken Sie an Ihre Studienzeit zurück?

Vor allem erinnere ich mich, wie schwer mir zunächst die Entscheidung zwischen einem sozialwissenschaftlichen Studium und einem Musikstudium gefallen ist. Ich habe sehr früh als Schüler sowohl ein ausgeprägtes Interesse an der Musik wie an der Politik entwickelt. Der Versuchung, Musik zu studieren, habe ich dann aber tapfer widerstanden – in der demütigen Einsicht, dass eine hinreichende Begeisterung für das Fach eine nicht ausreichende Begabung auf Dauer nicht würde ersetzen können. Aus meinem Studium habe ich vor allem eines nachhaltig in Erinnerung behalten: dass Idealtypen nur in der Theorie vorkommen, in der Wirklichkeit nicht. Sie dienen geradezu als Folie, um die Unzulänglichkeiten der Praxis umso deutlicher erkennen zu können.

Sehr viele unserer Leser haben aufgrund der Studiengebühren große Probleme, den Spagat zwischen Studium und Finanzierung des Lebensunterhaltes zu meistern. Für Studenten stellt das ein gewichtiges Argument gegen die Wahl der CDU dar. Was entgegnen Sie den Studenten, beispielsweise in Ihrem Wahlkreis, auf Kritik an den Studiengebühren?

Über die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der man hierzulande erwartet, dass die mit Abstand teuerste und zugleich mit Abstand aussichtsreichste Ausbildung allein von der Gemeinschaft der Steuerzahler zu finanzieren sei, kann ich mich nur wundern. Wieso eigentlich soll dem unmittelbaren Nutznießer der akademischen Ausbildung an Hochschulen eine persönliche Beteiligung nicht zumutbar sein – und das ausgerechnet in einem Land, das mit der gleichen Selbstverständlichkeit für seine Kindergärten Gebühren erhebt? Studiengebühren sind notwendig, um die finanzielle Situation der Hochschulen zu verbessern und damit bessere Studienbedingungen zu erreichen. Dass eine qualifi zierte Ausbildung nicht an fehlenden finanziellen Mitteln scheitern darf, versteht sich von selbst. Deshalb setzen CDU und CSU sich auf Bundes- und Landesebene für ein breites Angebot an Studienförderungsprogrammen und Stipendien für Begabte und Bedürftige ein. Im Übrigen hat die große Koalition 2007 das Berufsausbildungsförderungsgesetz (BAföG/Anmerk. d. Red.) novelliert. Die Fördersätze wurden zum Wintersemester 2008/2009 deutlich erhöht, und aufgrund der höheren Freibeträge haben noch mehr Auszubildende einen Anspruch auf Förderung. Union und SPD haben damit eine der umfassendsten Erhöhungen seit Bestehen des BAföG beschlossen.

Inwieweit ist die CDU für Studenten attraktiv?

Ich kann jeden Studenten nur einladen, sich im RCDS (Ring Christlich-Demokratischer Studenten/Anmerk. d. Red) oder in der CDU zu engagieren und genau das für sich selbst heraus zu finden und zugleich einen Beitrag zu den Veränderungen zu leisten, die er/sie selbst für nötig und möglich hält.

Das Jahr 2009 ist ein so genanntes Super-Wahljahr Aus welchen Gründen sollte der Bürger Ihrer Ansicht nach die CDU wählen?

Es gibt viele gute Gründe, CDU zu wählen – sowohl mit Blick auf das Politik- wie das Personalangebot. Entscheidend ist aber, dass Bürgerinnen und Bürger aktiv am politischen Prozess teilnehmen. Das bedeutet zumindest, sich regelmäßig zu informieren und sich eine eigene Meinung bilden. Dieser Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, sollte die Grundlage jeder Wahlentscheidung sein – für welche demokratische Partei auch immer.

Über Jahre hinweg galten auch in der CDU staatliche Eingriffe in die Wirtschaft als schädigend. Die Maxime lautete: Deregulierte Märkte sind die Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg. Nun legt die Weltfinanz- und Wirtschaftskrise das genaue Gegenteil nahe. Trägt die CDU mit ihrem wirtschaftsliberalen Kurs Mitschuld an der Krise?

Was die Neigung zur Deregulierung angeht, hatten wir in allen westlichen Systemen zweifellos einen Trend, der sich von sozialstaatlichen Regulierungen immer mehr entfernte. Die Freisetzung von Eigendynamik wurde begünstigt. In Deutschland war das zwar zu keinem Zeitpunkt so ausgeprägt wie in den angelsächsischen Ländern. Trotzdem hat dieser Trend auch in Deutschland seine Spuren hinterlassen. Ich habe den Eindruck, dass es jetzt, angesichts der Krise, den breiten politischen Willen gibt, die Finanzmärkte national und international zu regulieren. Gleichzeitig warne ich allerdings davor, nun von einem Extrem ins Andere zu verfallen und im Zusammenhang mit der berechtigten Kritik an der Verselbständigung der Finanzwirtschaft die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien zu fordern oder gar Wettbewerb und Globalisierung insgesamt in Frage zu stellen. Die Wiederentdeckung der Unverzichtbarkeit von Politik und staatlichem Handeln in Zeiten der Krise sollte nicht zur nächsten Übertreibung führen, die darin bestünde, nun alle Probleme politisch und durch staatliches Handeln lösen zu wollen.Einen vernünftigen Mittelweg zu finden, das ist unsere Aufgabe.

Infolge der Wirtschaftskrise erfahren sozialistische Ideen gegenwärtig eine Renaissance. In der Gesellschaft gibt es ein Gefühl der Ungerechtigkeit, die Kluft zwischen Arm und Reich nimmt stetig zu. Hat das System des Kapitalismus versagt?

Nein. Die Krise zeigt, dass Wettbewerb ohne Rahmenbedingungen nicht funktionieren kann. Diese Einsicht, dass eine kapitalistische Wirtschaftsordnung keine hinreichende innere Stabilität haben würde, gehört zu den Grundlagen der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Sie war auch einer der Gründe für die Entwicklung eines alternativen Konzeptes einer sozialstaatlich verfassten Wirtschaftsordnung, die sich nach meinem Eindruck bislang weltweit als bestmögliches System einer modernen Wirtschaftsordnung bestätigt hat. Unter dem Eindruck der Weltfinanzkrise ist die Bereitschaft gewachsen, sich auf gemeinsame Grundbedingungen einer Weltwirtschaftsordnung zu verständigen.

Sie sind begeisterter Läufer und haben sogar kürzlich in Bochum am Halbmarathon teilgenommen. Stellt das Laufen für Sie einen Ausgleich zu den langen Diskussionen im Deutschen Bundestag dar?

„Politik ist ein Langstreckenlauf und kein Sprint“, hat Helmut Kohl einmal gesagt. Mir liegt die Langstrecke, auch und gerade in der Politik. Laufen ist für mich unter anderem eine Möglichkeit, meine Umgebung bewusst zu erleben. Mit dem Ruhrgebiet beispielsweise verbinde ich besonders die einmalige Industriekultur. Die Marathon- bzw. Halbmarathonstrecke führt durch diese grandiose Kulisse. Deshalb habe ich mich auf diesen Lauf besonders gefreut. Leider habe ich nur sehr selten Zeit für das notwendige Training. 

Sie treten darüber hinaus gelegentlich auch als Kritiker von Theater-Inszenierungen in Erscheinung und verfassen Rezensionen. Was bedeutet Ihnen das Theater?

Theater ist für mich Entspannung und Inspiration, so wie auch ein Konzertbesuch oder ein paar Stunden mit einem guten Buch.

Was treibt Sie nach über 35 Jahren Berufspolitik noch an?

Die Einbildung, ich würde gebraucht.

 

Das Interview erschien am 23.06.2009 in der Studierendenzeitung der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (pflichtlektüre)

„Das Leben ist und bleibt eine einzige Maloche“

Wie Sisyphos fühlt er sich, sagt SPD-Vorsitzender Franz Müntefering. Das sei aber nicht weiter schlimm, schließlich sei Sysyphos, wie er selbst, ein glücklicher Mensch. Im Interview mit Ruhrbarone-Autor Philipp Engel sprach Müntefering über Studiengebühren, die Linkspartei und die Felsbrocken, die er als SPD-Vorsitzende tagtäglich den Berg hinaufrollt.

 

Herr Müntefering, das Jahr 2009 ist ein sogenanntes Superwahljahr. Welche Gründe gibt es für den Wähler die SPD zu wählen?

Weil wir mit unserer Politik in der Kommune, im Bund und in Europa deutlich machen, dass das soziale und das demokratische unsere politische Linie ist. Nur das ist die richtige Antwort auf die Fragen der Gegenwart. Der Marktkapitalismus ist gescheitert.

Sehr viele unserer studentischen Leser haben aufgrund der Studiengebühren große Probleme, den Spagat zwischen Studium und Finanzierung des Lebensunterhaltes zu meistern. Inwiefern ist die SPD auch für Studenten attraktiv?

Die SPD ist gegen Studiengebühren!

Eine klare Absage der SPD an Studiengebühren?

Ja!

Über Jahre hinweg galt es in der Politik als common sense, dass staatliche Eingriffe in die Wirtschaft schädigend wirken. Die Maxime lautete: Deregulierte Märkte sind die Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg. Die Weltfinanz- und Wirtschaftskrise beweist das Gegenteil. Fühlen Sie sich nun Ihrer Politik und Ihren Warnungen vor den „Heuschrecken“ bestätigt?

Na ja, auch ich habe das alles nicht in seiner ganzen Brisanz gesehen. Aber ich hatte die Ungerechtigkeit gefühlt und unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung der Demokratie beschrieben. Ich glaube, dass ich damals sehr richtig gefühlt habe und das Europa und die Welt für die Finanzwelt internationale Regeln braucht. Nur wenn uns das einigermaßen gelingt, kann man auf nationaler Ebene den Sozialstaat und die Demokratie erhalten. Das Problem ist, dass wir nationalstaatlich denken und handeln. Wir müssen aber Regeln haben und internationale Vereinbarungen treffen. Es braucht Regeln für das, was auf der Welt und in Europa passiert, damit man daraus eine vernünftige, soziale Finanzpolitik machen kann. Dafür müssen wir kämpfen, da müssen wir mehr ran. Es muss sich in dieser Hinsicht einiges verändern. Das Geld darf die Welt nicht regieren, das ist der entscheidende Punkt. Insofern wurde das damals von mir richtig gesehen.

Sie erteilen der in den letzten Jahren vorherrschenden Form des Kapitalismus also eine Absage?

Ja, natürlich. Das ist eine Abart von Marktwirtschaft, ein großer Irrtum gewesen. Es hat sich gezeigt, dass kein Respekt vor dem Menschen vorhanden gewesen ist. Das Geld wurde zu einem Selbstzweck, zu einem Instrument, mit dem man möglichst schnell und möglichst viel verdienen konnte – ohne Rücksicht auf Verlust, Arbeitsplätze, Unternehmen und Menschen. Und das ist nicht gut für die Welt. Man muss die Schlaggeschwindigkeit bremsen. Dazu gehört die Börsenumsatzsteuer. Da müssen wir Sozialdemokraten ran und die Unternehmen kontrollieren. Auch Unternehmen dürfen nicht machen, was sie wollen. Das Geld und die Wirtschaft sind für den Menschen da und nicht umgekehrt. Die Wirtschaft muss wieder diese dienende Funktion haben, sonst wird die Welt keinen guten Verlauf nehmen.

Das hört sich nach vielen Gemeinsamkeiten mit der Linkspartei an. Was trennt Ihre Partei von dieser?

Ich weiß gar nicht, wie die so argumentiert. Ein Unterschied ist folgender: Wenn man in Deutschland Finanzminister wäre, im Jahr 1999 beispielsweise und dann aussteigt und seiner Partei einen Brief schreibt: „Ich steige aus! Mit freundlichen Grüßen, Oscar Lafontaine“, dann ist man ein Feigling, aber keiner der sich einer solchen Herausforderung stellt. Das ist ein gewisser Unterschied zwischen uns und zwischen denen.

Sie sind bekannt für eingängige Urteile wie "Fraktion gut, Partei auch, Glück auf!". Bekannt ist auch Ihre Rede, mit der Sie sich im September 2008 mit „heißem Herz und klarer Kante“ in der Politik zurückmeldeten und in der Sie der SPD "klaren Kompass, Kurs halten" rieten. Woher kommt diese – in der Politik eher unübliche – Vorliebe für Klarheit und Direktheit?

(Denkt lange nach) Sprache ist ein sehr wichtiges, aber begrenztes Instrument. Wenn man lange Sätze macht, werden die Sätze komplizierter. Ich kann immer nur einen Gedanken in einen Satz packen und die meisten Menschen können auch immer nur einen Gedanken verstehen. Also versuche ich es mir und den anderen Menschen einfach zu machen und spreche klar und deutlich. Es funktioniert meistens.

Nur den wenigsten ist hingegen bekannt, dass Sie als junger Mann sogar selber literarische Prosa verfassten und heute noch die Lektüre von, Camus, Kafka und Dostojewski schätzen. Was bedeutet Ihnen die Literatur?

Dass das erst genannte nur den wenigsten bekannt ist, ist hilfreich und nützlich für mich (lacht). Ich habe nie mehr gesehen als acht Jahre Volkshochschule. Aber irgendwann bin ich darauf gekommen, dass da noch was ist und bin zur Literatur gekommen. Kafka war einer der ersten Schriftsteller, der mich fasziniert hat. Camus ist in meinem Leben ein wenig zur Leitfigur geworden. Gute Literatur hat Tiefen, die der politische Alltag und das Leben nicht haben. Und das eigentlich Interessante ist die Frage, wie funktioniert das eigentlich, das Leben, der Mensch und die Gesellschaft. Durch das Lesen erfährt man viel, durch das Lesen lernt man. Diese Neugierde habe ich mir immer erhalten können. Wenn man die nicht mehr hat, muss man aufhören.

Sie hatten einmal gesagt, dass Ihnen Camus’ Interpretation des Sisyphos-Mythos sehr zusagt. Ist es für Sie nach über 40 Jahren Berufspolitik immer noch befriedigend, wie Sisyphos den Felsbrocken tagtäglich den Berg hinaufzurollen, auch wenn der Brocken immer wieder kurz vor dem Gipfel wieder hinabrollt?

Ja klar, unbedingt! Der Mythos des Sisyphos endet mit den Worten: „Man kann sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Das Paradies auf Erden wird es nie geben, den neuen Menschen auch nicht. Das Leben ist und bleibt eine einzige Maloche. Das war es schon immer. Das gilt für die Gegenwart und auch für die nächsten Generationen. Auch wenn sich etwas verändert, im Prinzip bleibt es immer gleich. Du musst immer um Fortschritt kämpfen – zwei Schritte vor, einen Schritt zurück, manchmal aber auch zwei oder drei Schritte zurück. Das ist übrigens dasjenige, was typisch sozialdemokratisch ist und uns von den Konservativen unterscheidet. Die Konservativen sind zufrieden mit der Welt wie sie ist und hoffen auf eine Belohnung im Jenseits. Die Sozialdemokraten wollten das immer schon vorher haben und das bleibt auch unser Prinzip: sich anstrengen, den Stein hochrollen – auch wenn er dann wieder runter rollt.

Das Amt des SPD-Vorsitzenden ist für Sie also nach wie vor, wie sie einmal sagten, das schönste Amt nach Papst?

Ja, diese Beschreibung bleibt. Vorsitzender der SPD zu sein ist ein guter Job.

Letzte Frage: Welche Strategien haben Sie, um lange und mitunter auch langweilige Konferenzen zu bewältigen und Stress abzubauen?

Eigentlich sehe ich ja gar nicht ein, zu laufen, wenn kein Ball vor mir her rollt. Aber ich kann kein Fußball mehr spielen, da breche ich mir alle Knochen dabei. Also gehe ich aufs Laufband und laufe ein paar Kilometer. Ich kann nur empfehlen, das zu machen. Es ist auch ganz nützlich, wenn man älter wird. Bewegung der Beine ernährt das Gehirn!

Herr Müntefering, ich bedanke mich für dieses Gespräch.

 

Das Gespräch wurde kurz vor der Europawahl 2009 in Bochum geführt und erschien zuerst in der Studierendenzeitung der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung.

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„Historischer Moment für den Iran“

Philip Seymour Hoffman gilt als einer der bedeutensten und wandlungsfähigsten Schauspieler seiner Generation. Er spielte bereits an der Seite von Al Pacino, Robert De Niro und Meryl Streep. Als Hauptdarsteller des Films "Capote" erhielt er 2006 einen Oscar. Zur Zeit spielt er in Peter Sellars Othello-Inszenierung am Bochumer Schauspielhaus den Jago. Am Rande der Pressekonferenz hatte Ruhrbarone-Autor Philipp Engel die Möglichkeit, Philip Seymour Hoffman nach seiner Einschätzung der politischen Lage im Iran zu fragen.

 

Herr Hoffman, Sie gelten als ein in hohem Maße an der Politik interessierter Mensch. Was denken Sie, wenn Sie die Bilder von den Iranern sehen, die nach den offenbar gefälschten Wahlen unter Gefährdung ihres eigenen Lebens auf die Straße gehen und für Freiheit und Demokratie demonstrieren?

Ich denke, es ist ein historischer Moment. Sehr, sehr viele Iraner demonstrieren seit einigen Tagen gegen das Regime. Sie wollen eine andere Regierung. Es ist zwar nicht leicht, aus der Entfernung eine Situation wie diese in ihrer ganzen Bedeutung zu erfassen. Aber nach allem, was ich den Nachrichten und den Zeitungen entnehmen kann, vollzieht sich im Iran gegenwärtig eine Revolution. Man kann nur hoffen, dass die Lage sich noch verbessern wird.

Zu Gast bei Walter Kempowski. Eine Erinnerung

Foto: PrimaryMaster

Heute vor anderthalb Jahren verstarb der Schriftsteller Walter Kempowski im Alter von 78 Jahren. Er gilt als einer der bedeutendsten Autoren seiner Generation. Einen Monat vor seinem Tod besuchte unser Autor Philipp Engel die letzte Lesung von Kempowskis in dessen Haus und sprach mit dem Schriftsteller.

Sein einzigartiges Collage-Werk Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch hält auf mehreren tausend Seiten fest, was Menschen – ganz gleich ob Hitlers Leibarzt, Thomas Mann oder KZ-Häftling – während des zweiten Weltkriegs schriftlich festgehalten haben. Es verwundert kaum, dass Kempowski schon als Kind „Archiv“ werden wollte. Er hat unglaubliches geschafft, er hat die Stimmen der Toten, sowohl der Täter als auch der Opfer, vor dem Vergessen gerettet. In seinem Vorwort des Echolots beschreibt Kempowski sein archivarisches Selbstverständnis wie folgt:

Wir sollten den Alten nicht den Mund zuhalten, wenn sie uns etwas erzählen wollen, und wir dürfen ihre Tagebücher nicht in den Sperrmüll geben, denn sie sind an uns gerichtet – die Erfahrungen ganzer Generationen zu vernichten, diese Verschwendung können wir uns nicht leisten. Seit langem bin ich wie besessen von der Aufgabe, zu retten, was zu retten ist, ich habe nie etwas liegenlassen können, ich habe angesammelt, was zu bekommen war, und ich habe alles gesichtet und geordnet.“

15.10.2007 Der Literaturnachmittag bei Walter Kempowski beginnt im Nartumer Hof, einem rustikal-biederen Gasthaus, wie es in wohl jedem Dorf auf dem Land zu finden ist. Es haben sich mehr als 60 interessierte Leser zur Einführung in das Leben und Werk Kempowskis durch die Gästeführerin des Ortes eingefunden. Wenngleich die meisten Anwesenden um die unheilbare Krebserkrankung des Autors wissen, weist sie darauf hin, dass Kempowski auf Grund seines Zustandes nicht allzu lange lesen könne.

Nach etwa einer Stunde findet sich die Gesellschaft in Haus Kreienhoop, Walter Kempowskis Zuhause, ein. Der Autor betritt den großen Salon und liest aus seinem Roman Aus großer Zeit. Kempowski gehört keineswegs zu denjenigen Schriftstellern, deren Werke darunter leiden, wenn sie der Autor selbst vorliest. Er bringt seine Zuhörer mit gewohnt humorvollen Episoden mehrmals zum Lachen. Just in dem Moment als es im Roman um einen Hund geht, betritt Kempowskis Hund den Saal und lässt sich, so scheint es jedenfalls, von jedem Zuhörer persönlich begrüßen.

Man merkt, dass es Kempowski gegen Ende der Lesung zunehmend Schwierigkeiten bereitet, konzentriert zu bleiben. Nun reiche es aber, meint er nach etwa zwanzig Minuten; seine Mitarbeiterin setzt die Lesung fort. Dass es ihm gut tue, vor Publikum zu lesen, sagt mir seine Frau vorher.

Jahrzehntelang fühlte sich Walter Kempowski von der deutschen Literaturkritik durch die Nichtbeachtung seiner Bücher bestraft. Noch heute zürnt er in Interviews, die Kritik habe bewusst einen Bogen um seine Bücher gemacht. Sie sei von jeher politisch links und habe sein Werk von vornherein auf Grund seiner liberal-konservativen Haltung abgelehnt.

Schon seit Längerem hat sich dies geändert: Seine Bücher werden besprochen, die Berliner Akademie der Künste eröffnete jüngst die Ausstellung „Kempowskis Lebensläufe“, Bundespräsident Köhler hob ihn sogar in den Stand der Volksschriftsteller. Die Frage nach dem Wert seiner Arbeiten indes bleibt: Ist das langjährige Ignorieren seines Werkes tatsächlich auf politische Vorbehalte des Literaturbetriebs zurückzuführen, oder war es, ganz simpel, die ungenügende Qualität seiner Bücher?

Kempowskis Romane sind gekennzeichnet durch einen fragmentarischen, unvollendet anmutenden Stil. Nicht selten bedient sich der Romanschriftsteller des Collage-Stils, der auch seiner Chronik des zweiten Weltkriegs Echolot zugrunde liegt. Diese – zugegebenermaßen gewöhnungsbedürftige, aber alles andere als unpassende – Form spiegelt Kempowskis Bestreben wider, das Vergangene in all seinen Facetten möglichst genau zu beschreiben. Im Laufe der Lektüre erzeugt ebenjene Erzählweise eine Stimmung, in die der Leser sich nur allzu gern hineinziehen lässt. Seine überaus unterhaltsamen Alexander-Sowtschick-Romane Hundstage und Letzte Grüße bilden hinsichtlich des Stils eine Ausnahme. In ihnen wird auf klassische Weise erzählt. Der Leser erhält Einblick in die Zweifel, Gedanken und Gefühle des Protagonisten und nimmt somit Anteil an seinem Schicksal. In diesen Romanen treten geschichtliche Aspekte hinter dem Menschen zurück. Kurz: Hier steht das Individuum im Mittelpunkt.

Nach Ende der Lesung habe ich die Möglichkeit, mit Kempowski in kleinem Kreis zu sprechen. Er macht einen müden Eindruck. Die von mir im Vorfeld erarbeiteten Fragen erscheinen mir mit einem Male zu aufdringlich. Ich spreche ihn auf seine umfangreiche Sammlung der Werke Thomas Manns und Thomas Bernhards an, die in seiner Bibliothek zu besichtigen sind. Kempowski ist sofort hellwach. Er sagt, dass Bernhard ein bemerkenswertes Werk hinterlassen habe, als Architekt jedoch eine Niete gewesen sei. Im weiteren Verlauf des Gesprächs reden wir darüber, dass in der ausufernden Sekundärliteratur selbst der Nachbar Bernhards, ein Schweinezüchter, ein Buch mit Erinnerungen verfasst hat. Wir lachen. Nach etwa zehn Minuten verabschiede ich mich. Der Gastgeber ist erschöpft.

Für Wolfgang Koeppen war der Nachruhm eine Farce, die Auflösung des Fleisches die einzige Realität. Wie er, Walter Kempowski, darüber denke, wollte ich ihn eigentlich fragen. In Kempowskis 1969 erschienenem Haftbericht Im Block, der seine Haftzeit im Bautzener Zuchthaus reflektiert, findet sich möglicherweise die Antwort: Wer schreibt, der bleibt, heißt es dort.

Informationen zum Autor: Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Schiffsmaklers und Reeders in Rostock geboren. Als Fünfzehnjähriger wurde er im Februar 1945 als Luftwaffenkurier eingezogen. 1948 wurde er wegen angeblicher Spionage von einem sowjetischen Militärgericht zu 25 Jahren Haft verurteilt. Acht Jahre lang saß er im früheren Zuchthaus Bautzen. Seit 1960 arbeitete er als Dorfschullehrer in Nartum, Niedersachsen. „Im Block. Ein Haftbericht.“, sein erstes Buch, erschien 1969. Es war der erste Band der 1984 abgeschlossenen „Deutschen Chronik“. 2002 erschien der letzte Titel des kollektiven Tagebuchs „Echolot“. Im Mai 2007 eröffnete die Berliner Akademie der Künste die Ausstellung „Kempowskis Lebensläufe“. Kempowski verstarb am 05. Oktober 2007 in Rothenburg.