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„Zollverein soll nicht profanisiert werden“

Journalisten, die Zollverein fotografieren möchten, brauchen eine Fotogenehmigung. Und wer Werbebilder machen will, hat es ganz schwer.

Das Weltkulturerbe Zollverein kam dem Steuerzahler bislang teuer zu stehen: Über 160 Millionen Euro wurden in den Pütt und die alte Kokerei gesteckt. Heute sind Zollverein und der Oktopus Paul  die meistfotografierten Motiv des Ruhrgebiets. Der Doppelbock mit den vier Förderrädern wurde zum Symbol des Reviers. Kaum ein Bericht im Kulturhauptstadtjahr  ohne den Zechenturm.

Nun gibt es Ärger um die Bergwerks-Bilder. Der Deutsche Journalistenverband wirft der Stiftung Zollverein vor, Fotografen abgemahnt zu haben:

Der Deutsche Journalisten‑Verband hat als nicht hinnehmbar kritisiert, dass die Stiftung Zollverein Fotografen abmahnt, die Bilder der Zeche Zollverein auf ihren Internetseiten veröffentlichen. Den Hinweis auf eine angebliche Kostenpflichtigkeit einer Veröffentlichung von Bildern der Zeche, einem der bedeutendsten Industriedenkmäler der Welt, hält der DJV für geradezu grotesk. Es sei paradox, dass man einerseits das Bild einer weltoffenen europäischen Kulturhauptstadt-Region abgeben wolle, andererseits die Panoramafreiheit missachte.

Gegen die Vorwürfe wehrt sich Zollverein-Sprecher Rolf Kuhlmann: „Wir haben bislang niemanden abgemahnt“ sagt er auf Anfrage der Ruhrbarone. Überprüfen lies sich das nicht mehr. Beim DJV war vorhin niemand mehr zu erreichen. Privatfotos, sagt Kuhlmann, seien kein Problem, aktuelle Berichterstattung auch nicht. Ansonsten gilt: „Wer ausserhalb der aktuellen Berichterstattung fotografiert, braucht eine Genehmigung.“ Und die kann dauern. Zollverein empfiehlt eine Bearbeitungszeit von fünf Tagen einzukalkulieren. Das künftig Verstösse gegen die Hausordnung geahndet werden, wollte Kuhlmann nicht ausschließen.

Die Fotogenehmigung erhält man allerdings nicht, wenn man die zentrale Sichtachse für Werbeaufnahmen nutzen will. Was eigentlich eine gute Einnahmequelle für die teure Kulturzeche sein könnte, lehnt Kuhlmann ab: „Zollverein soll nicht profanisiert werden. Das sind wir den Bürgern schuldig, die den Erhalt Zollvereins mit vielen Millionen finanziert haben.“

Werbeaufnahmen können allerdings auch Fotos sein, mit denen Fotografen für sich werben – zum Beispiel mit schönen Zollverein-Bildern.  Die sind genehmigungspflichtig und können  Geld kosten – wenn sie denn erlaubt werden.

Die Betreiber der Website Comcologne können die Position von Zollverein nicht nachvollziehen:

Wenn Journalisten etwa das Weltkulturerbe Kölner Dom fotografieren und mit den Fotos dann ihre Arbeit „bewerben“, wäre das immer auch Werbung für Köln und die Kirche. Die sollte man auch auf Zollverein im Dorf lassen.

Die Restriktionen gelten allerdings nur für Fotos, die auf dem Zollverein-Gelände gemacht werden. Ausserhalb gilt die Panoramafreiheit. Die Stiftung-Zollverein erweist dem Ruhrgebiet mit ihrer Haltung einen Bärendienst. Jedes Foto macht den Pütt bekannter, ist kostenlose PR.

Ein wenig erinnert mich Kuhlmanns Haltung an seine Zeit als Chef von Radio-Emscher-Lippe. Damals war er stolz darauf, dass der Gelsenkirchener Lokalsender kein Schalke-Sender war. Leider war er auch so erfolglos, dass seine Aussenstudios in Bottrop und Gladbeck geschlossen werden mussten.

Ruhrgebiet: Mittelmaß als Religion

Viele Menschen im Ruhrgebiet haben eine Menge Ideen. Und viel Mut. Sie sollten gehen. Das Ruhrgebiet kann mit ihnen nichts anfangen. Sie stören hier einfach nur.

Man kann im Ruhrgebiet hervorragend leben. Wenn man nicht allzu viele Ambitionen hat, zum Beispiel. Oder im öffentlichen Dienst beschäftig ist. Ja, hier ist es grüner als viele denken. Die Mieten sind günstig. Man findet auch in den Innenstädten einen Parkplatz. Es gibt Theater. Die Karten sind nicht teuer. Der Pferdefreund weiß die Reitwege im Ennepe-Ruhr Kreis zu schätzen. Auch ein Kleingarten ist zu haben. Das Reihenhaus in einer mittleren Lage gibt es für knapp 200.000 Euro. Die Kriminalitätsrate liegt auf dem Niveau süddeutscher Kleinstädte. Und der Himmel ist blau.

Ja, man kann hier gut leben. Man muss sich nur an ein paar Dinge gewöhnen. Daran, dass viele wegziehen zum Beispiel. Nach Köln, Hamburg oder München. Es geht hier nicht um einzelne Berufsgruppen, es geht um Menschen, die etwas machen wollen. Es wird ihnen hier nicht verboten. Aber sie werden nicht geschätzt.

Ich war in den letzten Tagen ein paar Mal in dem besetzten Haus in Essen. Gute Leute. Künstler. Nett. Intelligent. Viele Ideen. Im Umgang miteinander waren sie freundlich, rücksichtsvoll. Es waren genau die Leute, von denen es im Ruhrgebiet viel zu wenige gibt. Der DGB hat ihnen mit der Räumung gedroht. Eigentlich ein Skandal. Das Haus steht seit Jahren leer und wird noch Jahre leer stehen. Es ist nicht zu vermarkten. Von der Stadt hat sich keiner für die Besetzer interessiert. Ruhr2010? Nichts. Egal. Von denen erwarte ich es auch nicht anders.

Die Stadt Essen will mit den Künstlern nach einem neuen Raum suchen. Wird sie nicht. Städte im Ruhrgebiet interessieren sich nur für Fördergelder. Gibt es dafür nicht. Das Thema ist der Stadt Essen egal. Die Künstler stören. Wie gut, dass sie kaum einer beachtet hat. Sie werden gehen. Nach Köln, Düsseldorf, Hamburg oder Berlin. Das sollten sie auch tun. Sie haben viel zu viele Ideen. Solche Leute braucht man im Ruhrgebiet  nicht.

Und so Leute gibt es in vielen  anderen Städten im Revier auch. Es sind oft die Klügeren. Die Unbequemen. Sie sind in keiner Parteijugend und nur selten gewerkschaftlich organisiert.  Warum auch? So etwas haben die meisten von ihnen auch nicht nötig. Immer, wenn ich welche von diesen Leuten treffe, werde ich etwas wehmütig. Ich möchte mich von ihnen verabschieden, ihnen alles Gute wünschen obwohl ich sie meistens nicht kenne. Das ging mir in der Goldkante so. Oder auf den sehr feinen Veranstaltungen der Kritischen Kulturhauptstadt, die ich anfangs unterschätzt habe. Ich will mich verabschieden, weil ich weiß, die meisten von ihnen werden gehen. Weil es hier keine Perspektive für sie gibt, später auch keine Jobs und vor allem keine Wertschätzung. Die Mittelmäßigkeit ist die Religion des Ruhrgebiets. Wer sich dem Mittelmaß nicht unterordnen will, sollte gehen. Wie Christian, Arnold, Atta, Sebastian, Tina, Mark, Nicole, Andreas, Frank, Astrid, Martin, Felix, Konrad, Sabine, Christoph, Franz, Philipp…

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Künstlerhaus: Besetzer räumen bis 18.00 Uhr – Ruhr2010 und DGB verpassen Chance

Am frühen Nachmittag beschlossen die Besetzer des DGB-Hauses an der Schützenbahn in Essen, das Haus zu räumen.

Dem Beschluss des Besetzerplenums ging eine lange Diskussion voraus. Auch die Möglichkeit, dass Haus weiter besetzt zu halten und es auf eine Konfrontation mit der DGB eigenen Vermögens- und Beteiligungsgesellschaftgesellschaft ankommen zu lassen, wurde beraten. Schon vorher hatten die Künstler einen großen Teil der Bilder aus den Ausstellungsräumen entfernt. Die Sorge war groß, dass diese bei einer Räumung beschädigt werden könnten.

Ab heute Abend hat der Deutsche Gewerkschaftsbund also wieder ein leerstehendes Haus mehr. In einer Lage, die kaum vermarktbar ist und mit einer Bausubstanz, die renovierungsbedürftig ist. Dann haben die Immobilienexperten der DGB-Tochter wieder Gelegenheit zu zeigen, was sie können. Die Vergangenheit hat bewiesen, dass ihre Fähigkeiten überschaubar sind.

Peinlich war die Nummer aber auch für Gorny und Co.

Engagement für junge Kreative? Null. Die Kulturhauptstadtmacher haben ein weiteres Mal gezeigt, dass sie an der Kulturszene im Ruhrgebiet nicht das geringste Interesse haben.

Ist das eine Überraschung?

Nö.

Da war nichts, da ist nichts und da wird auch nichts mehr kommen.

In jeder anderen Stadt hätten Kulturhauptstadtmacher die Chance ergriffen, die sich ihnen durch die Besetzung bot: In den Dialog mit jungen Künstlern zu treten. Ihnen bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen. Dem DGB klar zu machen, welche Möglichkeiten die  Besetzung bot: Die Wiederbelebung eines heruntergekommenen Quartiers durch junge Künstler. Aber allein das zu verstehen ist eine intellektuelle Leistung, zu der die  Kulturhauptstadtmacher Scheytt und Pleitgen anscheinend nicht in der Lage sind.

Gorny indes hat das sicher verstanden. Aber es ist ihm egal.

Update II: DGB hat Anzeige erstattet – Offener Brief an Dieter Gorny, Fritz Pleitgen und Oliver Scheytt: Helfen Sie den Essener Besetzern!

Update II: Das besetze Künstlerhaus hat die erste Nach überstanden. Nach Angaben der Polizei hat der Besitzer, eine Vermögensgesellschaft des DGB, mittlerweile eine Anzeige gestellt. Innerhalb der nächsten Tage könnte das Haus nun geräumt werden. Es bleibt also noch Zeit für Verhandlungen. Die sollten jetzt allerdings schnell gehen. Auf den offenen Brief, der auch an Dieter Gornys E-Mail-Adresse ging, gab es bislang keine Antwort.

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An die Leitung der Ruhr2010

Sehr geehrte Herren Gorny, Scheytt und Pleitgen,

gestern haben mehrere dutzend Künstler aus dem Ruhrgebiet ein seit drei Jahren leerstehendes Haus des DGB an der Schützenbahn in Essen besetzt. Sie wollen es als Galerie und Künstlerhaus nutzen. Die Vermögensverwaltung u. Treuhandgesellschaft des DGB mit Sitz in Berlin droht den Besetzern über ihre Anwaltskanzlei Heinemann und Partner mit der Räumung.

Wir fordern Sie auf, sich sofort beim DGB dafür einzusetzen, dass die Künstler die Räume weiter nutzen können. Schalten Sie sich als Moderatoren ein und helfen Sie, eine Lösung zu finden.

Die Besetzer machen das, was  Sie  als Verantwortliche der Kulturhauptstadt seit langem propagieren: Sie führen alte Räume einer neuen Nutzung für Kultur zu. Sie vitalisieren einen Teil der Essener Innenstadt. Sie eröffnen neue Perspektiven.

Die Besetzer sind genau die Leute, von denen Sie behaupten, dass das Ruhrgebiet sie dringend braucht, dass es diese Leute nicht verlieren darf: Junge Kreative, die den Mut haben, ihre eigenen Wege zu gehen. Die nicht warten, bis andere ihnen ein subventioniertes Bett gemacht haben, sondern die bereit sind, für Ihre Arbeit ein Risiko einzugehen. Sie haben sich den Raum genommen, von dem sie sagen, er muss an andere Stelle für viel Geld geschaffen werden. Die Besetzer machen Ihren Job!

Wenn irgendetwas von dem, was Sie in den vergangenen Jahren auch in unsere Mikrofone gesagt haben, ernst gemeint war, greifen Sie jetzt zu ihren Handys und nutzen Sie  Ihre Kontakte. Tun sie es nicht, war nichts von dem, was sie gesagt haben, ernst gemeint. Können sie es nicht, haben wir Sie wohl überschätzt.

Stefan Laurin

Für das Blog Ruhrbarone

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A local Hero´s Diary V: Weil es Liebe ist…

Im fünften Teil seiner Local-Hero-Reiher schreibt unser Gastautor Carsten Marc Pfeffer über Liebe.

Freitag, 16. Juli: Ich liege am Strand vor Troja und halte ein kleines Nickerchen in der untergehenden Abendsonne. Im Hintergrund wird gerade die Stadt geplündert. Alles ist ein einziges Holtern und Poltern, und ein wenig erinnert es an die morgendlichen Geräusche der Möbelspedition Uhe, die zuhause in Bochum ihren Fuhrpark direkt unter meinem Schlafzimmerfenster betreibt. Rawumms. Splatatta. – Ich hasse diesen Krieg. Nächtelang bin ich mit meiner Leier durch das Feldlager von Lagerfeuer zu Lagerfeuer geirrt und habe versucht, meine Gefährten umzustimmen. Lasst uns nicht dieses Pferd bauen, hatte ich gesagt. Lasst uns mit den Trojanern lieber Handel treiben und ihre Kultur kennenlernen. Helena will halt lieber bei dem schönen Paris bleiben. Ist doch ihre Entscheidung. Ich glaube gar nicht, dass sie entführt worden ist. Schaut euch doch mal diesen Paris an, und dann werft einen Blick auf Menelaos. Also für mich ist die Sache klar. Lasst uns heute noch Frieden schließen. Ihr wisst, dass ich lesen und schreiben kann. Wenn ihr wollt, dann setze ich heute noch einen Friedensvertrag auf. So hatte ich gesprochen und dazu auf der Leier meine Lieder gespielt. Allein, genützt hat es nichts. Alles was diese Krieger können, das ist saufen, fressen und ficken. Achilleus führt hier das große Wort, nicht ich. Er ist so groß und stark. Ihm fliegen die Herzen der Krieger zu, nicht mir. Und nun ist eben alles zu spät. Das Meer kräuselt sich zu meinen Füßen. Schaumwogen schlagen auf. Und aus dem Schaum hervor erwächst eine Gestalt, die mir sehr vertraut ist. Es ist Silvia und in ihrer Hand hält sie einen Lorbeerkranz. Diesen hebt sie mir nun aufs Haupt. Aber, aua, aua – Silvia, nicht so feste! Das brennt ja wie verrückt! „Du hast es doch so gewollt. Lerne leben damit“, ätzt sie, zeigt mir zum Abschied den Mittelfinger und springt zurück ins Meer. Fuck! Die einzelnen Lorbeerblätter richten sich jetzt auf und beginnen, mir kreisrund auf die Schädeldecke zu pochen. Ahhh.

Unter unsagbarem Kopfschmerz wache ich auf. Meine Güte, was hab ich für einen Kater! Scheiße nochmal. Und dass am Morgen vor dem Gig. Der geht doch in drei Tagen nicht weg! Ahhh – jetzt ganz vorsichtig bewegen, aus dem Bett raus und die Blase leeren. Uh, tut das gut. Den Blick in den Spiegel hätte ich mir sparen können. Diesen ekelhaften Fusselbart kann man mittlerweile kämmen. In endlosen Kreisbewegungen trage ich mir Q10-Anti-Falten-Creme auf meine Augenringe. Langsam kehrt das ursprüngliche Gesicht zurück. Jetzt noch einen Kaffee und eine Selbstgedrehte, dann dürfte es gehen. Aber, uh – langsam heute!

Alles Schlechte dieser Welt

Nochmal die Klamotten von gestern. Warum nicht, ein paar Schübe Axe-Alaska, wird schon gehen. Auf der Straße fällt es mir auf: Zähneputzen vergessen. Ach, egal jetzt. Es muss auch nicht immer alles perfekt sein, scheiß doch auf die Fans. Gieeehh, der ganze Kopf hat sich in Stahlwolle verkapselt, so als würde jemand unter Gewalt versuchen mir eine Mütze aufzuziehen. Dazu ein ganz filigraner Schmerz, der permanent droht, aus dem Ruder zu laufen und dadurch alles zum Einsturz zu bringen. Aber eigentlich auch geil irgendwie. Richtig, ich würde nicht so viel saufen, wenn es nicht so geil wäre. Ein Joint wäre jetzt nicht schlecht, aber ich kiffe ja seit Jahren nicht mehr, und dass tut mir, ehrlich gesagt, ausgesprochen gut. „Du bleibst ja verrückt“, hatte ich mir versprochen. Und recht behalten. Ich kann auch ohne dieses Zeug ganz schön smart und easy durch die Welt gehen. Genauso wie ich jetzt bin, wollte ich als Kind immer sein. Summ, summ, summ – so langsam bekomme ich richtig gute Laune. Und wer muss mir ausgerechnet jetzt am Engelbertbrunnen über den Weg laufen? Tommyboy. Ein Mettbrötchen von Dönninghaus in der Hand. Na, da wird der nächste Gichtanfall ja nicht weit sein…

„Na, du Sack, wat biste so schweigsam?“
„Neulich meinte einer meiner Kritiker, dass ich immer nur reden und reden würde.“
„Oh, das ist gut, hehe.“
„Hehehe.“
„Hehehe.“
„Hehe. Ah. Aua, aua. Hey, pass doch auf, ich hab voll den Kater. Jedes Lachen knallt mir voll in die Schädeldecke rein, hehe. Aua.“
„Hehehe.“
„Hehehe. Aua! Oh Scheiße, Mann, hehe.“
„Hehehe.“

„Ach, Tommyboy…“ – Wie schön es ist, so großartige Freunde zu haben. Zu Tommyboy kann ich sagen: verkleide dich als Fat Freddy und nimm den Zug nach Rotterdam. Dort gehst du in eine üble Hafenspelunke und lässt dich mit deinem Handy von einem der anwesenden Vormittagssäufer fotografieren. Schicke mir dieses Foto als MMS bitte sofort. – Und er macht es, weil er weiß, wie sehr ich Gilbert Shelton und die Freak Brothers mag. Manchmal kündigt er mir die Freundschaft auch auf. Na klar, ich kann es halt manchmal auch wirklich übertreiben. Aber nach ein paar Tagen Schmollen und geschickt inszenierten Demutsgesten meinerseits sind wir wieder Freunde: Partners in crime. Freunde helfen uns, die große Sinnlosigkeit zu ertragen. Was gut ist. Ansonsten läuft die Tagesform nämlich viel zu schnell Gefahr, sich in riskanten Eitelkeiten zu verlieren, mit denen man dann versucht, diese große Sinnlosigkeit aufzublasen. Und das stört das Zusammenleben doch erheblich. „Alles Schlechte dieser Welt, fällt eines Tages wieder auf dich zurück, wenn du es erst einmal in die Welt geschickt hast“, pflegte meine Mamma zu sagen. Ach ja, blabla… Wenn ich doch bloß wüsste, wo Tommyboy hin will. Wir reden nicht, ich folge ihm einfach bei seinem Gang durch die Stadt. Ah, Bankautomat! Ja, das ist gut. Sollte ich auch mal machen: klick, klack – komm, rück die Kohle raus. Die ganze Stadt ist ein Irrenhaus. Viele besoffen schon jetzt. Dazu die Akkordarbeit der Flaschensammler. Wir sehen viele der Großen: Wolfgang Welt, Volker Wendland, Karsten Riedel, Mathias Schamp, Werner Schmitz sowie Uwe Umbruch samt Kind. Das Neugeborene hat wegen der Sonne ein Mützchen auf. „PunkRockBaby“, steht darauf. Aber so schön das auch alles ist, gibt es noch viel zu tun. Außerdem fällt Tommyboy gerade in eine seiner melancholischen Phasen, und ich habe keinen Bock, mich mit runterziehen zu lassen. Also adele, mein Freund, bis später.

Rockpoet unter Strom

In drei Stunden ist der Gig. Jetzt kommt der schwierigste Abschnitt. Ich muss das Set zusammenstellen und es wenigstens einmal über Mikrophon und Verstärker proben. Aber zuvor muss der Kater weg! Ich werde wohl kontern müssen. Was bleibt mir denn anderes übrig? Von hier aus geht der Weg nur noch in die Nervenheilanstalt, nie und nimmer jedoch auf eine Showbühne. Also zieh ich mir ein Fiege rein und dazu einen kleinen Sambuca, damit es schneller geht. Herrlich, wie das den Kopf frei macht. So, dann wollen wir mal. Stegpickup reingeklemmt, Mikro ausgerichtet und los geht es. – Einfach nur schlimm. Nein, geht gar nicht. Über den Verstärker hört man jetzt jeden Verspieler, und ich verspiele mich die ganze Zeit. Hab Akkordfolgen vergessen, komm in keinen Rhythmus rein. Dazu klingt die Gitarre schrecklich muffig, trotz den neuen Saiten. Aber am schlimmsten ist der Gesang. So fremd war mir meine Stimme noch nie. Ich könnte verzweifeln. Jetzt habe ich ein ganzes Set mit neuen Liedern und keines ist vortragbar. Warum habe ich Idiot nur die ganzen Wochen unplugged auf dem Bett geprobt?! Verstärkt haben die Songs halt einen anderen Charakter. Ich habe einen Fehler gemacht und muss nun die Konsequenzen ziehen. Schon wähle ich Kibis Nummer, um alles abzusagen. Hebt nicht ab, der Sack. Mhmm. Vielleicht sollte ich noch einen Song versuchen. Bäh, klingt das bescheuert. Was ist denn das bloß? Also zuerst muss der Hall von der Stimme. Der verträgt sich nicht mehr mit meinem neuen Ausdruck. So. Und jetzt auch mal konzentrierter singen. Warte mal. So, die Klampfe schön tief gehängt, so wie damals beim Punk Rock. Hhmm. Vielleicht sollte ich, während ich singe, an genau das denken, woran ich gedacht habe, als ich den jeweiligen Song geschrieben habe. Habe ich? Ja, weiß ich noch. Dann los. Oh, dieses bescheuerte Mikro! Nerv! Ist denn wirklich kein Bier mehr im Haus? Geht alles gar nicht. Bob Dylan auf dem Newport Folk Festival, 25. Juli 1965. Also dann einen Schnaps halt ohne Bier. So, lass noch mal gucken. Mhmm. Langsam wird es was. Ich muss mehr mit dem Mikro spielen, auch mal dran lecken. Meine verschwitzten Bartharre daran reiben. Schön so. Offenbar brauche ich orale Stimulation für die neuen Songs, hab aber weder Zeit noch Lust großartig nachzuschlagen, weshalb das so ist. Aber… Ja, so könnte es gehen. Es wird. Schicht um Schicht wird die alte Stinkezwiebel jetzt abgetragen, bis das kleine PunkRockBaby zum Vorschein kommt. Oh, Baby. Wie geil! Noch besser als zuvor. Viel besser kann ich nun meine Stimme modellieren. Fange sogar an zu tanzen an und spiele mich in einen sagenhaften Rauschzustand. Als ich auf die Uhr schaue, ist es 19:40 – für 19:30 bin ich im Zacher angekündigt. Ein Blick auf das BlackBerry verrät, dass Kibi schon viermal versucht hat, mich zu erreichen. Dumm gelaufen. Wichtig ist es, jetzt nicht die Ruhe zu verlieren. Extrem wichtig sogar. So ziehe ich mir in aller Ruhe meinen Anzug an, dazu ein schwarzes Hemd, eine rote Krawatte. Putze sogar die Schuhe. Ganz langsam begebe ich mich auf den Weg. Es ist ja nicht weit. Das Wegbier, das ich mir am Büdchen gekauft habe, kann ich halbvoll in die Tonne schmeißen. Denn auf Bochum Total herrscht Glasflaschenverbot. Hach, wenn bloß nicht dieser fiese Schwindel wäre…

„Boah, Pfeffer, was siehst du scheiße aus!“, begrüßt mich Kibi im Zacher, das ich über Umwege durch den Hinterhof betrete, da am Eingang kein Durchkommen mehr ist. An der Theke labbern gerade Renate von Rosen und Dr. Love auf Boris Gott ein. Da bemerkt er mich. Unser Wiedersehen ist sehr warm und herzlich. Du Ginsberg, ich Dylan. Nee, du Ginsberg, ich Dylan, hehe und so weiter. Wunderbar, aber die Nervosität sitzt mir im Nacken. Besser Soundcheck machen. Boris und Renate sind schon auf dem Weg zur Bühne. Ich will hinterher, da bemerke ich sie und bleibe stehen. Die „zachertotal karte“. Mit freundlicher Unterstützung von Pilsner Urquell. Links die Getränke, alles was das Herz begehrt: frisches Fassbier, Sambuca, Weine von Paul Sapin France und auf der anderen Seite ein kleiner Erläuterungstext zur Kopfhörerparty und darunter schließlich mein Name: „BORIS GOTT special guest CARSTEN MARC PFEFFER“ – ich habe es auf die Getränkeliste des Zachers gebracht! Ich könnte vor Glück weinen. Mensch, wenn das der Tommyboy sieht, hehe.

Das Hirn an die Wand gespritzt

Der Erläuterungstext zur Kopfhörerparty. Auf dem Foto: „eine stadt voller affen. sound in silence teil 2. die köpfhörerparty. 15. 16. und 17. juli 2010 ab 22uhr mit dj monkey von rosen.“ Dazu das Bild eines Schimpansen, der Kopfhörer trägt und sich nachdenklich das Kinn reibt. Darunter: „Mehr oder weniger aus der Not wurde die Kopfhörerparty im Zacher bereits im letzten Jahr zum Stadtgespräch. Daher wird auch in diesem Jahr auf laute Boxen und wummernde Bässe verzichtet! Unter dem Motto Sound in Silence präsentiert DJ Monkey von Rosen (aka Renate von Rosen) StadtAffenHits. Gehört wird über Kopfhörer und die eigens für das Wochenende freigeschaltete Radiofrequenz. Kopfhörer und Empfänger können vor Ort ausgeliehen werden. Da die Stückzahl jedoch begrenzt ist, wird geraten sich einfach ein Miniradio oder ein Handy mit Radioempfang und eigene Kopfhörer mitzubringen. Dann einfach die Frequenz 105,9 fm einstellen und das Tanzbein darf geschwungen werden.“ – Geile Sache. „Mehr oder weniger aus der Not geboren“, ist natürlich sehr vornehm ausgedrückt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie das im letzten Jahr ablief. Renate und Kibi hatten ein unglaubliches Programm auf die Beine gestellt. Vier Nächte lang Livemusik und Auflegen. Ja, sogar eine fulminante Burleske-Show war geplant. Als das Ordnungsamt davon Wind bekam, war alles aus. In der Regel sind sie zu Bochum Total kulanter, da kann man vielleicht mal einen kleinen Gig auch ohne Live-Konzession über die Bühne bringen. Aber wehe, sie haben ein Auge auf dich! Dann ist alles aus. Kibi nahm es relativ gelassen, doch Renate soff sechs Nächte durch, nachdem sie das gesamte Programm untersagt hatten, richtig Hardcore. Schrecklich sah er aus: völlig aufgedunsen, Bluthochdruckgesicht und alles voller Pickel. Helmut machte sich die größten Sorgen. Doch dann kam die Wende. Ich weiß noch, es war am frühen Nachmittag zwei Tage vor Bochum Total. Wir hatten alle schon kräftig einen genommen, da hatte Renate einen Geistesblitz: „Wir haun die Scheiße einfach über Kopfhörer raus!“ Schnell zu Saturn, die Sache gecheckt und es funktionierte! Ah, was haben wir gefeiert. Es ging bis in die frühen Morgenstunden. Ich hatte die Gitarre dabei, und Helmut und ich hauten einen Lindenberg nach dem nächsten raus. Der Malocher aus dem Ruhrgebiet und so, hehe. Einfach herrlich. Das hätte auch schlimmer ausgehen können. Ich kenne die Wirte! Ihre unergründliche Melancholie treibt sie mitunter an Orte, vor denen wir uns alle hüten sollten. Könnt ihr euch noch an Ralle erinnern? Hatte seine Kneipe auch in der Brüderstraße. Nachdem sie ihm zum dritten Mal den Laden zugemacht hatten, saß er mit einer Flasche Vodka am Küchentisch. Nach Art der alten Habsburger Offiziere nahm er einen kräftigen Schluck und behielt ihn im Mund, um sicher zu gehen, dass die Schädeldecke auch wirklich aufplatzt. Dann steckte er sich die Walter in den Mund und drückte ab. Hirn spritzte gegen die Wand. So fand ihn dann seine sechsjährige Tochter, die von dem Schuss wach geworden war. Mitten in der der Nacht und Mutti war nicht da, so erzählt man sich. Fürchterlich.

„Pfeffer, wo bleibst du denn?“ Ach ja, der Soundcheck.
„So, Boris ist schon fertig, dann sing mal da ins Mikro. Lauter. Sing weiter.“
„Nimm bloß den Hall raus, Renate.“
„Mach ich doch für dich, Schätzeken. So, jetzt spiel mal.“
„Und?“
„Na ja. Mach noch mal.“
„Und?“
„Wird schon gehen. Kannst sofort anfangen.“
„Aber?“
„Los jetzt, Pfeffer, du Gurkennase. Guck doch mal auf die Uhr!“

Ach, ein Sprung ins kalte Becken. Wie gerne hätte ich mir noch ein Bier geholt. So verschwitzt wie ich jetzt schon bin, ist permanente Flüssigkeitszufuhr unerlässlich. Aber ich kann ja auch über Mikro bestellen. Kommt bestimmt lässig rüber. Ist doch jetzt alles mein: die Leute, der Laden, der Raum und die Zeit. Aber denkste! – Bei Bochum Total rennen die Leute ständig rein und raus. Manche wollen nur auf Klo. Andere wiederrum wollen nur saufen und fühlen sich von der Performance sogar gestört. So beginnen sie lautstarke Gespräche mit ihren Bekannten am anderen Ende der Raumdiagonale, direkt neben meinem Ohr, du dumme Sau. Ich blicke ins Publikum und sehe Tommyboy, wie meistens um diese Uhrzeit, umgeben von vier schönen Frauen. Spöttisch prostet er mir zu. Wird schon gehen. Mir fällt der Trick mit dem Mikrophon wieder ein. Orale Stimulation, dann geht alles von selbst. Ist mir egal, ob Boris da auch noch durch singen muss. Ich lecke an dem Mikro und denke: Man muss zwei Sachen unterscheiden: das Ereignis und die Wirklichkeit. Das Ereignis stellt sich dar, die Wirklichkeit wird generiert. Also los jetzt. F-Dur, kleines Gehacktes, dann über G-Dur: „Es geht nicht mehr weiter, es tut nur noch weh, wenn ich dich und deine Freunde seh in der Innenstadt, wie ihr rumhängt und eure Urteile fällt, dann bin ich fertig mit der Welt. Ich bin viel zu alt und groggy für diesen ganzen Quatsch. Und ich weiß, ihr werdet untergehen und ich überleben, aber irgendwie macht mich das auch nicht viel glücklicher, nicht so wie Tina oder Britta, nicht wie die Songs von Meike Büttner oder das liebe liebe Geld. Kommt, macht mich sexy.“ Großer Applaus. Es läuft und ich bin drin. So mach ich das zwölf Lieder lang. Dann Zugabe und Bühne frei für Boris Gott.

could you be loved

Hui, jetzt aber erst mal raus auf die Straße. Direkt vor dem Zacher: ein paar von diesen Leuten, die mich nicht leiden können, die es jedoch immer wieder in meine Nähe zieht. Sie versuchen mich nicht zu beachten, es fällt ihnen nicht leicht. Die schöne Landtagsabgeordnete hat mich entdeckt. Mit ihren Blicken lotst sie mich auf den Hinterhof. „Hast gut gespielt, Pfeffi“, sagt sie und hält dabei ein Glas Wasser mit Eiswürfeln in der rechten Hand, das ich gebannt anstarre. Jetzt nimmt sie mit ihrer Linken einem Eiswürfel aus dem Glas und steckt ihn mir in den Hemdausschnitt. Verschwitzt wie ich bin, rinnt mir der Würfel entlang an meinem heißen Körper direkt bis in die Unterhose. Von dort fische ich den Eiswürfel wieder hervor und tue ihn zurück in ihr Wasserglas. „Oh“, macht sie. „Komm, lass uns wie Erwachsene benehmen“, sage ich. Dann lasse ich sie stehen und gehe wieder ins Zacher. Denn schließlich will ich ja noch Boris Gott sehen. Ich muss höllisch aufpassen jetzt. Die Leute wissen ja mittlerweile alle, dass ich an diesem Tagebuch schreibe, und lassen sich die sonderbarsten Sachen einfallen, um darin erwähnt zu werden. An all dem ist nur mein übergroßes Ego schuld. Ich hätte niemals beginnen dürfen, mich so zu promoten. Im Augenblick ist es am schlimmsten. Durch den Erfolg droht mein Ego zu platzen. Da geht dann nix mit einfach mal auf dem Hinterhof einen wegstecken. Da muss ich fürchterlich aufpassen. Das würde alles nur noch viel schlimmer machen. Gleich kommen auch noch die harten Alkoholika dazu, weil ich ja heute frei trinken kann. Ich laufe Gefahr zum größten Arschloch des Abends zu werden. Zwar würde ich niemals jemanden etwas zu leide tun, aber in meiner Sprache bin ich wild und böse. Ich hatte doch so viel Liebe in mir aufgebaut. Ich will mir das jetzt nicht selbst kaputt machen. Und die Songs von Boris helfen mir, zu meiner Mitte zurückzufinden. Sie sind Ursprung, Ritual und Sehnsucht. Sie sind die Kraft sowie die Angst und Scham davor. All das wird zehnmal gebrochen und spielt in der Dortmunder Nordstadt. Nach der Brüderstraße der schönste Ort der Welt, an den wir noch oft zurückkehren werden in unseren Gesprächen nach der Show. Wenn das Bier fließt, der Sambuca zum Zitat wird und am Himmel ein Stern zärtlich leuchtet. Ein Stern, der deinen Namen trägt.