Die Waldorfschulen informieren

Heute: Die Johannes-Schule Berlin. Von unserem Gastautor Andreas Lichte.

Musikalisch ohne Waldorfschule: Mozart Foto: Wikipedia

Fünf vor Zehn. Und um Zehn soll der Eltern-Info-Abend zum Thema „Der musische, handwerkliche, künstlerische Unterricht“ an der Johannes-Schule vorbei sein. Da kann man doch mal fragen, oder?

„Ich habe eine Frage zur Musik: Wir haben während meiner Ausbildung zum Waldorflehrer ganz oft Mozart gesungen und ich habe mich immer gefragt, was passiert wäre, wenn Mozart in den Genuss einer Waldorf-Erziehung gekommen wäre … hätten wir dann die Zauberflöte? Wenn für Kinder nur die Pentatonik richtig ist.“

Tick-Tack, Tick-Tack, Tick-Tack. Drei Waldorflehrerinnen suchen eine Antwort. Tick-Tack, Tick-Tack, Tick-Tack. Endlich antwortet nicht die Musik-, sondern die Klassenlehrerin, Heilgart B.*.:

„Mozart war eine Ausnahme. Und ich habe mit meinen Schülern ja auch nicht nur pentatonische Musik gemacht, wir haben auch mal was anderes gesungen.“

 „Wieso soll Mozart denn eine Ausnahme sein? Und wenn die Pentatonik nur eine Alternative wäre, gäbe es doch gar kein Problem. Aber Sie wissen doch genau, dass Rudolf Steiner mit seiner »Jahrsiebtelehre« vorgibt, was für das jeweilige Alter der Kinder richtig ist, und das ist laut Steiner in einem bestimmten Alter  A U S S C H L I E S S L I C H  pentatonische Musik, nichts anderes. Warum sagen Sie das den Eltern nicht?“

„Es ist mir ja selber sehr schwer gefallen, mich an die Pentatonik zu gewöhnen, aber ich habe damit bei den Kindern gute Ergebnisse erzielt …“

Während dieses kleinen Dialoges hat sich im Raum eine schwere Gewitterfront aufgebaut.

„Ihre Fragen tun hier doch gar nichts zur Sache, sind völlig uninteressant!“, donnert es.

„Ich finde die Fragen des Herrn sehr wohl interessant.“

Das kommt von dem Herrn, der vorher zu fragen gewagt hat, ob in der Waldorfschule denn „auch mit Plastik, Styropor, gearbeitet wird, beispielsweise zum Bau von Architektonischem?“

Nun antworte ich ihm: „Dies ist keine Informations- sondern eine Werbeveranstaltung der Waldorfschule. Es wird überhaupt nicht darüber aufgeklärt, dass  A L L E S , was in der Waldorfschule passiert, auf der Anthroposophie Rudolf Steiners beruht. Sie haben vorhin gefragt, ob denn auch Plastik benutzt wird. Natürlich kann mal jemand aus der Reihe tanzen, aber das ist nicht vorgesehen. Was hier vorgeführt wurde, z.B. die Herstellung eines Holzkochlöffels im Werkunterricht, ist ganz fest von Steiner vorgegeben.“

Einundzwanzig … weiter komme ich nicht, der Blitz ist ganz in der Nähe: „Jeder der hier ist, weiss doch, dass dies eine anthroposophische Schule ist, das kann man doch ganz schnell im Internet nachschauen!“

Ich denke: „Was du wohl im Internet gefunden hast … ist doch alles fest in Anthroposophen-Hand, z.B. wikipedia, eine einzige anthroposophische Manipulation“ und sage:

„Ja, aber was bedeutet »Anthroposophie«? Das wird doch überhaupt nicht deutlich. Ist erklärt worden, welche Bedeutung Steiners »Jahrsiebtelehre« für den Unterricht hat?“

„Das hier ist ja nicht die erste Informationsveranstaltung, wenn Sie auf der anderen gewesen wären, dann wüssten Sie, worum es geht.“

„Ich  W A R  beim ersten Info-Abend der Johannes-Schule.“ Soll mal reichen, ich sage nicht „Was Gunhild A. hier letztes Mal »für das Kollegium« gebracht hat, war die reine Volksverdummung.“

„Wenn es Ihnen nicht gefällt, dann können Sie ja gehen, was wollen Sie hier überhaupt?“

„Ich will wissen, wie über die Waldorfschule informiert wird, will einen Artikel darüber schreiben.“

„Ach, dann sind Sie gar kein Vater?!!!“

Der Rest geht im Sturm unter. Ein Waldorfschüler neben mir stellt mir eine Frage. Ich mache „Pssst!“, man will ja nicht unhöflich sein. Und auch nicht riskieren, dass die Waldorf-Anhänger vielleicht doch noch zur Lynch-Justiz greifen. Und gehe.

Ich warte vor der Schule. Der Tabubrecher – „Plastik“ – spricht mich an. Der Herr hatte sogar eine noch weit heiklere Frage gestellt: „Welche Rolle spielen denn die modernen Medien in der Waldorfschule?“ War er nur naiv? „Medien“ – das Fernsehen – sind verboten, sind sie doch des Ahrimans – „Ahriman“: Teufel auf anthroposphisch –, das weiß man doch, wenn man an die Waldorfschule glaubt.

„Die Reaktion war sehr aussagekräftig …“

„Ja“, stimme ich zu. „Sie waren der Einzige, der gute Fragen gestellt hat. Schon unheimlich, wie gross die Zustimmung war …“ Dann versuche ich, auf die Schnelle die größten Lügen anzusprechen:

„Wenn es immer wieder hieß, »Wie neueste Ergebnisse der Hirnforschung bestätigen«, dann ist das totaler Quatsch. Rudolf Steiners esoterische »Menschenkunde«, auf der die ganze Waldorfpädagogik basiert, hat nichts, aber auch rein gar nichts, mit moderner Erziehungswissenschaft geschweige denn mit Hirnforschung zu tun …“

Ich glaube, dieser Herr – wenn er denn ein Vater war – meldet sein Kind nicht an der Johannes-Schule an. Aber vielleicht möchte jemand anders sein Glück versuchen? Die nächste Informationsveranstaltung ist am 20.1.2010, 20 Uhr: „Einführung in die Waldorfpädagogik IV – Der Sprachunterricht an der Johannes-Schule Berlin“

Infos bei: Johannes-Schule Berlin, Bundesallee 35, 10717 Berlin, Telefon 030 – 288 33 7 88,

Zum Autor: Andreas Lichte ist ausgebildeter Waldorflehrer und Grafiker, lebt in Berlin. Er ist Autor kritischer Artikel zur Waldorfpädagogik und Anthroposophie. Er erstellte für die „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“ (BPjM) ein Gutachten zur Indizierung zweier Werke Rudolf Steiners, die fortan nur noch in kommentierter Form erscheinen dürfen.

Glossar
Glossar

(in der Reihenfolge des Auftauchens der Begriffe):

Mozart: Inbegriff des Wunderkindes: Schon im „Kindergarten-Alter“ komponiert Mozart und gibt Konzerte. Hätte er einen Waldorfkindergarten besucht, hätte er nur diese Musik kennengelernt:

Pentatonik: Als Pentatonik (gr. πεντα- penta- „Fünf-“) oder Fünftonmusik bezeichnet man in der Musik Tonleitern, die aus fünf verschiedenen Tönen bestehen und meist keine Halbton-Schritte enthalten, sowie die dazugehörigen Tonsysteme.

Auch für die Pentatonik gilt, was der Erziehungswissenschaftler Prof. Klaus Prange ganz allgemein zur Waldorfpädagogik sagt, „Erziehung zur Anthroposophie“, Seite 86: „In der Tat entsteht aus der Differenz von allgemeiner, öffentlicher Präsentation, die sich der üblichen Vokabeln und Formeln bedient, und dem, was eigentlich damit gemeint ist, der Eindruck, man habe es bei der anthroposophischen Pädagogik mit einer Art Mogelpackung zu tun, die ein sehr eigenwilliges Produkt in einer geläufigen und höchst normalen Verpackung an den Mann zu bringen versucht.“

Was mit der „eigenwilligen“ Pentatonik in der Waldorfpädagogik gemeint ist, ist die Frage: „Wollt ihr die totale Harmonie?“ Oder anders gefragt: „Wollt ihr euer Leben in einem Schlaf-ähnlichen Zustand zubringen?“ Nur werden die Kinder das nicht gefragt. Weil, wie die Musiklehrerin und Eurythmistin auf dem Informationsabend der Johannes-Schule ausführte, es „menschenkundlich“ (d.h. laut Steiner) so ist, „dass sich Kinder erst ab dem 9ten Lebensjahr öffnen, das Herz vorher noch eine Blüte ist“, sprich: den Kindern vorher wesentliche seelische und emotionale Fähigkeiten fehlen, womit wir hier wären:

„Jahrsiebtelehre“:
Rudolf Steiners esoterische Einteilung der Individualentwicklung des Menschen in Abschnitte von 7 Jahren. Neben der „Temperamentenlehre“ der für die Praxis der Waldorfpädagogik folgenreichste Aspekt der esoterischen „Menschenkunde“ Rudolf Steiners.

In der Waldorfpädagogik ist eine viergliedrige Unterteilung in „Jahrsiebte“ üblich:

– von 0–7 Jahre wird der physische Leib entwickelt

– von 8–14 Jahre der Ätherleib

– von 15–21 Jahre der Astralleib

– vom 21 Lebensjahr an wird das „Ich“ ausgebildet, erst dann ist der Mensch ein Mensch, vollwertig.

Das Ergebnis ist ein „Mensch“, der nach dem Baukastenprinzip zusammengesetzt ist. So hölzern und unpädagogisch Steiners Entwicklunglehre daherkommt, so wenig zutreffend ist dafür das beliebte Schlagwort „ganzheitlich“.

Für die Unterrichtspraxis bedeutet die Jahrsiebtelehre, dass der Waldorflehrer nur die Fähigkeiten ansprechen darf, die der Schüler laut Steiner seinem Alter entsprechend auch schon besitzt. Beispiel: Ein Schüler der 1sten bis 8ten Klasse, – der Klassenlehrerzeit, sie ist identisch mit dem 2ten Jahrsiebt –, verfügt noch nicht über einen voll ausgebildeten „Astralleib“ oder gar ein „Ich“. Was soll der Lehrer mit einem so unvollständigen Schüler anfangen? Richtig, er gibt „Frontalunterricht“. Und zwar in seiner extremsten Form: Der Schüler soll nachahmen, nachahmen, nachahmen …

Hören wir zu den Jahrsiebten noch den Anthroposophen Prof. Dr. Wolfgang Schad, der im „Seminar für Waldorfpädagogik Berlin“ als eine „Kapazität der Waldorfpädagogik“ vorgestellt wurde. In „Der Umschwung in der Reifezeit – Lebensprozesse und Seelengeburt“ erklärt Schad, Zitat:

„Es sei eine unendliche Hilfe für die ganze Biographie, wenn dem Kinde und dem Jugendlichen dieser Sieben-Jahre-Rhythmus durch die Pädagogik vermittelt werde. – Er ist also nicht fertig mitgegeben und so diagnostisches Resultat, sondern er ist THERAPEUTISCHE AUFGABE [sic! hervorgehoben auch im Original]. Durch die Abweichungen vom Sieben-Jahre-Rhythmus zeigt das Kind seine karmische Individualisierung. Aber wenn durch Mithilfe der erziehenden Erwachsenen der Anschluß an diesen Sieben-Jahre-Rhythmus wiedergefunden wird, dann kann das individuelle Schicksal wieder mit dem in Beziehung treten, was alle Menschen miteinander verbindet: mit dem Menschheitlichen. Das ist tief karmisch wirkendes Therapeutisches. Diesen Sieben-Jahre-Rhythmus gäbe es nur dann für jeden Menschen in der menschlichen Ordnung, wenn die Widersachermächte Luzifer und Ahriman in die Menschheitsevolution nicht eingegriffen hätten. Führen wir die uns Anvertrauten zum Sieben-Jahre-Rhythmus zurück, so helfen wir ihnen bei der Bewältigung der Gegenmächte gegen alles Menschliche.“

Mit anderen Worten: dem Wolferl (Mozart) hätte die Waldorfpädagogik schon noch die Flauseln ausgetrieben.

„Holzkochlöffel“: Alles in der Waldorfschule wird von Rudolf Steiner vorgegeben, so auch die Aufgabe „Holzkochlöffel“ für den Werkunterricht der 6ten Klasse. Ausgehend von einem rohen Holzklotz wird der Kochlöffel geschnitzt. Daran soll insbesondere das Scheitern gelernt werden: Diese Aufgabenstellung verzeiht keine Fehler.

Ich möchte hier nicht auf den „menschenkundlichen“ Hintergrund eingehen (Glück gehabt, Liebe Leser!), sondern mich an der Praxis orientieren. Frage: Welcher Sechstklässler kann trotz eines Verbotes der modernen Medien in der Waldorfschule noch nicht bei google „Holzkochlöffel“ eingeben? Richtig, die meisten werden es wohl können. Und was finden sie da? „Holzkochlöffel, 34 Cent“. Könnte es sein, dass sich da der ein oder andere fragt, was er 4 Wochen lang getan hat?

„Aber das ist doch ein Unikat, das ist doch ganz was anderes!“

Siehe den Friedhof der Kuscheltiere, Pardon, Friedhof der Schaukelpferde, in der Rudolf Steiner Schule Berlin Dahlem: Der Werklehrer, Herr B., zeigte mir seinen Keller: Dutzende von den Schülern aufgegebene Schaukelpferde … alles Unikate, mühsam von den Schülern gebaut.

Weiterführende Artikel der Ruhrbarone:

 „Wie gut sind Waldorfschulen?“
Erfahrungsbericht einer Mutter

 „Ich würde mein Kind nie an einer Waldorfschule anmelden.“
Eine ehemalige Waldorflehrerin blickt zurück.

„Waldorfschule: Vorsicht Steiner“
Interview mit Andreas Lichte

*Namen geändert

Klimakatastrophe: Donald Bäcker ist der Antihysteriker

Während es in der kommenden Woche wohl richtig kalt wird und in den vergangenen zehn Jahren auch nicht wärmer geworden ist, malt die Berichterstattung über die Klimakonferenz in Kopenhagen apokalyptische Szenarien an die Wand.

Und die müssen immer apokalypischer werden damit, wir auch alle brav unsere Glühbirnen gegen schwermetallbelastete Energiesparlampen eintauschen und jede hahnebüchene Subventionierung der Solarindustrie mitmachen. Und wenn die Szenarien nicht ganz so apokalyptisch ausfallen, wie es für eine so richtig knallige Medienberichterstattung nötig ist, wird mal eben nachgeholfen. Nachdem ich – Jahrgang 64 – eigentlich nichts anderes kenne als dass der Weltuntergang vor der Tür steht, der Planet wahlweise vom Atomkrieg vernichtet wird, zu einer Eiskugel gefriert oder bald die Nordsee zu kochen beginnt, habe ich mir eine gewisse Ruhe angewöhnt. Und ich habe  Menschen schätzen gelernt, die ruhig auftreten, keine Hysteriker sind und nicht die so beliebte Paranoia ausstrahlen. Sicher die Welt geht unter, aber das wird wohl noch ein wenig dauern.

Einer dieser Antihysteriker ist Donald Bäcker. Er ist Meteologe und präsentiert das Wetter im ARD-Morgenmagazin. Und während des Themenschwerpunkts Klimakonferenz im Morgenmagazin präsentiert er immer wieder kleine Informationen zum Klima, die ruhig und sachlich vorgetragen werden. Das Wasserdampf zum Beispiel das wichtigste Klimagas und die Sonne für unser Klima nicht ohne Bedeutung ist. Auf seiner Homepage schreibt Bäcker vorsichtig: "Heutzutage wird  der Klimawandel dramatisiert dargestellt. Allein die Prognose des Wetters für die nächsten Tage kann, je nach Wetterlage, extrem schwierig sein. Nach 5 bis 6 Tagen ist das Chaos bereits so groß, daß die Trefferquote langsam Richtung 50 Prozent (also zum Ratespiel) tendiert. Wenn man noch nicht einmal in der Lage ist die Witterung (siehe oben) für die nächste Jahreszeit zu prognostizieren, wie kommen dann Klimaforscher dazu uns ein Szenario für die nächsten 30 Jahre zu bauen? Die Wetterprognose ist überprüfbar und Meteorologen werden sofort abgestraft (glücklicherweise nur verbal! ) aber wer weiß in 30 Jahren noch was welcher Klimaforscher wann gesagt hat?"

Bäcker ist vor allem skeptisch – und Skepsis ist mir generell lieber als der Verkündung von Untergangsszenarien und Heilsversprechungen.

Ruhrpilot

Das Navigationssystem für das Ruhrgebiet

Der Westen: Lyssas letzter Relaunch?…Pottblog

Der Westen: Aufgeräumter & Professioneller…Gelsenkirchen Blog

Städte: Landesregierung streitet um Finanznot der Kommunen…Der Westen

Bochum: Und wieder ein beschluss zum Konzerthaus…Dirk Schmidt

Unis: Studentenproteste halten an…Süddeutsche

Ruhr2010: Hausaufgaben zu erledigen…Kultiversum

Ruhr2010 II: Gastroportal gestartet…Genussbereit

SPD: Auf einmal gegen Netzsperren…Netzpolitik

Netzpolitik: Union will Fuß in der Tür…Gelsenkirchen Blog

Pop: A Decade under Influence…Coffee & TV

Dortmund: Neuwahlen sind Problem für Verlust-Flughafen…Der Westen

Wirtschaft: Tauschen ohne Geld…Ruhr Digital

 

Werbung


Ruhrpilot

Das Navigationssystem für das Ruhrgebiet

Opel: Bochumer-Werk bis 2014 eingeplant…Der Westen

Ruhr2010: Leistungskurs Ruhrgebiet…Der Westen

Ruhr2010 II: Kulturhauptstädte schaffen Lebensqualität…Welt

NRW: Rüttgers will mehr Patriotismus…RP Online

NRW II: SPD entdeckt Kultur…Der Westen

NRW III: Wittke will Hilfe für Städte…Der Westen

Kunst: Tschernobyl-Ausstellung…Recklinghäuser Zeitung

WAZ: Wenn Borchert früher geht…Medienmoral NRW

WAZ II: Hombach im Zapp-Interview…Zoom

SPD: Interview mit Ge-OB Baranowski…Pottblog

Italien: Blogger gegen Berluscone…Kueperpunk

Klimagipfel: Der Himmel über Kopenhagen…FAZ

Klimagipfel II: Climagate und die Schleusenwärter…Achgut

Iran: Internet und Mobilfunk ausgeschaltet…Tagesspiegel

Iran II: Regime hat Angst vor Studentenproteste…Zeit

Wirtrschaft: Norbert Walter und die Löhne…Weissgarnix

 

 

Bo-alternativ: Der Staatsschutz liest mit!

Seit 10 Jahren gibt es Bo-Alternativ. Rückblickend war es einer der ersten Blog-Gründungen Deutschlands. Und bald kann auch kommentiert werden, verspricht Martin Budich, der Gründer der Seite.

Ruhrbarone: 10 Jahre Bo-alternativ – da gratulieren wir natürlich aus ganzem Herzen. Aber warum habt ihr damals überhaupt ein neues lokales Medium gegründet und warum im Internet und nicht als Papiermagazin?

Martin Budich: Ich war bis zum NATO-Krieg gegen Jugoslawien Mitglied der Grünen und im Bochumer Kreisvorstand für die Webseite der Grünen verantwortlich. Hier haben wir nicht Parteipropaganda gemacht, sondern viele Infos aus der alternativen Szene veröffentlicht. Irgendwann habe ich mal mit dem Webmaster der Bundes-Grünen telefoniert und er erzählte mir, dass die Webseite der Bochumer Grünen unglaublich hohe Zugriffszahlen habe. Ich wusste also, dass es Interesse für eine solche Seite gab. Als ich dann bei den Grünen ausgetreten war, hat mich Horst Hohmeier, mit dem ich schon lange im Anti-Atomplenum und anderen Bewegungen eng zusammengearbeitet habe, motiviert, so eine Seite für die alternative Szene in Bochum weiterzumachen. Als Geschäftsführer seiner Kommunikationsfabrik Pronetics hat er auch gleich angeboten, eine Webseite anzumelden und zur Verfügung zu stellen. Mehrere Bekannte versprachen, das Projekt redaktionell zu unterstützen. Bo-alternativ.de ist also aus diesem Prozess und nicht aus konzeptionellen Überlegungen entstanden. Bo-alternativ.de war als Webseite schon angemeldet, als wir begannen, uns über das Konzept Gedanken zu machen.
 
Habt ihr eine eigene Redaktion oder setzt ihr vor allem die Pressemitteilungen von Initiativen, Parteien und Gruppen online?
    
Wir sind z. Z. eine fünf-köpfige Redaktion. Wir verstehen bo-alternativ.de als Sprachrohr von Initiativen und Gruppen. Wir veröffentlichen ziemlich alles, was sie verlautbaren. Wir suchen nach Berichten über die Szene, wie z. B. den Beitrag der Ruhrbarone über die kritische Kulturhauptstadt-Veranstaltung in der Goldkante oder ein Artikel über eine Demo der Bochumer Antifa-Jugend auf indymedia und machen unsere LeserInnen darauf aufmerksam. Wir veröffentlichen aber auch Erklärungen von Parteien oder Organisationen, von denen wir wissen, dass dies unsere LeserInnen interessiert. Dies gilt insbesondere für die linke Opposition im Rat und für die Gewerkschaften. Sehr häufig ermutigen wir Initiativen Beiträge zu schreiben und sie nicht nur uns sondern auch anderen Medien zu schicken. Für neue Initiativen haben wir eine Presseverteiler erstellt. Wenn wir merken, dass zu einem unserer Ansicht nach wichtigen Thema nichts kommt, recherchieren und schreiben wir selber Beiträge oder fragen unsere MedienpartnerInnen von der BSZ, ob sie das Thema aufgreifen wollen und berichten dann über den BSZ-Artikel. In diesem Moment ist das Verhältnis redaktionell erarbeiteter Beitrage zur bloßen Veröffentlichung von Mitteilungen auf der Startseite exakt 50:50. Im Schnitt schätze ich den Anteil redaktioneller Beiträge aber eher nur auf 30 Prozent. Ein Redaktionsmitglied ist übrigens fast ausschließlich damit beschäftigt, unseren umfangreichen Terminkalender zu aktualisieren.    

Wer liest Bo-alternativ? Seit Ihr eine reines Szenemedium oder werdet ihr auch über die Szene hinaus wahrgenommen?

Wir haben nur wenige harte Fakten über die Zusammensetzung unsere LeserInnenschaft. Der Bochumer Staatsschutz hat in einem Prozess gesagt, dass er morgens als erstes immer bo-alternativ.de liest. Von einem halben Dutzend JournalistInnen weiß ich, dass sie sich bo-alternativ.de als RSS-Feed auf ihr Mobiltelefon schicken lassen. In meinem Bekanntenkreis tuen sich viele die WAZ und die Ruhr Nachrichten nicht als ABO-Zeitung an. Sie lesen taz, Süddeutsche, FR oder Junge Welt. Sie erwarten, dass sie auf bo-alternativ.de über lokal interessante Dinge informiert werden. Aufgrund der IP-Adressen wissen wir, dass die größte Gruppe der LeserInnen im Rathaus sitzt. Die Zahl von insgesamt mehr als 50.000 unterschiedlicher IP-Adressen im Monat, von denen aus bo-alternativ.de angeklickt wird, lässt vermuten, dass wir wahrscheinlich auch über die Szene hinaus wahrgenommen werden. Nichts genaues wissen wir!

Auf Bo-alternativ gibt es keine Werbung. Wie finanziert Ihr Euch?

Die Kosten für den Server, auf dem bo-alternativ.de läuft, betragen weniger als 40 Euro im Monat. Das kann ich mir als Hobby leisten. Richtig teuer sind die Kosten für RechtsanwältInnen und Gerichtskosten. Wir überlegen, ein Spendenkonto einzurichten, damit ich in ein paar Jahren mal in Rente gehen kann und diejenigen, die dann die Verantwortung übernehmen, nicht überlegen müssen, ob sie sich das finanziell leisten können.    

Seit einiger Zeit nutzt ihr die Blog-Software WordPress – Kommentieren kann man bei Euch trotzdem nicht. Warum?

Es war uns zu nervig, ständig die Beiträge von Nazis oder ähnlichen Schreiberlingen zu entfernen. Wir dachten die Rubrik "LeserInnenbriefe" reicht. Aber die Erfahrungen von anderen Webseiten hat uns überzeugt. Die Nervensägen geben bald auf, wenn ihre Beiträge nicht veröffentlicht werden. Die Kommentare sind häufig ein echter Gewinn – manchmal sogar informativer als die eigentlichen Beiträge – und ersetzen gelegentlich einen politischen Diskurs, der an anderen Orten verloren geht. Wir testen gerade, wie die LeserInnenbeiträge am besten direkt im Bezug zu den Artikeln dargestellt werden sollen und werden das in den nächsten Tagen für alle Beiträge freischalten.
 
Ihr habt ja häufiger – Stichwort Emily – Ärger mit der Bochumer Polizei. Wäre das in jeder Stadt genau so oder gibt es eine besondere Bochumer Linie?

Entscheidend ist für uns weniger das Verhalten der Polizei als vielmehr das Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Die politische Abteilung der Staatsanwaltschaft definiert ihre Position in einer eigentümlichen Äquidistanz zu links und rechts. Wenn dann Nazi-Aufmärsche in Bochum stattfinden und dabei augenfällige Straftaten verübt werden, die sie verfolgen muss, dann sucht sie auch nach Vergehen bei den GegendemonstrantInnen. Wenn da aber auch gar nichts zu finden ist, dann weicht sie ins Virtuelle aus. Bo-alternativ.de ist für die Staatsanwaltschaft das Symbol der Linken in Bochum, an dem sie sich abarbeitet. Im laufenden "Torten-Prozess" (Kein Zuckerschlecken für Nazis!) wurde z. B. nur gegen bo-alternativ.de ermittelt und Anklage erhoben. Das Plakat war Hunderte Male in Bochum geklebt worden, dutzende Webseiten hatten das Motiv übernommen. Es war überdeutlich, dass wir es nur dokumentierten. Selbst als der Prozess mit einem Freispruch endete und dort auch der Prozessvertreter der Staatsanwaltschaft – der allerdings nicht aus der politischen Abteilung kam – für Freispruch plädiert hatte, gab die Politabteilung der Staatsanwaltschaft keine Ruhe und ging in Revision. Ein ähnliches, schon ein wenig zwangshafte Verhalten, der Staatsanwaltschaft ist in Essen, Düsseldorf oder Köln nicht zu beobachten. Die Revisionsverhandlung im Torten-Prozess findet übrigens am 12. Januar vor dem Oberlandesgericht im Hamm statt.

Wird in Hamm der Unfug ein Ende haben? Die Bochumer Staatsanwaltschaft hat sich mit dem Torten-Prozess doch bis auf die Knochen blamiert.

Bei politischen Prozessen sind Prognosen unmöglich. In der ersten Instanz beim Torten Prozess hatten wir das Glück, dass ein liberaler Richter mehrfach beteuerte, dass er politisch mit uns nicht übereinstimmt, aber dass er das Grundrecht auf Meinungs- und Pressefreiheit für einen herausragenden Wert unseres Rechtssystems hält. Im ähnlich gelagerten Emily-Prozess hat der Oberstaatsanwalt in der zweiten Instanz offen eingeräumt, dass es ihm nicht um den aktuellen Fall geht, sondern dass ich grundsätzlich mal bestraft werden sollte. Der Richter hat ihn daraufhin ziemlich angemacht und erklärt, warum ich nicht verurteilt werden kann. Dann gab es eine Mittagspause und der Richter eröffnete anschließend wieder die Sitzung mit den Worten: "Sie werden jetzt etwas überrascht sein" Dann folgte er in seinem Urteil zu hundert Prozent der Linie der Staatsanwaltschaft. Ich weiß nicht, was da in der Mittagspause passiert ist. Ich habe jedenfalls in den Verfahren gelernt, dass RichterInnen in politischen Prozessen immer ein Urteil über sich selbst fällen. Sie beschreiben im Urteil ihre politische Meinung und begründen dies mehr oder weniger qualifiziert mit juristischen Argumenten.
    

Was waren für Dich in den vergangenen 10 Jahren die Höhepunkte auf Bo-Alternativ?

Am Anfang waren wir natürlich sehr stark damit beschäftigt, überhaupt Informationen zu bekommen. Als nach zwei, drei Jahren die Situation kippte und wir mehr Informationen bekamen, als wir veröffentlichen können und sich Leute nach ein paar Stunden beschwerten, warum ihre Meldung noch nicht auf bo-alternativ steht, war das ein gewisser Durchbruch und sicherlich ein erster Höhepunkt. Vor fünf Jahren dann haben wir vom Friedensplenum ein Transparent beim SPD Stadtfest entfaltet, das durch das SPD-Logo wie ein Werbebanner der SPD aussah und auf dem stand "Eurofighter statt Zahnersatz".  Der  damalige SPD-Unterbezirksvorsitzende Prof. Faulenbach ist daraufhin ans Mikrofon gestürzt und hat voller erregter Verachtung erklärt, dass "Bochum-alternativ nur aus ganz wenigen Leuten besteht und ganz unbedeutend ist." Das war schon ein ungewöhnlich nettes Kompliment. Am meisten hat uns beeindruckt, wie viele Geheim- bzw. Nachrichtendienste der führenden NATO-Länder in den Monaten um den G-8-Gipfels in Heiligendamm mehrfach täglich bo-alternativ.de gelesen oder gescannt haben.
Ganz subjektiv war es völlig überwältigend, welch liebevolle Solidarität und riesige Unterstützung ich im Tortenprozess erfahren habe. Das lässt sich kaum beschreiben. Eigentlich müsste ich der Bochumer Staatsanwaltschaft dankbar sein.

Wo siehst Du Bo-alternativ in zehn Jahren?

Mein Traum ist, dass bo-alternativ.de dann ein kleines Mosaiksteinchen in einem großen Ruhrgebietsprojekt ist. In allen Städten gibt es vergleichbare Portale und überregional interessante Geschichten werden  auf einer  gemeinsamen  Seite veröffentlicht.
Ganz real hoffe ich, dass wir es schaffen, unsere Terminübersicht so weiter zu entwickeln, dass alle Initiativen frühzeitig ihre Termine dort eintragen und ärgerliche Terminüberschneidungen vermieden werden. Das klingt vielleicht etwas banal, wäre aber – wie bo-alternativ.de insgesamt – eine ziemlich einmalige Geschichte in unserer Republik.

Werbung