Viele meinen, die Piratenpartei sei eine Protestpartei ohne Substanz. Das war die SPD auch einmal. Immerhin sind die Sozialdemokraten heute keine Protestpartei mehr.
Der 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) von Ferdinand Lassalle war, wie die Piratenpartei heute, eine Protestgruppe mit einem minimalistischen Programm, ganz auf die Interessen einer gesellschaftlichen Gruppe zugeschnitten, die von den herrschenden Schichten nicht wahrgenommen wurde, und für die sich niemand einsetzte. Die Arbeiter. Es ging um das Wahlrecht und Unternehmen in Arbeiterhand. Die Forderungen waren selbst im eigenen politischen Umfeld der gerade entstehenden Arbeiterbewegung umstritten und stießen beispielsweise bei Karl Marx auf offene Ablehnung. Später wurde aus diesem kleinen Verein die SPD.
Lassalle selbst war eine schillernde Figur, die für Aufmerksamkeit sorgte, selbst von Bismarck empfangen wurde und ein Jahr nach Gründung des ADAVs bei einem Duell um die Gunst von Helene von Dönniges starb. Er versuchte, bei einem Shootout den Vater von Dönniges zu töten, der gegen eine Heirat der beiden war – und verlor.
Der ADAV wurde 1863 kaum ernster genommen als die Piratenpartei heute. Wenn die Piratenpartei heute als naive Protestpartei ohne klare Antworten zur Lösung der Probleme zwischen Netizens und Restgesellschaft beschrieben wird, erinnert das etwas an die damalige Kritik an Lassalle und seinem Programm.
Wie Christian Stöcker in seinem Spiegel-Online Beitrag "Die Generation C64 schlägt zurück" beschrieben hat, gibt es längst eine Gruppe, die sich selbst stark in der digitalen Welt verortet. Ihr Kommen hat sich über Jahrzehnte angekündigt: Sie wurde von Sherry Turkle in „Die Wunschmaschine“ (Org. 1984) ebenso beschrieben wie in „Leben im Netz“ (Org. 1995) und bekam von Matthias Horx 1984 (damals noch kein „Zukunftsforscher“ sondern Journalist) den Namen Chip Generation verpasst – unter dem Titel veröffentlichte Horx damals einen „Trip durch die Computerszene“. Und wie so häufig, wurde dieses Kommen von der Politik und ihren Beratern komplett ignoriert. Das Internet ist für sie vor allem eine Möglichkeit über Twitter, Facebook und Blogs billig PR zu verbreiten – als zumindest partieller Lebensraum von immer mehr Menschen, wird es nicht wahrgenommen.
Die Bewohner des Netzes sind in den vergangenen Monaten von der Politik nicht nur ignoriert – was den meisten von uns wahrscheinlich ziemlich egal gewesen wäre – sondern offen attackiert worden: Netzsperren, das absurde Verbot von „Killerspielen“ und die Ankündigung von Wiefelspütz, weitere Online-Inhalte zu sperren, wird von vielen als genau das empfunden: Ein Angriff auf ihre Art zu leben und das initiiert von Menschen, die schlicht nichts anderes als digitale Analphabeten sind. Nicht wenige der Netizens werden morgen vielleicht die Piraten wählen. Die romantische Unabhängigkeitserklärung des Cyberspaces, von John Perry Barlow 1996 verfasst, scheint so aktuell wie nie.
Es gibt das Argument gegen die Piraten, dass es sich nicht lohnt eine kleine Partei zu wählen, sondern dass es sinnvoller ist, die Inhalte, die einem wichtig sind, in die großen Parteien einzubringen. Das Argument hat einen langen Bart und wurde schon immer von den Anhängern etablierter Parteien vorgebracht. Und es ist falsch. Es hat sich für die Arbeiter gelohnt, im 19. und 20. Jahrhundert die SPD zu wählen, um die eigenen Interessen voran zu treiben, und es war für die Ökos der 80er richtig, für die Grünen zu stimmen und nicht darauf zu setzen, dass SPD, CDU und FDP sich irgendwann einmal des Themas Umwelt annehmen. Wer glaubt, eine Partei von innen verändern zu können, ist wahlweise naiv oder dumm: Gerade bei den großen Parteien findet Politik auf Ortsvereinsebene, da, wo das Neumitglied sich engagieren kann, kaum statt. Ein Freund von mir bezeichnet die Treffen seines SPD-Ortsvereines als „Rentnerbespaßung“ und meidet sie längst. Bei der CDU sieht es kaum anders aus. Wer da etwas bewegen will, muss bereit sein, große Teile seiner Lebensenergie zu verschwenden – aus guten Gründen will das kaum jemand, weswegen die Parteien unter Mitgliederschwund und Überalterung leiden.
Die Wahl der Piratenpartei kann die Interessen der Netizens, der Generation C64, vorantreiben. Wenn morgen die Piratenpartei via Schweden in das Europaparlament einzieht und in Deutschland ein Ergebnis jenseits der 0,5 Prozent erreicht, sind die Forderungen einer Gruppe auf dem Tisch, um die sich die Altparteien bislang kaum gekümmert haben. Wenn dann Vertreter der Piratenpartei in Talkshows auf Figuren wie Wiefelspütz treffen, die nicht die geringste Ahnung haben, wovon sie überhaupt reden, werden die ihr blaues Wunder erleben: Die Spitze der Piratenpartei besteht aus IT-Fachleuten, Naturwissenschaftlern und Ingenieuren die wissen, wovon sie reden. In der Politik eher die Ausnahme als die Regel.
Klar, das Programm der Piratenpartei ist noch nicht dazu angetan, sie den Kanzler stellen zu lassen – aber es gibt im Europawahlprogramm klare Aussagen zur Verfassung der EU, zur Militärpolitik und zum öffentlichen Nahverkehr. Für nahezu alle Fragen rund um die Digitalisierung der Gesellschaft haben hingegen die Altparteien kaum Antworten – und die hat gerade erst begonnen.
Die Piratenpartei kann zu einem Muster für eine offene Kommunikation werden und sich, wenn genug Leute mitmachen, noch gut entwickeln. Parteien sind langfristige Projekte, deren großer Erfolg sich oft erst in Jahrzehnten einstellt. Die Piratenpartei ist ein spannendes Projekt – vielleicht floppt sie, vielleicht wird sie ein Erfolg. Aber eines ist heute schon klar: Wer morgen die Piraten wählt, wirft seine Stimme nicht weg. Nach all den Berichten über diese Partei wird auch der kleinste Erfolg medial große Wirkungen haben und die anderen Parteien zwingen, sich zur Digitalisierung und zum Netz zu positionieren. Das wäre doch schon mal was – und die Europawahl ist dazu eine gute Gelegenheit: Wir wählen bei der Europawahl ein Parlament, das kein Initiativrecht hat und über weite Teile des EU-Haushaltes noch nicht einmal mitreden darf. Und in das die Parteien ihre zweite und dritte Garde schicken – also kann man mit seiner Stimme experimentieren. Viel zu verlieren haben wir dabei nicht.