14 der 54 Hertie-Filialen, die in den kommenden zwei Monaten geschlossen werden, liegen im Ruhrgebiet. Das Aus für die Kaufhäuser wird ganze Innenstädte verändern – und unliebsame Wahrheiten endgültig ans Tageslicht bringen.
Bis Mitte der 90er Jahre lebte ich in Gladbeck. Eine allzu aufregende Stadt war das nie und natürlich auch keine Einkaufsstadt. Wenn man „richtig“ einkaufen ging, fuhr man mit dem Bahnbus nach Essen. Aber das machte man nur ein- oder zweimal im Jahr. Den Rest der Zeit ging man in der Gladbecker Innenstadt bummeln – und das ging noch in den 90er Jahren ganz gut: Es gab ein Peek & Cloppenburg, Karstadt und Woolworth. Es gab drei Plattenläden, zwei Buchhandlungen, ein paar Jeans-Stores, Adis-Sportstube für Turnschuhe (auch Boris Becker und Steffi Graf kauften bei Adi!), Schüren, wo man für die Oma und die Mutter zu Weihnachten irgendwelche Vasen und anderen Kram kaufte. Man kam in Gladbeck zurecht. Man bekam beinahe alles, konnte nur keine Preise vergleichen. Gladbeck war eine richtige Stadt.
Das hat sich geändert. Eine Stadt ist immer ein Ort um einen Markt herum – hier kann man einkaufen. Gladbeck ist kein solcher Ort mehr: Die Plattenläden gibt es heute genau so wenig wie Karstadt, Woolworth, Peek & Cloppenburg oder Schüren. Gladbeck ist endgültig zum Vorort von Essen geworden – genau wie Herne kaum mehr als ein Vorort von Bochum und Marl ein Vorort von Recklinghausen ist. Diese Erkenntnis ist für viele Kommunalpolitiker und Bürger bitter – aber an der Realität ändert das nichts.
Und an dieser Realität können die Kommunen kaum etwas ändern: Durch das Wegbrechen der Gewerbesteuereinnahmen haben sie kaum die Mittel, ihre Innenstädte attraktiver zu gestalten. Klar, in die leerstehenden Immobilien werden bald neue Läden einziehen – aber nicht mehr auf der gesamten Fläche. Ein gutes Beispiel für das, was den Städten droht, ist das ehemalige Peek & Cloppenburg-Kaufhaus in Gladbeck: Nachdem das Textilunternehmen die Stadt verlassen hat, stand es jahrelang leer, dann war für kurze Zeit auf Teilen der unteren Etage ein Ramscher mit etwas merkwürdigen Öffnungszeiten untergebracht.
Für die betroffenen Städte und Stadtteile trifft verschärft zu, was für das gesamte Ruhrgebiet gilt: Die Perspektive ist ungünstig. Durch den sich bald noch verstärkenden Schrumpfungsprozess sind die Innenstädte keine attraktiven Einkaufsquartiere mehr, und die vielen geplanten Einkaufszentren werden die Entwicklung noch beschleunigen. Die Kommunen wären klug, wenn sie das erkennen würden und keine Steuermittel im Kampf gegen die Wirklichkeit verschwenden, sondern ihre Innenstädte zurückbauen würden. Ihre Zukunft liegt darin, sich zu kleinen Stadtteilzentren für den täglichen Bedarf zu entwickeln, in denen man auch noch nett einen Kaffee trinken kann. Mehr wird für die meisten nicht drin sein.
Die „Perspektive Vorort“ ist indes nicht so schlimm wie sie klingt. Sie entlastet und eröffnet neue Handlungsspielräume. Wer einmal verinnerlicht hat, dass er keine zentralen Aufgaben zu erledigen hat – weder im Kultur- noch im Konsumbereich, bekommt den Kopf frei für Projekte, die der eigenen Stadt und ihren Bürgern nutzen.
Ein schönes Beispiel für kleinstädtische Hybris ist die Stadt Marl. Noch vor wenigen Jahren diskutierten die Politiker im Rat ernsthaft die Perspektive, auf über 100.000 Einwohner zu wachsen – in Wirklichkeit liegt die Zukunft der Stadt nach aktuellen Prognosen bei knapp über 80.000 Einwohnern. In Marl glaubte man, immer zentrale Funktionen für das nicht existierende Umland wahrnehmen zu müssen: Zahlreiche klassische Konzerte, ein viel zu großes Einkaufszentrum und das Skulpturenmuseum Glaskasten zeugen noch heute von einer etwas verschrobenen Selbstwahrnehmung. Die Stadt gibt viel Geld aus, um ihr Bild als Kulturstadt und wichtiges Einkaufszentrum zu behalten. Anstatt Geld für etwas auszugeben, was man nicht ist, wäre eine Aufgabenkritik sinnvoller: Marl kann kulturell mit Recklinghausen und erst Recht nicht mit Bochum, Dortmund oder Essen mithalten. Punkt.
Will man den Bürgern Spitzenkultur bieten, sollte man sie in Busse packen und in eben diese Städte fahren oder Geld für einen guten Nahverkehr ausgeben. Im Kulturbereich könnte man sich auf Angebote für wenig mobile Gruppe wie Kinder oder Alte beschränken – und das dann wirklich gut machen. Auch eine gute Stadtbücherei, die Marl einst hatte und die seit Jahren verkommt, wäre wichtig. Marl sollte wie jede andere Stadt um Bürger werben und sich in den Wettbewerb mit anderen Kommunen begeben – aber auf Feldern, auf denen man gewinnen kann: Warum versucht eine Stadt wie Marl nicht das beste Betreuungsangebot für Kinder hinzubekommen? Die am besten ausgestatteten Schulen zu haben? Der Vorteil, Vorort zu sein, ist es, sich nicht verzetteln zu müssen, nicht alles anbieten zu müssen. Im Ruhrgebiet bieten die Städte im Zentrum gute Einkaufsmöglichkeiten und ein gutes Kulturprogramm – die Vororte sollten mit Wohn- und Bildungsqualität auftrumpfen. Und über einen Nahverkehr verfügen, der es ihren Bürgen möglich macht, die Angebote im Zentrum wahr zu nehmen.
Das Aus der Hertie-Standorte ist eine gute Gelegenheit für Städte wie Marl oder Gladbeck, sich über ihre eigene Rolle im Ruhrgebiet Gedanken zu machen – und vielleicht endlich eine realistische Perspektive zu entwickeln. Vorort zu sein ist gar nicht so schlimm, wenn man es richtig anstellt.