Kreis Recklinghausen: Aus WAZ wird wäzlein

Nachem die WAZ schon vor einigen Jahren zahlreiche Lokalausgaben im Kreis Recklinghausen eingestellt hat geht es nun an die Kreisredaktion:  Das Personal wird nach  WDR-Angaben drastisch reduziert.

Ein Modell sollte die Vest-Redaktion werden, die an die Stelle  der bereits vor Jahren geschlossenen acht Lokalredaktionen im Kreis Recklinghausen trat. Ein WAZ-Mitarbeiter erklärte uns vor wenigen Monaten das damals vorgestelle Konzept, das nicht aufging: "Die Verlagsleitung hat uns damals erklärt, wie gut die Aufgabe der einzelnen Lokalteile wäre. Das Vest Recklinghausen sei mit Essen zu vergleichen und eine gemeinsame Redaktion würde Sinn machen. Wir haben dadurch nur Leser verloren. In vielen der Städte war die WAZ allerdings immer schwach und kam nie gegen die Blätter von Bauer an."

Daraus zieht das Unternehmen nach einer  Meldung des WDR nun die Konsequenzen: Die WAZ wird ihre Vest-Redaktion von jetzt 29 auf nur noch 10 Redakteure runterfahren. Wie die für ein Einzugsgebiet mit mehreren 100.000 Menschen eine auch nur halbwegs lesenswerte Zeitung machen sollen bleibt ein Geheimnis der Verlagsleitung. Passend zu der Umstrukturierung findet morgen eine Demonstration der WAZ-Mitarbeiter vor der Konzernzentrale in Essen statt. Von der WAZ war heute keine Stellung mehr zu dem Thema zu erhalten.

 

Muff Potter

Muff Potter (Mit Trashmonkeys, Herrenmagazin u.a.) Mittwoch, 10. Mai Juni, Campusfest Uni Duisburg-Essen, 18.00 Uhr, Uni Duisburg

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Das Navigationssystem für das Ruhrgebiet

Karstadt: Arcandor steuert auf Insolvenz zu…FAZ

Karstadt II: Bund gibt letzte Chance…Spiegel

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Die Arcandor-Welt ist schön

Arcandor versucht gerade Hilfe vom Staat zu erpressen: Geld oder Insolvenz. Blickt man auf die Internetseite des Konzerns gibt es gar keinen Grund für Hilfe, denn Arcandor strahlt vermögend um die Wette.

Ausriss: Arcandor.de

Innerhalb von gut zehn Jahren wurde der Konzern Arcandor, damals noch Karstadt-Quelle, von wechselnden Managern mal eben gepflegt in den Boden gerammt. Stündlich droht die Insolvenz, der Staat hat  abgelehnt Arcandor Geld aus dem "Wirtschaftsfonds Deutschland" zu geben.   Aber hey, alles ist gar nicht so schlimm. Ein Blick auf die Internetseite des Noch-Konzerns zeigt: Die Arcandor-Welt ist schön – zumindest im Corporate-Film. (Auf der Arcandor-Seite bitte etwas runterscrollen – ich konnte den Film nicht direkt verlinken.)

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Ruhrgebiet ist keine SPD-Hochburg mehr

Erinnert sich noch jemand daran, dass das Ruhrgebiet einmal eine SPD-Hochburg war? Nicht? Dann fragt mal Euren Opa.

Kam die SPD in irgendeiner Stadt im Ruhrgebiet noch über 40 Prozent? Ich habe keine gefunden. Oberhausen gilt mit 38 Prozent schon als Hochburg. In Bochum kamen die Sozialdemokraten nur noch auf 33 Prozent, in Dortmund sieht es ähnlich aus. Im ganzen Ruhrgebiet waren die Grünen stabil, konnte die Union ihre Rekordergebnisse aus 2004 nicht halten und haben vor allem die FDP und die Linke dazugewonnen. Letztere allerdings blieben deutlich unter den noch vor nicht allzu langer Zeit sehr hohen Erwartungen. Nimmt man das Ergebnis der Linkspartei für NRW haben sie hier im Land noch nicht einmal die 5-Prozent-Hürde genommen. 4,6 Prozent – da dürfte mancher Linksgenosse nervös werden, der sich schon bei den kommenden Landtagswahlen sicher im Parlament sah.

Früher war das mit der SPD einmal anders: Da haben die Sozialdemokraten fast überall immer über 50 Prozent geholt. Bei jeder Wahl und egal wen sie aufstellten. Man kann den Sozialdemokraten nicht vorwerfen, nicht gekämpft zu haben: Sie dominierte mit ihren Plakaten den Wahlkampf und in der Bochumer Fußgängerzone wurden Tag für Tag tapfer Würstchen verlauft. Genutzt hat es nichts.

Was heißt das für die Kommunalwahl am 30. August? Durch die sehr geringe Wahlbeteiligung ist es schwer, klare Aussagen zu treffen aber  eines deutet sich an: Rot-Grüne Bündnisse wird es nur noch in wenigen Städten geben. Ohnehin scheint die Zeit der Zweierbündnisse auch auf kommunaler Ebene vorbei zu sein. SPD und Grüne werden die Linkspartei in Boot holen müssen, es wird große Koalitionen in den Räten geben und in ein paar Städten  vielleicht auch Jamaica. Und es wird in vielen Räten künftig wechselnde Mehrheiten geben. Das ist spannend und hochdemokratisch, aber wer sich Städte wie Marl anschaut, in denen seit Jahren mit wechselnden Mehrheit regiert wird, wird auch feststellen: Bei Ausgaben sind sich alle sehr schnell alle einig – für Einsparungen und Einschnitte gibt es nur selten eine Mehrheit. Für Städte die finanziell am Abgrund stehen und vielleicht sogar schon einen Schritt weiter sind, ist das keine gute Nachricht.

Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Das Ruhrgebiet hat längst ganz normale Wahlergebnisse – vergleichbar mit denen in anderen Großstädten. Die SPD bleierne Dominanz, die für mich auch immer ein Zeichen eines Modernisierungsdefizits war, verblasst mittlerweile selbst in der Erinnerung.

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Das Navigationssystem aus dem Ruhrgebiet

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SPD III: Kommunizierende Röhren…Pottblog

Europa: Kontinent rückt nach rechts…Welt

Schweden: Pirat entert Europaparlament…Heise

Piraten: Grosse Beute in Berlin…Tagesspiegel

 

 

Update: Piratenpartei: Leinen los?

In Schweden hat die Piratenpartei aus dem Stand heraus deutlich über 7 Prozent geholt und ist damit ins Europaparlament eingezogen. In Deutschland hat es dafür nicht gereicht. Trotzdem: Die 0,9 Prozent die sie geholt hatsind ein sehr gutes Ergebnis.

Foto: Nospickel

OK, noch ist Hamburger Stadtteil "Kleiner Grasbrook" nicht überall: Mit 8,6 Prozent erreichte die Piratenpartei in dem Hamburger Stadtteil nicht nur ein fantastisches Ergebnis sondern lag sogar vor der Union. Die Christdemokraten kamen dort nur auf 7,1 Prozent. Trotzdem: Mit  0,9 Prozent und  229.117 Wählern  hat die Piratenpartei einen großen Erfolg erzielt. Gut, er wird etwas eingeschränkt durch die niedrige Wahlbeteiligung, von der die Piraten profitiert haben, aber es bleibt ein Erfolg. Die "Generation C64" hat sich erstmals bei Wahlen bemerkbar gemacht. Vielleicht sind die Netizens dabei, sich als Gruppe wahr zu nehmen und ein Gefühl für die eigene Stärke zu entwickeln. Die Begeisterung für die Piraten auf Twitter und in den Blogs war beeindruckend. Damit ist vielleicht ein Prozess in Gang gesetzt worden, der eine neue politische Kraft hervorbringt. 

Es gibt keinen Grund für die Wähler der Piraten, enttäuscht zu sein: Auch die Grünen sind in den 70er Jahren, damals noch als Wählerlisten unter den verschiedensten Namen, nicht viel besser gestartet. OK, es war heute viel Protest dabei, aber das war es bei den Grünen auch. Ihr Vorteil war, dass sie durch eine breite soziale Bewegung getragen wurden. Themen wie Umwelt und Atomkraft waren seinerzeit wesentlich präsenter als es die Themen der Netz-Community heute sind. Umso beeindruckender ist das heutige Ergebnis. Was es wirklich gebracht hat? Das wird sich in den nächsten Stunden und Tagen zeigen. Wenn die Medien das Thema Piratenpartei aufgreifen, sich mit den Themen und dem Personal der Partei beschäftigen, die "Generation C64" entdeckt, haben wir alle gute Chancen, unsere Themen einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Und damit auch etwas Unruhe in den Reihen der etablierten Parteien zu säen. Die können, wenn sie ganz hoch auf den Mast steigen, am Horizont ein kleines Schiff mit einer Piratenfahne erkennen.

Schauen wir uns die Zahlen der Piratenpartei etwas genauer an. Sie sind überraschungsfrei: In Uni-Städten haben sie zum Teil gute Ergebnisse geholt, in einzelnen Bezirken auch über drei Prozent. Auf dem Land waren die Ergebnisse eher mau. In NRW, wo es bei Kommunalwahlen keine 5 Prozent-Hürde gibt, hätten die Piraten in Städten wie Aachen, Dortmund oder Bochum gute Chancen, in einzelne Bezirksvertretungen oder vielleicht auch in den Rat einzuziehen. Und nur so wird es gehen: Die Piratenpartei muss, will sie langfristig erfolgreich sein, den jetzigen Schwung nutzen und Orts- und Stadtverbände gründen. Dort werden sich die Piraten sammeln und sich auf die nächsten Wahlen vorbereiten: Erste Mandate wird es in Kommunalwahlen geben. Dafür muss es dann aber auch Kommunalwahlprogramme geben. Klingt langweilig? Unmöglich für die Piraten? Im Gegenteil: Der "Transparente Staat" macht auch als "Transparente Stadt" Sinn. Beim Verkauf von Grundstücken, bei der Planung des Haushaltes, im Vergaberecht oder bei den zum Teil unübersichtlichen Konstrukten städtischer Beteiligungen und ihren Verbindungen zur Politik gibt es genug Aufgaben für alle, die auf Kaperfahrt gehen wollen. Die Piratenpartei wird sich aber darüber hinaus thematisch breiter aufstellen müssen. Kann sie das schaffen? Vielleicht. Warum nicht? Das Ergebnis der Europawahl war ein guter Anfangserfolg. Und ein massiver Vertrauensvorschuss. Die nächsten Erfolge wird sich die Piratenpartei erarbeiten müssen. Und dafür wird sie die Unterstützung der Netizens brauchen. Klar zum ändern!

Update: Die Euro-Glaskugel

Wie sieht das Europaparlament aus? Wir hatten die Gerüchte zum Ausgang der Wahl gesammelt und Twitter getestet.

Zunächst haben wir, wie ihr von unten aus lesen könnt, alles gesammelt, was über Twitter kam. Und dies dann mit den offiziellen Progonsen um 18:01 verglichen:

Prognose ARD: CDU CSU    38,5  SPD 21   Grüne 11,5  FDP 11      Linke 7,5   Sonstige

Prognose ZDF: CDU CSU  38   SPD 21,5   Grüne 12  FDP  10.5    Linke 7   Sonstige 11 keine über 3

Quelle: ARD/ZDF, Aktuelle Zahlen: Phoenix

Das Ergebnis des Abgleichs ist für Twitter verheerend: Alle Zahlen, die kursierten, waren Schrott – vor allem was die SPD betraf. Ob eine richtige Prognose dabei war? Wohl nur der ARD-Patzer gab einen Vorabblick. Bei diesem Mal konnte man mit Twitter also nicht viel anfangen.

—Twitter-Gerüchte-Sammlung – rücklaufend chronologisch —

17.51: Gerücht: Breaking News: CDU/CSU 38% , SPD 26%, Grüne 12% , FDP 9%, Linke 7% Erste Prognose der Wahlforscher .Quelle: Truck Driver

17.47: Panne bei der ARD?: ARD zeigt aus Versehen zu früh das Wahlergebnis? SPD bei 21,5%, CDU 44%? Ulrich Deppendorf düpiert… komischkomisch Quelle: Wahlkampfarena

17.25: Gerücht Parteizentralen: Trend Europawahl: cdu/csu 38,5%, spd 26%, grüne 12%, fdp 9%, Linkspartei 7%. Das sind die Vorabzahlen für die Parteizentralen. Quelle: Jan Fleischauer

17.23 Gerücht "German Trend": Germany first trends: CDU 36-39, SPD 24-26 Greens 11-12, FDP 10- 11, Left 7-8. Greens 3rd’s! Quelle: Offripper

16.56: Gerücht "Andere Quelle": Andere Prognose-Quelle sagt: Union 36-38 (CSU drin), SPD 25-26, FDP 10, Grüne 10, Linke 8 Quelle: mmjox

16.55: Gerücht ARD Prognose: ARD Prognose: CDU 38, SPD 26, FDP 9, Grüne 12, Linke 7, (CSU drin). Quelle: RRilke

16.40: Gerücht ARD Prognose: ARD Prognose: CDU 38, SPD 26, FDP 9, Grüne 12, Linke 7, (CSU drin).

16.38: Gerücht ARD Prognose: ARD Prognose zur EU-Wahl: FDP 9-10 %, SPD ca. 25%, Union unter 40%, Grüne 10% Linke um die 8% Zeit: 16.20 Quelle: frolueb

16.18: Bis jetzt halten alle dicht.

16.05: Piraten bei Twitterpoll auf 50 Prozent Quelle: Twitterpoll

16.00 Uhr: Go: Auf den Umfragezetteln des ZDF fehlt wohl die Piratenpartei. Quelle: jleinenbach/twitter

Wahlbeteiligung sehr niedrig Quelle: Welt

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Das Navigationssystem aus dem  Ruhrgebiet

Arcandor: Krisengipfel soll Rettung bringen…Der Westen

Arcandor II: Metro-Chef gegen Eick…Spiegel

Arcandor III: Ohne  Staatsknete morgen insolvent…FAZ

Arcanor IV: Adieu Kartstadt-Quelle…FAZ

Opel: Fass ohne Boden…Welt

Geschäft: Politmarionette zu versteigern…Kueperpunk

Koch-Mehrin: Kein Geld für Attac…Exportabel

Wiefelspütz: An der Schwelle zum Bürgerkrieg…FIXMBR

Wiefelspütz II: Lieber Herr Wiefelspütz…Prospero

Immobilien: Wohnen im Revier…Pottblog

Festival: Bochum-Total Programm steht…Ruhr Nachrichten

Buch: Schumpeter Biografie…Weissgarnix

Stratmann: Vom Mondpalast in die Politik…Welt

Essen: Protest gegen Nazi-Shop…Der Westen

Ärger: Verliert Assauer Werbevertrag?…Ruhr Nachrichten

Protest: Demo vor WAZ-Zentrale…Medienmoral NRW

Ist die Piratenpartei die SPD von heute?

Viele meinen, die Piratenpartei sei eine Protestpartei ohne Substanz. Das war die SPD auch einmal. Immerhin sind die Sozialdemokraten heute keine Protestpartei mehr.

Der 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) von Ferdinand Lassalle war, wie die Piratenpartei heute, eine Protestgruppe mit einem minimalistischen Programm, ganz auf die Interessen einer gesellschaftlichen Gruppe zugeschnitten, die von den herrschenden Schichten nicht wahrgenommen wurde, und für die sich niemand einsetzte. Die Arbeiter. Es ging um das Wahlrecht und Unternehmen in Arbeiterhand. Die Forderungen waren selbst im eigenen politischen Umfeld der gerade entstehenden Arbeiterbewegung umstritten und stießen beispielsweise bei Karl Marx auf offene Ablehnung. Später wurde aus diesem kleinen Verein die SPD.

Lassalle selbst war eine schillernde Figur, die für Aufmerksamkeit sorgte, selbst von Bismarck empfangen wurde und ein Jahr nach Gründung des ADAVs bei einem Duell um die Gunst von Helene von Dönniges starb. Er versuchte, bei einem Shootout den Vater von Dönniges zu töten, der gegen eine Heirat der beiden war – und verlor.

Der ADAV wurde 1863 kaum ernster genommen als die Piratenpartei heute. Wenn die Piratenpartei heute als naive Protestpartei ohne klare Antworten zur Lösung der Probleme zwischen Netizens und Restgesellschaft beschrieben wird, erinnert das etwas an die damalige Kritik an Lassalle und seinem Programm.

Wie Christian Stöcker in seinem Spiegel-Online Beitrag "Die Generation C64 schlägt zurück" beschrieben hat, gibt es längst eine Gruppe, die sich selbst stark in der digitalen Welt verortet. Ihr Kommen hat sich über Jahrzehnte angekündigt: Sie wurde von Sherry Turkle in „Die Wunschmaschine“ (Org. 1984) ebenso beschrieben wie in „Leben im Netz“ (Org. 1995) und bekam von Matthias Horx 1984 (damals noch kein „Zukunftsforscher“ sondern Journalist) den Namen Chip Generation verpasst – unter dem Titel veröffentlichte Horx damals einen „Trip durch die Computerszene“. Und wie so häufig, wurde dieses Kommen von der Politik und ihren Beratern komplett ignoriert. Das Internet ist für sie vor allem eine Möglichkeit über Twitter, Facebook und Blogs billig PR zu verbreiten – als zumindest partieller Lebensraum von immer mehr Menschen, wird es nicht wahrgenommen.

Die Bewohner des Netzes sind in den vergangenen Monaten von der Politik nicht nur ignoriert – was den meisten von uns wahrscheinlich ziemlich egal gewesen wäre – sondern offen attackiert worden: Netzsperren, das absurde Verbot von „Killerspielen“ und die Ankündigung von Wiefelspütz, weitere Online-Inhalte zu sperren, wird von vielen als genau das empfunden: Ein Angriff auf ihre Art zu leben und das initiiert von Menschen, die schlicht nichts anderes als digitale Analphabeten sind. Nicht wenige der Netizens werden morgen vielleicht die Piraten wählen. Die romantische  Unabhängigkeitserklärung des Cyberspaces, von John Perry Barlow 1996 verfasst, scheint so aktuell wie nie.

Es gibt das Argument gegen die Piraten, dass es sich nicht lohnt eine kleine Partei zu wählen, sondern dass es sinnvoller ist, die Inhalte, die einem wichtig sind, in die großen Parteien einzubringen. Das Argument hat einen langen Bart und wurde schon immer von den Anhängern etablierter Parteien vorgebracht. Und es ist falsch. Es hat sich für die Arbeiter gelohnt, im 19. und 20. Jahrhundert die SPD zu wählen, um die eigenen Interessen voran zu treiben, und es war für die Ökos der 80er richtig, für die Grünen zu stimmen und nicht darauf zu setzen, dass SPD, CDU und FDP sich irgendwann einmal des Themas Umwelt annehmen. Wer glaubt, eine Partei von innen verändern zu können, ist wahlweise naiv oder dumm: Gerade bei den großen Parteien findet Politik auf Ortsvereinsebene, da, wo das Neumitglied sich engagieren kann, kaum statt. Ein Freund von mir bezeichnet die Treffen seines SPD-Ortsvereines als „Rentnerbespaßung“ und meidet sie längst. Bei der CDU sieht es kaum anders aus. Wer da etwas bewegen will, muss bereit sein, große Teile seiner Lebensenergie zu verschwenden – aus guten Gründen will das kaum jemand, weswegen die Parteien unter Mitgliederschwund und Überalterung leiden.

Die Wahl der Piratenpartei kann die Interessen der Netizens, der Generation C64, vorantreiben. Wenn morgen die Piratenpartei via Schweden in das Europaparlament einzieht und in Deutschland ein Ergebnis jenseits der 0,5 Prozent erreicht, sind die Forderungen einer Gruppe auf dem Tisch, um die sich die Altparteien bislang kaum gekümmert haben. Wenn dann Vertreter der Piratenpartei in Talkshows auf Figuren wie Wiefelspütz treffen, die nicht die geringste Ahnung haben, wovon sie überhaupt reden, werden die ihr blaues Wunder erleben: Die Spitze der Piratenpartei besteht aus IT-Fachleuten, Naturwissenschaftlern und Ingenieuren die wissen, wovon sie reden. In der Politik eher die Ausnahme als die Regel.

Klar, das Programm der Piratenpartei ist noch nicht dazu angetan, sie den Kanzler stellen zu lassen – aber es gibt im Europawahlprogramm klare Aussagen zur Verfassung der EU, zur Militärpolitik und zum öffentlichen Nahverkehr. Für nahezu alle Fragen rund um die Digitalisierung der Gesellschaft haben hingegen die Altparteien kaum Antworten – und die hat gerade erst begonnen.

Die Piratenpartei kann zu einem Muster für eine offene Kommunikation werden und sich, wenn genug Leute mitmachen, noch gut entwickeln. Parteien sind langfristige Projekte, deren großer Erfolg sich oft erst in Jahrzehnten einstellt. Die Piratenpartei ist ein spannendes Projekt – vielleicht floppt sie, vielleicht wird sie ein Erfolg. Aber eines ist heute schon klar: Wer morgen die Piraten wählt, wirft seine Stimme nicht weg. Nach all den Berichten  über diese Partei wird auch der kleinste Erfolg medial große Wirkungen haben und die anderen Parteien zwingen, sich zur Digitalisierung und zum Netz zu positionieren. Das wäre doch schon mal was – und die Europawahl ist dazu eine gute Gelegenheit: Wir wählen bei der Europawahl ein Parlament, das kein Initiativrecht hat und über weite Teile des EU-Haushaltes noch nicht einmal mitreden darf. Und in das die Parteien ihre zweite und dritte Garde schicken – also kann man mit seiner Stimme experimentieren. Viel zu verlieren haben wir dabei nicht.