Früher war galt die Fleischtheke des ehemaligen Reals in der Dortmunder Nordstadt als der schlimmste Ort des Ruhrgebiets. Nicht wenige meinen, das der heute in Marl liegt.
Grimme Preis. Foto: Mengedoth
Sie kennen Marl nicht? Marl ist die Stadt neben dem großen Chemiewerk am Rand des Ruhrgebiets. Errichtet wurde die Innenstadt in den 60er Jahren von Architekten, die aus der DDR wegen mangelnder Kreativität ausgewiesen wurden und so sah Marl lange Zeit aus wie Berlin-Marzahn in hässlich.
Der Mittelpunkt der Stadt ist ein Einkaufszentrum, dessen Dach man auf und zu machen kann – was aber noch nie funktioniert hat. Es liegt an einem Platz, dessen Hauptfunktion es ist, durch seinen Namen die Partnerstadt Creil permanent zu beleidigen. Doch wirklich schlimm wird es ein paar Meter weiter im Rathaus. Wie der Namen andeutet, trifft sich dort der Rat der Stadt – ein Gremium mit einem ganz besonderen Charme.
Sollten einem nordkoreanischen Parteifunktionär jemals die Argumente gegen die Demokratie ausgehen, tut er gut daran, den Marler Rat zu besuchen: Da gibt es eine Bürgermeisterin, die ihren Mann eine eigene Partei hat gründen lassen die auf den fröhlichen Namen BUM hört und für die Ratsbeschlüsse ungefähr die gleiche Bedeutung haben wie für den ehemaligen Klosterschüler Josef Stalin in seiner Zeit die zehn Gebote: Schön dass es sie gibt, aber was haben sie mit mir zu tun? Entschuldigend wirkt da ein Blick in den Rat, in dem die Lokalpolitiker zwar der Überzeugung sind, dass von ihrem Handeln das Glück der Welt abhängt (Nahezu stündlich erwarten intime Kenner dieses nicht an mangelnden Glauben in seine Kompetenzen leidenden Gremiums Resolutionen zu Themen wie "Frieden im nahen Osten", "Reform der Scharia" und "Isländische Finanzkrise"). Wenn sie nicht gerade mit der Rettung dieses Planeten beschäftigt sind, überziehen die Ratsmitglieder einander mit Schmähungen oder Geschäftsordnungsanträgen.
Aber Marl hat auch seine Stärken – und die liegen im Export. Besonders gerne exportiert die Stadt Talente. Die meisten Marler die bei Sinnen sind verlassen spätestens an dem Tag, an dem sie die allgemeine Hochschulreife ausgehändigt bekommen fluchtartig die Stadt. Ehemalige Marler sind zum Beispiel Sönke Wortmann, Oliver Wittke oder Hans-Christian Ströbele. Geblieben ist hingeben der Reiter Christian Ahlmann, dessen Pferd ihn bei der Olympiade in Peking durch hinterlistiges dopen um eine Medaille brachte. Und dann gibt es Besucher wie Jürgen Möllemann, die Marl ausschließlich zum Zwecke des Suizids aufsuchen.
Soweit gehen indes die meisten Besucher des größten gesellschaftlichen Ereignisses der Stadt nur selten: Der Grimme-Preis erfreut sich bei den Medienschaffenden der Republik, zumindest wenn sie sich dem Unterschichtenmedium Fernsehen verschrieben haben. Natürlich weiß jeder, dass der Grimme Preis und vor allem seine Verleihung noch viel prächtiger wäre, wenn er nicht im Theater Marl stattfinden würde sondern in der Alten Oper in Frankfurt, dem Tempodrom in Berlin oder der Mehrzweckhalle von Bebra, die meines Wissens nach mit einem freundlichen Biber um die Gunst der Gäste buhlt. Alte Marler können über den Satz „Jeder will den Grimme, aber keiner nach Marl“ nur müde lächeln. Trotzdem steckt in ihm mehr als ein ordentliches Korn an Wahrheit.
Erstaunlich ist hingegen das Engagement der nicht mit dem 18 Lebensjahr geflohenen Menschen dieser Stadt. Verzweifelt kämpfen sie gegen die Tristesse an, organisieren Punk-Festivals, betreiben in Eigeninitiative ein ganzes Freibad und richten alte Hallen her, um klassische Konzerte stattfinden lassen zu können. Sie kämpfen gegen die Bedeutungslosigkeit ihrer Stadt wie die Holländer gegen die Nordsee – ein ehrenwertes, jedoch langfristig eher aussichtsloses Unterfangen.