Vor zehn Jahren starb der Soziologe Niklas Luhmann. Im Januar 1997 besuchte ich Niklas Luhmann in seinem Haus in Oerlinghausen bei Bielefeld und interviewte ihn zu seinem Buch „Die Realität der Massenmedien“, das damals gerade herausgekommen war. Ich begegnete einem älteren Herrn der von ausgesuchter Höflichkeit und – wie nicht anders zu erwarten – schneidendem Intellekt war, in einem Haus, das einen nur tieftraurig stimmen konnte, denn es wirkte unbelebt. Luhmann wohnte dort seit dem Tod seiner Frau alleine. Niklas Luhmann gehörte zu den bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts und lehrte bis zu seiner Emeritierung als Professor an der Universität Bielefeld. Er gilt als der namhafteste Vertreter und Begründer der Systemtheorie. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen Soziale Systeme, Ökologische Kommunikation und die Reihe Soziologische Aufklärung.
Niklas Luhmann. Foto: Uni Bielefeld
?: Herr Luhmann, wie beurteilen Sie die zukünftige Entwicklung der Massenmedien?
Niklas Luhmann: Wenn man Massenmedien definiert als eine technisch einseitige Kommunikation, dann sehe ich nichts, was sich wesentlich ändern könnte. Für Massenmedien selber werden die aktuellen technischen Innovationen wie das Internet oder individuell wählbare Informationen wenig Bedeutung haben. Sie werden sich neben Massenmedien wie Tageszeitungen oder auch das Fernsehen setzen, sie jedoch nicht verdrängen. Das Internet mit seinen Kommunikationsmöglichkeiten ist auch, wenn es massenhaft als Medium genutzt wird, kein Massenmedium, denn es ist ja gerade keine einseitige technische Kommunikation, sondern kann individuell genutzt werden. Die Sorge, dass neue Medien die traditionellen ersetzen, ist so alt wie unbegründet: Die Schrift hat die mündliche Weitergabe nicht verdrängt und die Presse auch nicht den Brief.
?: In Ihrem Buch „Die Realität der Massenmedien“ beschreiben Sie, dass es kaum noch direkte Realitätserfahrungen gibt und wir fast unser gesamtes Wissen über Massenmedien erhalten.
Luhmann: Ja, denn wie groß ist noch der Teil unserer direkten Erfahrung? Wir wissen das meiste aus Büchern oder aus dem Fernsehen. Von der Geiselnahme in Peru haben wir nur durch die Massenmedien erfahren. Gerade in Zeiten massiver Globalisierung sind Massenmedien die einzige Quelle, die uns zur Verfügung steht.
?: Besteht da nicht auch ein großes Risiko? Was ist, wenn Massenmedien falsch informieren?
Luhmann: Das kann der Einzelne natürlich nicht nachvollziehen, und auch Journalisten sollten ein bestimmtes Berufsethos entwickeln. Aber vieles regelt sich auch durch ökonomische Zwänge. So etwas wie die Hitler-Tagebücher im Stern zwingt einen Verlag dazu, ordentlicher zu arbeiten, sonst drohen Auflagenverluste oder gar der komplette Verlust der Reputation als Informationsmedium. In weiten Teilen der Boulevardpresse ist das ja geschehen. Ihre Produkte geben vor, Informationsmedien zu sein, werden jedoch häufig nur noch als Unterhaltungsmedium wahrgenommen. Wenn man die Unterscheidung Information und Unterhaltung an ein Massenmedium anlegt, heißt das noch nicht, dass Information nicht unterhaltsam präsentiert werden kann, sie darf nur nicht fiktional sein. Dann hat ein Medium den Bereich der Information verlassen und ist zum narrativen Medium geworden, wie der Roman, oder in moderner Form, der Spielfilm.
?:Doch allen Massenmedien ist gemein, dass sie uns Skripte anbieten in den Bereichen, in denen unsere Alltagserfahrung versagt.
Luhmann: Ja, sie offerieren uns Deutungsmuster, aber ich verstehe das so, dass ich mich diesen Deutungsmustern positiv oder negativ gegenüber verhalten kann. Nehmen Sie das Brent-Spar-Beispiel, die Plattform die Shell 1995 versenken wollte. „Die Versenkung bedeutet Umweltverschmutzung“ lautete da das angebotene Skript. Aber ich habe natürlich die Möglichkeit, das zu hinterfragen. Wie ist denn das Maß der Verschmutzung durch so eine Plattform, und wie steht sie im Verhältnis zu den natürlichen Verschmutzungen in 3.000 Metern Tiefe? Ich habe jeweils noch die Möglichkeit zur Entscheidung.
?: Gerade die Brent-Spar ist auch ein Beispiel für hysterische Berichterstattung. Journalisten hinterfragten nicht mehr, und als sich herausstellte, dass die Greenpeace-Angaben in Zweifel zu ziehen waren, war vielen die eigene Berichterstattung sehr peinlich.
Luhmann: Sicher, das ist ein medieninternes Problem, ein Problem der Redaktionen und Verlage, kein allgemeines der Massenmedien. Zur Sorgfalt sollten sich Journalisten schon verpflichtet fühlen.
Das Interview ist Anfang 1997 in der Zeitschrift Unicum erschienen