Heute wurde das Programm zum Kulturhauptstadtjahr 2010 veröffentlicht.
Klar, als Eingeborener kennt man vieles, was im Buch1, ein übrigens nahezu biblischer Titel für ein Programmheft, vorgestellt wird. Das ist OK. Die Kulturhauptstadt muss, wenn sie erfolgreich sein will, Menschen von außerhalb des Reviers erreichen und für die sind das Ruhrtal oder auch die Industriekultur (Über die hier ja schon kritisch diskutiert wurde) durchaus etwas neues und spannendes.
Für Aufmerksamkeit sorgt die Kulturhauptstadt schon heute. Der wirklich schöne Artikel im Stern vom vergangenen Donnerstag, der wohl Titelgeschichte geworden wäre, wenn die Finanzkrise nicht dazwischen gekommen wäre und auch das NRW-Special im heutigen Spiegel sind in Teilen sicher von der Kulturhauptstadt inspiriert worden.
Mission Statement
Das Kapitel mit der Überschrift "Unser Auftrag" formuliert den Anspruch, dem sich die Macher der Kulturhauptstadt stellen. Ziel des Kulturhauptstadtjahrs ist es demnach
– die Kulturförderung und -vermittlung zu stärken
– die europäische Öffentlichkeit mit dem Ruhrgebiet vertraut zu machen
– Kindern Kund und Kultur näher zu bringen
– Mit Kunstprojekten den sozialen Zusammenhang zu stärken
– die Wirtschaftstätigkeit zu fördern
– das architektonische Erbe zu fördern und in neue Strategien der Stadtentwicklung zu integrieren
– Den Dialog zwischen den Kulturen zu fördern.
Die Ansprüche sind ebenso hoch wie vage formuliert. Schauen wir mal Ende 2010 nach, was draus geworden ist.
Plattitüden
Es gibt Sätze in diesem Buch, die zum Fremdschämen führen. Wer schreibt so einen Unfug wie "Von den Bohemiens des beginnenden 21. Jahrhundert wird die Metropole Ruhr gerade entdeckt" oder "Keine Karte, kein Städteatlas und kein Navigationsgerät geben Neugierigen, Reisenden und nicht einmal den Bewohnern selbst Auskunft darüber. Kein Wunder. Denn die Metropole Ruhr entsteht gerade erst. Jetzt! Als Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 betritt sie als echter Newcomer die urbane Bühne Europas." Das wir die Bühne nicht vorher betraten lag an unserer eigenen Blödheit und den hiesigen Strukturen. Eine Metropole nennt man sich übrigens nicht selbst und im entstehen sind wir auch nicht. Entstehen, das impliziert Wachstum. Wir schrumpfen. "Der Ort von RUHR.2010 ist Europa. Die Achse Warschau – Berlin – Brüssel kommt in Zukunft ohne die Metropole Ruhr nicht mehr aus" Ich glaube, dass kam sie schon vorher nicht.
Fünf
Das Ruhrgebiet wird in fünf Zonen eingeteilt – Duisburg, Essen, Oberhausen, Bochum und Dortmund. Jede dieser Zonen hat bekommt ein eigenes Besucherzentrum. Zentrum bedeutet indes nicht, dass es zentral liegt: Das Essener wird auf Zollverein sein. Von diesen fünf Zentren kann man dann das Umland und die Kulturangebote der jeweiligen Region erkunden: Von Bochum aus zum Beispiel Recklinghausen, von Duisburg aus Mülheim und von Oberhausen aus Gladbeck. Da der Nahverkehr zwischen den Städten ohnehin desaströs organisiert ist, macht es nicht viel aus, dass sich die Planer nicht an den traditionellen Strukturen orientiert haben. Entweder, sie organisieren für das Jahr 2010 ein eigenes Netz oder die Besucher sollten mit dem Auto kommen. Wer mit dem ÖPNV von Oberhausen zur Maschinenhalle Zweckel fährt, wird unsere Leidensfähigkeit bewundern lernen und beim Wort Metropole in Brülllachen ausbrechen.
Passagen
Auf vier Hauptpassagen (Lippe, Emschertal, Hellweg (A40) und Ruhrtal sowie einer Nebenpassage, dem Rhein, kann man die Region touristisch erkunden. Neben historischen und einfach nur schönen Ausflügen wie im Ruhrtal werden an diesen Passagen auch Veranstaltungen wie die Party auf der A40 (Still-Leben) oder gewohntes wie das Krimifestival "Mord am Hellweg" stattfinden. Zu sehen sein wird aber auch neues wie die Kunstinstallation "Ruhr-Atoll" auf dem Baldeneysee und der Ruhr in Essen. Bei dem Programm vermisse ich Aktionen wie Land for free, über die lange gesprochen wurde.
Erleben & Höhepunkte
Die klassischen Highlights – das was man von einer europäischen Kulturhauptstadt erwartet und auch erwarten kann. findet sich im Buch1 im Kapitel "Erleben": Das Folkwang Museum mit seinen Ausstellungen über die Impressionisten in Paris oder A Star is Born. Fotografie und Rock seit Elvis Presley. Situation Kunst in Bochum mit Installationen von Serra und Nordman. Der Austellungsparcour "Die zweite Stadt" unter Zollverein, der nur als Ausblick präsentiert wird und Klassiker wie das Emil Schumacher Museum in Hagen. Und noch vieles mehr: Das Dortmunder U, die Alte Synagoge in Essen, die Moschee in Duisburg-Marxloh – an den meisten der Orte wird es Ausstellungen und Konzerte geben – noch stehen nicht alle fest, aber es werden viele sein. Das ist gut. Das muss so sein. Und wir werden sicher auch Überraschungen erleben bei den Installationen der Biennale für Internationale Lichtkunst, bei einer besonders üppigen Extraschicht, beim National Poetry Slam, beim Baukultur Salon und und und…
Kreatives
Im Augenblick lese ich das Buch "Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm" von Tim Renner über den Niedergang der Musikbranche in Deutschland. Renner erwähnt nicht mit einem Wort Dieter Gorny – das nur mal so am Rande. Dieter Gorny hat allerdings in dem Programm seine Spuren hinterlassen und die meisten davon finde ich auch gut. Klar, es wird eine Strukturförderung für den Pop-Bereich geben – die wurde ja von Gorny in seiner Zeit im Rockbüro in Wuppertal quasi erfunden. Es wir deinen Pop-Kongress geben, was nicht weiter stört, einen Verband, die Ruhr Music Commission, was zur Netzwerkbildung beitragen wird und die ist sowieso immer gut und auch die Jazzfreunde, von denen ich manchmal den schmerzhaften Eindruck habe, dass sie schon alle als Autoren bei den Ruhrbaronen tätig sind, kommen mit dem Festival in Moers und einem eigenen Netzwerkprojekt für die Musiker auch zu ihrem Recht auf Beachtung. Gorny setzt bei seinen Projekten weniger auf direkter Förderung als auf den Aufbau von Strukturen in den Bereiche Design, Pop, Jazz und Games – nicht alles davon wird über das Jahr 2010 bestand haben, aber alles was die Stadtgrenzen überschreitet und bei der Etablierung revierweiter Szenen hilft, ist gut. Da meckert man nicht.
Und auch die Kreativquartiere, die Wohn- und Lebensräume des sagenumwobenen Kreativen Klasse finde ich gut – weil ich daran glaube, dass es besser ist, wenn sich Talente konzentrieren. In dieser Frage scheint übrigens Realismus eingekehrt zu sein: "Das
Areal des Dortmunder U, das Viktoria Quartier Bochum sowie Unna-Massen stehen bereits jetzt als beispielhafte Areale fest." Zur Erklärung: in Unna soll das ehemalige Spätaussiedlerlager Künstlern zur Verfügung gestellt werden. Ob das klappt? wer weiß. Aber ich finde gut, dass in dieser Liste Zollverein fehlt. Der Traum, daraus ein Design oder sonst was Quartier zu machen scheint ausgeträumt. Das Viktoria Quartier (Umfeld des Bermudadreiecks) und die Gegend um das Dortmunder U (Klinik- und Kreutzviertel) sind gute Projekte. Das kann klappen.
Was fehlt in diesem Artikel?
Unmengen: Twins – eine Menge schöner Aktionen mit den Partnerstädten der Städte des Ruhrgebiets. Das Chortreffen !Sing, ISEA, das Festival für elektronische Kunst das Theaterquartier Ruhr auch und und und…wer sich über alles informieren will, kann sich Buch1 als PDF herunterladen. Die Kulturhauptstadt-Internetseite wurde übrigens auch überarbeitet. Auch beim Logo gibt es Neuigkeiten – daüber mehr beim Pottblog.