Selten gab es eine so dichte und beunruhigende Nachrichtenlage wie in der Finanzkrise. Die Komplexität der Hintergründe und Verflechtungen überfordern häufig sogar Experten. Erleben wir einen Epochenbruch und wenn ja, wann werden wir das wissen?
Ich habe in meinem Leben bislang zwei Epochenbrüche erlebt. Beide registrierte ich erst mit jahrelanger Verspätung. Als 1985 Michael Gorbatschow zum Generalsekretär der KPDSU gewählt wurde, kam niemand auf die Idee, dass vier Jahre später die Mauer fallen und sechs Jahre später die Sowjetunion Geschichte sein würde. In der Schule erklärten uns damals die Lehrer, dass die Bundesrepublik in spätestens zehn Jahren die DDR diplomatisch anerkannt haben wird und das Verhältnis beider Staaten so normal wäre, wie das zwischen uns und Österreich. Gorbatschow? Das einzige was man Anfangs bewusst registrierte war dass er laufen kann ohne abgestützt werden zu müssen – bei seinen Vorgängern Breschnew, Tschernenko und Andropov war das anders.
Als am 30 April 1993 das World Wide Web startete bekam ich (und die meisten anderen) davon schlicht nichts mit. Für das Internet begann ich mich Anfang 94 zu interessieren. Eines der Bücher das ich mir damals über das Internet kaufte (In acht Sekunden um die Welt) widmete dem WWW ganze zwei Seiten.
Vielleicht war das Frühjahr 2007 so ein Wendepunkt, denn damals begann die Finanzkrise in den USA – ihre Auswirkungen auf Deutschland wurden unterschätzt, die Bankenaufsicht blieb lange passiv.
Im Augenblick kann keiner sagen, wie sich das alles auswirken wird, und ob es nicht vor allem die Panik ist, die regiert. Ich weiß aus Düsseldorfer Agenturen, dass die großen Unternehmen im Augenblick hektisch ihre Anzeigenaufträge stornieren, aber auch, dass nicht wenige Vorstandsvorsitzenden froh sind, dass die Ära der jungen, oft schnöseligen Investmentbanker vorbei sein könnte, die sie auf langen Besprechungen regelrecht grillten und ihnen vorschrieben, wie sie ihre Unternehmen zu führen hätten.
Bleibt es bei diesen Auswirkungen, einer konjunkturellen Delle, dem Ende der Investmentbanker und eine Rückkehr des Bankensektors zu seiner Grundaufgabe als Dienstleister der Wirtschaft, alle wäre halb so schlimm.
Aber insgeheim wissen wir schon heute, dass es schlimmer ist. Die große Koalition steht kurz davor Banken zu verstaatlichen – die Briten haben es schon getan, die Isländer auch und die USA denken ebenfalls darüber nach. Das Geld was die Staaten im Augenblick in die Finanzwirtschaft stecken, wird sich der Staat irgendwo herholen müssen: Er wird über lange Zeit weniger Geld für Bildung oder Infrastruktur haben, ausgeglichene Haushalte werden für die nächste Zeit eine Utopie sein. Und vielleicht besinnen sich ja die Staaten auf den klassischen Weg des staatlichen Schuldenabbaus: Der Inflation. Immerhin ist der Staat der einzige Markteilnehmer, der seine Schulden dadurch zurückzahlen kann, indem er das Geld, was er dafür braucht, einfach druckt.
Aber was passiert, wenn es wirklich zu der „Kernschmelze“ kommt, von der Banker sprechen, wenn die Mikrofone abgeschaltet sind? Wenn die Finanzmärkte und die Wirtschaft komplett kollabiert? Die Maßnahmen der Regierungen (Garantien, Verstaatlichungen, massive Zinssenkungen etc.) zeigen in ihrer Massivität, wie bedrohlich die Lage ist: Hier wird nicht gegen eine kleine Krise gekämpft, hier geht es um den Erhalt des Systems. Im Kern sehen wir in der Hektik einen Staat, der gegen den drohenden Notsand kämpft. Gelingt ihm das, werden die Konsequenzen hart, aber erträglich sein. Gelingt es ihm nicht, werden wir im Nachhinein sehen, dass 2007 der Beginn eines Epochenbruchs war. Die Welt wird sich verändern, für jeden von uns und wir haben es wieder einmal nicht gemerkt (zumindest die meisten von uns). Die Massivität der Nachrichten, die Summen die genannt und die Maßnahmen die ergriffen werden, stehen allerdings im radikalen Gegensatz zum Alltag. An der Fleischtheke bei Rewe ist alles wie immer, der Intershop war gestern Abend auch nicht leerer als an anderen Tagen und auf den Straßen rollt der Verkehr wie jeden Tag. Vielleicht ist die Dramatik der Nachrichten und die gleichzeitige Banalität des Alltags ja typisch für große Katastrophen. In der Sekunde bevor der Komet einschlug und das Ende der Saurier einleitete, freute sich irgendein Brontosaurus sicher über die Blätter des saftigen Baumes, den er gerade entdeckt hatte.