Die Bank, das etablierte Medium und ein paar Blogs

Die Noa Bank ist am Ende. Sie ist ruiniert, kaputt und einfach fertig. Die Noa Bank sollte eine alternative Bank sein. Sie war wohl nur ein Bereicherungsinstrument für ein paar dubiose Gestalten.

Wie gesagt, sie ist am Ende. Die Bundesanstalt für Finanzaufsicht hat die Noa Bank vorübergehend geschlossen, die Einlagen eingefroren – das Abenteuer des Bankengründers François Jozic beendet.

Das besondere daran: Die ganze Nummer hätte jeder wissen können. Denn der Spiegel hat bereits im April über dubiose Vorgänge bei der Noa Bank berichtet.

Damals aber wusste sich Jozic zu helfen. Über die sozialen Medien – über Blogs und Co – ließ er Angriffe auf den Spiegel fahren und auf den Autoren Günter Heismann. Viele Angriffe waren unter der Gürtellinie. Einige trieb Jozic auch selbst voran. Andere kamen als Beiwagenzweifler hinzu.

Etliche Blogs sind auf die Angriffe von Jozic eingegangen.

Nun weiß man, was man manchmal von etablierten Medien hat. Die Leute, die damals auf den Spiegel gehört haben, konnten ihr Geld retten. Die Leute, die auf diese Zweiflerblogs lauschten, müssen jetzt um ihre Einlagen bangen.

Unverbrauchte Popkultur beim 15. Juicy Beats Festival

Explosiv: Jen Bender, Frontfrau Großstadtgeflüster

Die Ruhe während der Schweigeminuten vor der Hauptbühne beim juicy beats-Festival war tiefempfunden, aber nicht bedrückend. Zuvor hatte der Dortmunder Pfarrer Friedrich Laker eine Kerze für die Opfer des Unglücks auf der Loveparade entzündet. „Das Leben und die Liebe bleiben- lasst uns wieder fröhlich sein“ fügte er danach an, um eine halbwegs würdige Überleitung in die Zeit nach der Trauer zu finden.

Das große Musikfest unter Dortmunds Floriansturm markiert das schlichte Gegenteil eines klaustrophobischen Massenevents. Am Samstag waren circa 25000 Menschen über das Areal locker verteilt. Und vielleicht war es auch die Nachwirkung der aktuellen Ereignisse, die hier alles noch friedlicher zugehen ließ bei der 15. Festival-Ausgabe.
Die Organisation des Ablaufs, aber auch die konzeptionelle Vernetzung lokaler Dortmunder Kulturschaffender wiederspiegeln beim juicybeats-Festival-Bestehens das gemeinsame An-einem-Strang-Ziehen lokaler Kräfte und damit verbunden ein hohes Maß an Unabhängigkeit von kommerzieller Fremdbestimmung und hysterischem Kulturhauptstadt-Theater. Städtische Institutionen wie FZW, Jazzclub domicil, Konzerthaus Dortmund, aber auch viele Clubs und Initiativen sind mit im Boot. Das bereitet auf der grünen Wiese unterm Floriansturm der bunten Vielfalt niveauvoller Popkultur einen überaus fruchtbaren Nährboden.

Viele Neuentdeckungen und intensive Momente also auch beim 15. Festival: An die Loveparade-Gedenkminuten hätte wohl kaum eine Band stimmiger anschließen können als Tocotronic mit ihrem empfindsamen, auf sehr menschliche Weise nachdenklichen Indierock – „Lanzen für den Widerstand“ gegen bestehende Missstände inbegriffen… Aktuell appelliert Sänger Dirk von Lowtzow zum aktiven Protest gegen eine angekündigte Demonstration von Rechtsradikalen am 4. September in Dortmund.

Vollbusig: Aphex Twin, zitiert von der Soulwax-Crew

Der freche,unverbrauchte Pop, den viele junge Bands bieten, zeugt von Authentizität, bereichert mit fühlbarer Substanz. Bis zum Bersten energiegeladen und tänzerisch ausgefeilt kommt etwa der Auftritt der jungen Band „Großstadtgeflüster“ daher – sexy, frech und humorvoll sind Songs und Bühnenpräsenz der Berliner.

Gegen so etwas verbreiten die französischen „Nouvelle Vague“ schon fast so etwas wie gepflegte Langeweile. Haben die Franzosen einst charmant-chillige Bossa-Nova-Arrangements von Klassikern des New Wave produziert, so geht es jetzt deutlich stromlinienförmiger zur Sache.

Derweil kocht die Stimmung vor der Hauptbühne schon wieder. Two Many DJs zelebrieren ihr ganz eigenes Multimedia-Retro-Entertainment: Auf Grundlage wummernder Elektrobeats schnipseln die Belgier endlose Zitate aus der alternativen Popkultur zusammen und bombardieren ihre Crowd mit verqueren Animationen der jeweiligen Plattencover. Von Joy Division bis hin zur computeranimierten Vollbusigkeit des Richard D James aka Aphex Twin sorgt dieses Spektrum pausenlos für großes Hallo! Das schließt so manche Kreise zwischen dem Dekonstruktionsfimmel der 90erJahre – Postmoderne und andererseits der zeitgenössischen Youtube-Kurzclip-Kultur.

Auch in nächtlicher Finsternis lassen sich friedliche junge Menschen durch Wald und Auen treiben. Und dringen gehäuft zu den etwas verschwiegenen Standorten für die elektronische Clubkultur vor. Deren Überleben stellen so ambitionierte Initiativen wie etwa Beatplantation sicher – und auch der Essener Club Hotel Shanghai gehört zu den allerersten Adressen in Sachen House und anderes. Und von deren Betreibern wird auf juicybeats der Seepavillion bespielt. Der bietet perfekte Zuflucht in Sachen makellosem Techhouse und hypnotischen Visuals.

Derweil Klaus Fiehe den Drum and Bass Floor zu rocken weiß. In Rauchwolken gehüllt leistet der seit den späten Neunzigern unermüdliche „Mister Raum und Zeit“ sein redliches Handwerk beim Plattenauflegen in Sachen gebrochener Beats. Der älteste Radio-DJ von Einslive sorgt nach wie vor für die fortschrittlichsten Klänge auf dem Sender. Leider streikt die Technik phasenweise. Das lässt auch einen gestandenen Profi wie Fiehe in Nervosität und Verlegenheit geraten. Aber das Publikum hält ihm auch in einigen bangen, verstärker-losen Minuten die Treue. Ein einzelner Idiot, der ein Feuerzeug in Richtung von Fiehe und DJ-Bühne wirft, bleibt in Dortmund einsame Ausnahme.

Tanz auf dem Vulkan

Viele feierten auf der Halde Hoheward beim Sunset Picknick

„Man müsste viel öfter hier oben raufkommen“ – dieser Gedanke kommt immer wieder beim Hinaufwandern auf eine der Ruhrgebiets-Halden. Alles scheint in bis zu stattlichen 150 Metern über Normallnull so ganz anders als „dort unten“. Schwarze Aschefelder muten – wie auf der Halde Hoheward – fast wie eine Vulkanlandschaft an, dabei lässt eine angenehme Weitläufigkeit jede urbane Hektik mindestens so weit weg wie das unten irgendwo geparkte Fahrzeug erscheinen. Tatsache ist: Der industrielle Strukturwandel hat mitten in einer der zugebautesten Regionen der Welt neue Dimensionen von „Landschaft“ entstehen lassen!
Und auch die Beschwerdekultur seitens frustrierter Anwohner muss unten bleiben, wenn hier mal mit lauter Musik und satten Bässen Umgang gepflegt wird. Das dachten sich auch die Veranstalter vom Emscher-Landschaftspark, als im Rahmen von Ruhr 2010 zum „Sunset Picknick“ geladen wurde. Das Kalkül ging auf – bis hin zu einem postkartenreifen Sonnenuntergang nach einem dramatischen Wechselspiel der Lichtstimmungen.
Herumstehfaktor gleich Null auf dem runden Areal am Sonnenuhr-Obelisken! Vor allem, weil DJ Phil Fuldner aus Recklinghausen ganze Arbeit leistet.
„Tresor- True Spirit 1991 -3000“ heißt es auf einem T-Shirt eines Besuchers. Nun ja. Der Lauf der Zeit (auf einer Skala von 1991 bis 3000 – so vorsichtig man mit Jahrtausend-Prophezeiungen heute sein sollte…) hat im Jahr 2010 die vielen einst zukunftsweisenden Ausdifferenzierungen elektronischer Tanzmusik-Stile längst abgeschliffen zugunsteneines partykompatiblen Techhouse-Disco-80erJahre-Popzitat-Konsens-Dings. Dennoch kommt damit zu dieser Zeit an diesem Ort sowas wie der gern beschworene „Spirit“ auf – und bei dem gehört neben der lebendigen Mixkunst des Recklinghäuser DJs und der ungewöhnlichen Location vor allem die verlässliche Begeisterungsfähigkeit der Ruhrgebiets-Crowd zu den komplentären Bestandteilen!

Barbarei im Hier und Jetzt: Kornél Mundruczós „Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein“

„Gott, der du bist im Himmel. Dein eigen Fleisch und Blut,
hast du für uns gegeben. Doch wofür war das gut?
Dein Reich kommt nicht und dein Wille geschieht nicht.
Nicht im Himmel und auf Erden sowieso nicht. Nein!
Es ist nicht leicht ein Gott zu sein!…“ (Rammstein)

Die Grundidee von Religion, die Menschheit von „dem Bösen“ zu erlösen, scheitert. Ebenso ging es den totalitären Ideologien, die verschiedene Wege und Abwege für die Entwicklung des Menschen zum Vernunftwesen vorgesehen hatten. Die Sciencefictionwelt hat sich mit dem Thema spielerisch, hypothetisch auseinandergesetzt. Der Blickwinkel, aus dem so mancher Genre-Klassiker in ferne Zukunft blickt, ist ebenfalls längst Geschichte geworden. Der Roman der Brüder Strugatzki „Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein“, lässt Angehörige einer perfektionierten Zukunft zurück in die überwundene „Gegenwart“ blicken, in ein fernes Szenario archaischer Barbarei.
Der ungarische Autor und Regisseur Kornél Mundruczó hat sich in mehreren Phasen mit Strugatzkis utopischem Stoff befasst. In seiner neuen Theateradaption unter gleichnamigem Titel rückt er eine düstere Gegenwart aufs drastischste in Rampenlicht. Genauer gesagt: Im zugigen, abweisenden Ambiente eines Essener Parkhauses sollte das Premierenpublikum der aktuellen Bühnen-Adaption aus jeder Form von behaglicher Konsumentenrolle heraustreten, sollte hinsehen und Zeuge werden. Und das fiel alles andere als leicht.
Um grenzenlose Abgründe vorzuführen, in denen Menschen das Bestialische mit ihren Artgenossen anzustellen in der Lage sind, braucht man sich nur bei zahllos dokumentierter Gewalt aus jüngerer Geschichte und Gegenwart bedienen – soviel wird deutlich bei der verstörenden Darbietung im Rahmen des – immer wieder ungewöhnlich den Pfad des Gängigen verlassenden – Theater der Welt-Festivals. Mundruczó verortet sein Exempel realexistierender Menschenverachtung in die anonyme Trostlosigkeit eines Sattelschlepper-Aufliegers. Es geht um Menschenhandel, irgendwo im unsichtbaren Niemandsland zwischen dem armen Osten und dem reichen Westen Europas. Verschleppten jungen Frauen wurde die goldene Zukunft in den Konsumhochburgen versprochen. Doch bald folgt Ausbeutung bis zur Versklavung, schließlich Zwangsprostitution, Entrechtung und sadistische Erniedrigung. In Gnadenloser, sadistisch ausgeübter Gewalt weidet sich das Bühnengeschehen im Essener Parkhaus. Die weiblichen Opfer werden von ihren Peinigern mit heißem Wasser verbrüht, lebendig in der Erde verscharrt. Eine der Gefangenen unternimmt verzweifelt-brutale Versuche eines Schwangerschaftsabbruches. Die „härtesten“ Momente sind großprojizierten Filmsequenzen vorbehalten – überhaupt liegt über allem der „Youtube“-Wahn nach filmischer Dokumentation eigener Gewalt-Handlungen. Auf mehreren Ebenen greift dieses harte Extrem-Theater somit reale Zustände ab, lässt jeden einzelnen die Frage stellen, ob solche Brutalität zu zeigen ist oder nicht. Mundruczo bejaht diese Frage eindeutig, wenn er mit Theater für die Wirklichkeit sensibilisieren will.
Der ungarischen Schauspieler-Truppe muss in der so bezwingend lebensnahen Darstellung des Hinzufügens und Erleidens menschlicher Qualen eine beängstigende spielerische Größe, ja –so zynisch das in diesem Zusammenhang klingt – Spielfreude attestiert werden. Verstörende Regieeinfälle geben dem Mahlstrom der Brutalitäten eine gewisse Stringenz, zeugen von der Dialektik zwischen schöner Oberfläche und gnadenloser Wirklichkeit. Da formieren sich Opfer und Täter regelmäßig zum Musikensemble, unterhaltsame Gesangseinlagen aus Pop oder Musical zum besten gebend.
Doch helfen solche Kontrapunkte nicht dem Umstand ab, dass die zugrunde liegende Rahmenhandlung, dieses intellektuelle Gedankenspiel über Moralität und Triebhaftigkeit über weite Strecken im konstruierten Nebulösen stecken bleibt. Ein Arzt, der ursprünglich zu dieser Bande gehört, lässt humane Regungen aufkommen, schafft schließlich gar die Überwältigung der Täter. Am Rande erfährt man, dass die Film-Inszenierungen, zu denen die geschändeten, gefolterten, besudelten Frauen als Menschenmaterial zynisch herhalten müssen, einer medialen Inszenierung dienen – wie der 11. September 2001 auch eine war! Einer der Haupt-Peiniger will damit eine Weltverschwörung herbeiführen, um sich für persönlich Erlittenes zu rächen. Ein stimmiger Bogen zwischen der unbequemen Vorführung realer Gewalt zu Strugatzkis philosophischen Gedankenspielen kommt aber nur bei sehr viel gedanklicher Anstrengung zustande. Und die gelingt wohl kaum einem Zuschauer bzw. „Zeugen“ in diesem Moment.

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John Cale hat kompositorisch und filmisch in seine Kindheit hineingehört

“When you’re growing up in a small town
You know you’ll grow down in a small town
There is only one good use for a small town
You hate it and you’ll know you have to leave”

…so die letzte Strophe aus Small Town, einem Song auf dem „Song for Drella“-Album, in dem John Cale sich nochmal mit seinem einstigen Weggefährten Lou Reed künstlerisch verbunden hatte. Und auch viele Stücke auf Cales Solo-Platten spielen an auf den einstigen drängenden Wunsch nach Flucht aus nicht eben freudvollen psychosozialen Lebensumständen. Warum der spätere Velvet-Underground-Gründer dem Ort seiner Kindheit entfliehen musste, legte er jetzt in der Kokerei Zollverein schonungslos offen. Sein Live-Projekt „Dunkle Tage“ zog circa 400 Menschen in erlebte, eng gemachte Verhältnisse hinein.
Die eingespielten Filmsequenzen verweigern sich jeder Erklärung, ebenso jeder konsumierbaren Darstellung von „Handlung“. Vor allem die ausgiebigen Kamerafahrten durch die gespenstische Leere eine verlassenen Hauses laden sich – ähnlich wie in David Lynchs Filmen – mit unterschwellig bedrohlicher Atmosphäre bis zum Siedepunkt auf. Karge Gebirgspanoramen atmen abgrundtiefe Tristesse – nicht nur wegen der in der Landschaft verstreuten Hausruinen, sondern mindestens ebenso viel durch die unterlegten psychotischen Synthesizer-Klangflächen. Von Cale und seiner Band live gespielt, steigert sich ein cineastisch-experimentell gehaltener Echtzeit-Soundtrack bis in erschlagende Wucht hinein. Und das, obwohl die Klangqualität der verteilten Funkkopfhörer das Live-Erlebnis fürs Publikum etwas relativiert – leider muss man sagen! Das Gefürchtete und Verdrängte aus Cales Kindertagen kommt dem Publikum in der abgedunkelten Halle dennoch bedrohlich nahe. Eine verfremdete Computerstimme näselt Protokolle aus einem kargen Überlebenskampf in menschlich ungesundem, bigotten und komplexbehafteten Klima. Und John Cale soll zusammen mit seiner Band auch in musikalischer Hinsicht den eigenen Wesenskern aufs intensivste entfalten: Inmitten der ganzen aufwühlenden Klangwelt stehen ganze zwei Songs – und was für welche! Nach einer traurigen Klavierballade, wie sie auf Cales „Paris 1919“- Album vorkommen könnte, schreit ein zweites – von schleppenden Computerbeats angetriebenes Stück- den nie gestillten Hunger der Seele hinaus. So zumindest lautet eine mehrfach wiederholte Textzeile. Vieles von Cales berühmt gewordener expressiver Abbildungskraft bündelt dieser Moment, rückt eben diesen Song in einer Skala der stärksten Cale-Stück an ganz hohe Position.
Auch visuell entblößt Cale sein Inneres aufs mutigste. Ganz nah zoomt die Kamera auf sein vor Anstrengung verzerrtes Gesicht. Es ist gezeichnet von physischer Strapaze – aber auch vom Getriebensein von der Last unbewältigter Vergangenheit, wie sie im Einzelwesen nicht selten so manche, dunkle Seite generiert. Eine Horrorsequenz mit Cale als Opfer in einer Ertränkungsszene zeugt von der Rückkehr der Kindheits-Alpträume ins erwachsene Jetzt – an Orten wie diesen.
Kunst-Installation? Performance? Kein Etikett will so recht passen. Am Ende wirkt es fast wie eine Erlösung, als John Cale mit seinen Mitmusikern aus den Studiokabinen hervorkommt, sich in lässiger Freundlichkeit für den reichlichen Applaus bedankt. Durchwachsen fallen die aufgeschnappten Bemerkungen beim Wiederhinausdrängeln aus der Kokerei-Halle aus, ganz unterschiedliche Erwartungshaltungen und Erfahrungshorizonte in Sachen experimenteller Kunstformen wiederspiegelnd.
Die hier gespielte Musik bleibt Unikum, sollte sie doch auf Cales Wunsch nur hier zu diesem Anlass und im Zusammenwirken mit der kolossalen Bilderwucht funktionieren. Aber das Anhören vorhandener Cale-Aufnahmen – vor allem den Mitschnitt seines legendären Essener Rockpalast-Konzertes aus dem Jahre 1984! – hat eine Tiefendimension dazu gewonnen.

www.theaterderwelt.de

Unprojekte-Festival 2010: das Votingergebnis steht fest

Der Ruhr 2010-Hype hat selektiert. In Projekte, die bei der Bewerbung erfolgreich waren- und in alle Un-Projekte, die aus der Wahl rausfielen. Der Verein unprojekte e.V. demonstriert, dass sich hier viel spannende Off-Kultur lebt – und hat sich mit einem Internet-Voting für öffentliche Präsenz stark gemacht. Vom 14.8. bis 12.9. steigt auf dem Essener Kopstadplatz nun ein großes Unprojekte-Festival.

Zwar läuft das Unprojekte Online-Voting noch bis zum Jahresende – aber für das Festival wurde am 31. Mai eine Zwischenauswertung durchgeführt.

Die zehn Unprojekte mit den meisten Stimmen bilden einen Querschnitt durch fast alle Bereiche von Kunst und Kultur:

Auf Platz 1: „Krabat“ – ein Jugendstück der Naturbühne Hohensyburg e.V. Dortmund ist der Zwischensieher. 12 Theateramateure zwischen 15 und 23 Jahre erarbeiteten eine Inszenierung, die Klassisches nicht verdammt und gleichzeitig Modernes begrüßt. Krabat auf der ambitionierten Freilichtbühne Hohensyburg – alter Stoff, neues Gesicht. KRABAT – Jugendstück an der Naturbühne Hohensyburg e.V. Dortmund

Auf Platz 2: Die Kunstfigur „Emmi“ ist der Saxophonstar in spé und will mit ihrem „verdeckten Straßenmusiktheater“ 2010 alle 53 Kulturhauptstädte bespielen! Ihr treffendes Motto lautet: EMMI tourt RUHR.53*2010: Remmidemmi mit Emmi. Alle Proben sind öffentlich.

Auf Platz 3 und 4: Selbermachen ist offensichtlich sehr beliebt, denn die „Pottmode“ zum nachschneidern liegt auf den Plätzen drei und vier. Aus einem alten Grubentuch wird der ultimative „Strawberry-Bag“ und bietet viel Platz für alle Dinge rund um die Kulturhauptstadt. Die Stoffpuppe „Bred Pott“ hat einen vollrecycleten Body, seine modische und praktische Kleidung ist aus Grubentüchern und seine Lockenpracht aus Tante Hildegards Pullover-Resten. „BredPott“ wurde von Bea Saxe mit all ihrer Liebe zum Ruhrpott aus Stoffresten designed und kann in Workshops mit ihr nachgearbeitet werden.

Auf Platz 5: Dass die Ruhrgebietler einen Faible für Wahnsinn haben, belegt das Fotoprojekt „Telefonzellenwahnsinn“. Diese Doku-Mission der Essener Designstudentin Sarah Lüder erforscht die unberechenbare Spezies Ruhrie-Mensch. Bei Shootings haben sich öfters schon Menschentrauben um die Telefonzelle gebildet – gerne können sich weitere wahnsinnige Freiwillige melden… Telefonzellenwahnsinn

Auf Platz 6: Das kommunikative Brettspiel „aufRUHR! – das RuhrCity-Spiel“ wurde von Turit Fröbe an der Universität der Künste in Berlin entworfen. Das Spiel versteht sich als frecher, liebevoller Kommentar zur aktuellen Diskussion um die Zukunft des Ruhrgebiets. Wer immer schon einmal Bürgermeister einer Ruhrstadt sein wollte und z.B. per Bestechungskarte seinen Konkurrenten in Schach halten wollte, für den ist dieses unterhaltsame Brettspiel genau das richtige. Das Ruhrstadtnetzwerk bereitet derzeit die Markteinführung vor. Dieses Unprojekt ist bald nicht länger unrealisiert!

Auf Platz 7: Das Unprojekt „echtzeitmusik2010“ widmet sich improvisierter und experimenteller Tonkunst in der Kulturhauptstadt. www.echtzeitmusik2010.de gibt improvisierter Musik eine Plattform, bringt außerordentliche Veranstaltungen hervor und sorgt für Vernetzung. Die Initiative soll außerdem helfen, tonkünstlerische Veranstaltungen im Dickicht der überfrachteten Eventlandschaft 2010 zu finden. echtzeitmusik2010

Auf Platz 8: Sie hat rotes Haar und Sommersprossen, wird im Amazonas als Gottheit verehrt und deckt Denkfehler bei Kant auf – wenn sie nicht gerade drei-Minuten-Eier in zwei Minuten kocht. Die virtuelle Kunstfigur „Copperhead Coppinski“ betreibt das Atelier für Sinnfreie Kunst, ist Mitglied des von ihr mitgegründeten Netzwerkes „Kulturbeutel Europas“ und belegt Platz 8. Frau Coppinski und ihre Kulturbeutel sind eine Initiative der Künstlergruppe HELLS PINSELS, Essen. Die HELLS PINSELS stehen für absurden Garagenpunk in Malerei und Literatur.

Auf Platz 9: Für den Maler JonBonKrolli sind in seiner Bilderreihe „Faces & Facts“ die Körper der Ruhrstädter grau – ihre Seelen bunt. Die detailverliebten, multidimensionalen und frei interpretierbaren Bilder belegen Platz 9 und beweisen, dass bislang ungezeigte Kunst durchaus viele Freunde finden kann.

Auf Platz 10: Last but not least finden sich auf Rang 10 die Macher eines Festivals, das dem Menschen in seiner Ganzheit gerecht werden will. Körper, Geist und Seele sollen sich Wohlfühlen. Beim „Feelgood-Festival“ gibt es für die Besucher Vorträge und Workshops, viele Informationsstände, Lesungen, Gongmeditation und weitere tolle Acts.

Im Rahmen des Unprojekte-Festivals bekommen diese zehn Unprojekte zusätzlich zu den vielfältigen Realisierungsmöglichkeiten jeweils an einem Tag eine Stunde Zeit, um vor geladenen Besuchern, potentiellen Sponsoren und Presse ihre Projekte ausführlich vorzustellen. Darüber hinaus gibt es für diese Top10-Unprojekte im Herbst eine separate Ausstellung in der Bar „Banditen Wie Wir“.

Weitere Infos unter gibt es hier: klack

Belgisches Musiktheater konfrontiert die Idylle mit der Banalität des Bösen

„Das deutsche Volk ist kein Volk mehr aus Dichtern, Träumern und Romantikern, sondern weiß ganz genau was es will“ schwadronierte Joseph Goebbels. Ein ehemaliger SS-Angehöriger räumt bei später Befragung ein, dass er und seine Kameraden viel wollten. Aber es war ein gemütsstumpfes Wollen, kopflos -ohne Idee und Ziel.

Erforscht ist heute, welch bizarr scheinende Züge von Normalität das Involviertsein in die Vernichtungsapparate aufwies. Eine solche Erkenntnis spielerisch-ästhetisch erfahrbar zu machen, ist das Anliegen des Antwerpener „Muziektheaters Transparaant“, und es nutzt dazu einen bizarren Reibungseffekt: Den Aussagen ehemaliger SS-Angehöriger steht so ziemlich das idyllischste gegenüber, was je aus dem Schoss deutscher Kultur gekrochen ist – sehnsuchtstrunkene Lieder aus Franz Schuberts Feder! Sie werden im Dortmunder Freizeitzentrum West (FZW) in lupenreiner Kunstfertigkeit vom Vokalensemble Gent aufbereitet. Dazu agiert ein Schauspieler-Duo als ehemalige belgische SS-Kollaborateure.

Die Wahrer des Guten, aber auch die Wegbereiter des Bösen sind im Zweifelsfall mitten unter uns – unter bestimmten Voraussetzungen sogar in uns. Um dies klarzumachen, verneint das Projekt unter Federführung des belgischen Starregisseurs Josse de Pauw jede Frontal-Situation zwischen Darstellern und Publikum. Alle sind in einem großen Rund integriert. Sowohl die 12 Schubert-Sänger wie die beiden belgischen „SS-Kollaborateure“ sind optisch nicht von den lässig gekleideten Zuschauern zu unterscheiden, bevor sie sich aus ihren Reihen erheben. Anfänglich zögernd, mit gebrochener Stimme, dann sicherer werdend und schließlich in einem hervorsprudelnden Wasserfall redet sich die einstige Krankenschwester im SS-Lazarett (Carly Wijs) die Seele vom Leib. Erzählt groteskes, grausames, banales, entwaffnendes. Obwohl im Dienst mörderischer Machthaber, musste sie es als zutiefst menschlich empfinden, das Leiden schwerverletzter SS-Soldaten zu lindern helfen. Ja, von Heinrich Himmler wurde sie auch mal nett gegrüßt. Das Gros der unzähligen Funktionsträger zur Herbeiführung von Massenmord und Vernichtungskrieg gehörte keiner Monster-Gattung an, sondern funktionierte scheinbar „normal“. Ebenso der männliche Gegenpart in dieser Anordnung (Tom Janssen). Er wollte „irgendwo mitmachen“ und schloss sich freiwillig der Waffen-SS an. Jugendliche Begeisterung statt schlimmer Gräuel-Enthüllungen. Und eine erschreckend unspektakuläre Befindlichkeit im Einklang mit beliebigen „Zeitumständen“. Hannah Arendts klassisch gewordenes Etikett von der „Banalität des Bösen“ scheint sich hier im Mikrorahmen zu bestätigen. Und die Konfrontation mit zehn Schubert- Liedern erzeugt ähnliche beklemmende Assoziationen wie beim Besuch ehemaliger Konzentrationslager, wo die Folterbaracken allmählich wieder von unschuldsvollem Grün überwuchert werden. (Die zynische Diskrepanz geht bekanntlich weiter bei den Namen jener Orte, die zu Synonymen totaler menschlicher Barbarei geworden sind: Buchenwald, Birkenau etc. – Namen, die ohne ihre ewige Konnotation wie Orte romantischer Natur-Idylle anmuten würden).

Die letzte Musikdarbietung distanziert sich vom reinen, edle Gefühle transportierenden Schubert. In verstörenden Dissonanzeffekten „verbiegen“ die Sänger effektvoll die romantische Melodie des Original-Liedes „Ruhe“, lösen dies schließlich in karger Fläche auf. Schon längst hat in den Köpfen ein analoger Prozess begonnen, den dieser musikalische Wendepunkt sich nochmal abzubilden anschickt.

Nach 75 Aufführungsminuten gibt es Fragen, Fragen, Fragen – und kaum Antworten. Damit ist das Ziel erreicht. Seit 2002 provoziert das Muziktheater Transparaant mit diesem Stück auf internationalen Bühnen Diskurs und Reflexion. Seine exakt 100. Aufführung bildete einen Höhepunkt beim noch jungen Dortmunder „Klangvokal“-Festival, das im Kulturhauptstadtjahr in zweiter Auflage vielseitig-kreativ in die Vollen geht.