„Lagebild Antisemitismus“: Ein Blick mit dem Verfassungsschutz auf die Documenta

Boykott, Deinvestment, Sanktion: Schaufenster eines jüdischen Geschäfts in Berlin oder Oldenburg | Georg Pahl CC BY-SA 3.0 de

Im Mai will die Documenta über BDS diskutieren: B wie „Art“, D wie „Freedom“, S wie „Solidarity“. So der Titel der Talkreihe, die Übersetzung erinnert an „Freedom, Justice, Equality“, das ist der Claim, den sich der antisemitische BDS selber gegeben hat. Augenzwinkernd erklärt die Documenta, dass „deutsches und internationales Antisemitismus- und Rassismus-Verständnis divergieren“. Jetzt hat der Verfassungsschutz erklärt, wie er das sieht und hat sein „Lagebild Antisemitismus 2020/21“ veröffentlicht.

Die Kassler Documenta, renommierte Ausstellung für zeitgenössische Kunst, hat ein Problem mit BDS, der Kampagne für den Boykott von Art + Freedom + Solidarity. Im Mai 2019 hatte der Deutsche Bundestag mitgeteilt, die Argumentationsmuster und Methoden von BDS „sind antisemitisch“, deren Boykott-Aufrufe erinnerten an die der Nazis. Das würden andere anders sehen, erklärt die Documenta jetzt, die ohne BDS nicht können möchte. Bei dem, was der Bundestag sehe, handele es sich um eine „besonders sensibilisierte diskursive Kultur“, Holocaust und so. Ganz anders sei dies „in den Staaten des Globalen Südens“, dort werde „die Kritik am Handeln des israelischen Staates“  –  denn darum gehe es ja, um „Kritik“  –  dort werde sie „anders wahrgenommen“.

Zu den Staaten dieses globalen Südens werden, je nach Lagebericht, China und die Ukraine gerechnet, Libyen und die Türkei, Pakistan und Somalia, Jordanien und Mali, Äpfel und Birnen, insgesamt stehe es  –  die Documenta spielt diese Karte lässig aus  –  insgesamt stehe es rund eins zu 125, die 125 seien nämlich alle eins. Ein unfassbar herrisches, ein meta-koloniales Denken, das aus dem Fridericianum tönt wie Cecil Rhodes vom Ross. Herrisch im Texten wie im Casting:

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„Schade um die Documenta“. Die postkoloniale Drehtür (III)

Documenta Bookshop closed by Kippelboy (CC BY 4.0)

Eine Menschheitsvision tritt ein und BDS heraus. „Der Blick des Globalen Südens“ fällt hinein und eine Documenta heraus mit  –  Stand heute  –  mehr als einem Dutzend BDS-Akteuren und -Apologeten. Mit denen hat Natan Sznaider, selbst Teil der Kassler Performance, eher kein Problem, wohl aber mit einer deutschen Kulturelite, die sich  –  siehe „Initiative Weltoffenheit“  –  ihr trans-nationales Selbstbewusstsein unbedingt von BDS zertifizieren lassen will. Und dabei eine „wirklich kolonialistische Denkstruktur“ beweist, weil sie denkt, sie könne sich „die Documenta einmal von den ‚Leuten aus dem Süden‘ machen lassen und sich dann zurücklehnen und sich das angucken.“  –  Dritter und letzter Teil einer Lese von Natan Sznaiders „Fluchtpunkte der Erinnerung“.

Hier „Weiße“, dort „Nichtweiße“, hier „Kolonisierende“, dort „Kolonisierte“, hier der Westen, dort der globale Süden: In Kunst und Kultur denkt man schon länger geo-ästhetisch, in der Kulturpolitik geo-politisch, so auch in Kassel. Seit 1955 gilt die dortige Documenta als eine der bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst weltweit, selbstverständlich sind mit der Berufung eines international respektierten Kurators präzise Erwartungen verbunden.  Bei der Vorstellung von Ruangrupa, dem kuratorischen Kollektiv aus Jakarta, das sich dem postkolonialem Denken verpflichtet sieht, erklärte die Hessische Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn (Die Grünen) im Februar 2019: „Die Documenta muss provozieren, sie muss auch immer wieder anstößig sein.“

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Die postkoloniale Drehtür (II): Natan Sznaider über den jüdischen Blick von Hannah Arendt und Edward Said

Frantz Fanon: We revolt because … Mural at Minneapolis Police Department by Tony Webster CC-BY 2.0 zugeschnitten auf 3.2-Format

Es ist die Visitenkarte der Aufklärung: dass sie für alle Menschen aller Zeiten gültig sei, Albert Memmi hat diese Idee als „Luxus“ bezeichnet: Luxus für Juden, die in Gesellschaften leben, in denen sie erst akzeptiert werden, wenn sie keine Juden mehr sind. Israelis schon mal gar nicht. Teil 2 der Natan-Sznaider-Lese.

Zu der Bilanz von Albert Memmis Jahrhundertleben  –  1920 in Tunis geboren, 2020 in Paris gestorben  –   zählt Sznaider die Einsicht, dass es politischer Irrsinn sei zu glauben, „Marxismus und Sozialismus ließen sich als universal gültige Modelle beliebig exportieren“. In der Tat ist dieser Ideen-Export nur mäßig erfolgreich gewesen, heute wird eher in Gegenrichtung gedacht: Ob Kolonialismus nicht nach Europa importiert worden sei, der eigentliche Weg also gar nicht von Paris nach Tunis, sondern von Windhuk nach Auschwitz geführt habe? Und ob es daher nicht der Rassismus sei, der den Antisemitismus hervorbringe, der universale Hass den partikularen?

In einer globalen Welt, schreibt Natan Sznaider, will eine globale Elite so etwas gerne glauben.

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Die postkoloniale Drehtür (I): Natan Sznaider über eine deutsche Debatte

Revolving door 2014 by Hernán Piñera (CC BY-SA 2.0 auf 3.2-Format zugeschnitten)

Im Mai wird die Documenta diskutieren. Über den russischen Krieg? Über Israel. Eingeladen ist  –  neben manchem BDS-Versteher  –  auch Natan Sznaider, ihn erstaunt seit langem „die Leichtigkeit“, mit der Israel „als weiße, europäische Kolonialmacht“ gelabelt wird. In seinem jüngsten Buch zeichnet der israelische Soziologe die Gedankengleise nach, die zu sehr verschiedenen Beschreibungen des jüdischen Staates führen: Ist Israel, diese Gesellschaft aus Flüchtlingen aller Länder, „ein Projekt der Emanzipation oder ein kolonialistisches Projekt? Kann es beides gleichzeitig sein?“  –  Teil 1 einer Sznaider-Lese, es treten auf Alfred Dreyfus und Albert Memmi, Claude Lanzmann und Frantz Fanon, Achille Mbembe und Karl Mannheim und natürlich Hannah Arendt.

„Fluchtpunkte der Erinnerung“ hat Sznaider, Professor für Soziologie am Academic College in Tel Aviv, sein Buch betitelt, es beginnt mit dem Satz „Bis Mitte März 2020 war in Deutschland die Welt der Kultur noch in Ordnung“, dann erschien ein Beitrag auf diesem Blog: Die Intendantin der Ruhrtriennale, Stefanie Carp, hatte in einem dritten Anlauf versucht, BDS-Promoter auf ihre Bühne zu laden, diesmal den Historiker Achille Mbembe. Auf diese Weise kam zwar nicht BDS, die internationale Kampagne für die Denunziation von Demokratie, auf die große Bühne, wohl aber eine Debatte „über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus“, so der Untertitel von Sznaiders Buch.

Aufgewachsen ist Sznaider als Staatenloser im Badischen, mit 20 Jahren ist er „aus Deutschland weg“, schon deshalb ist sein Blick auf die deutsche Debatte „der Blick des Fremden, des gleichzeitig dazu- und nicht dazugehörenden Menschen“.

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„Holocaust in der Ukraine“: Boris Zabarko, Historiker des Holocaust, entkommt erneut

Babi Jar by Mark Voorendt CC BY 3.0

Er hat Erinnerungen von denen gesammelt, die entkommen sind. „Verspätete Zeugnisse“ hat Boris Zabarko diese Berichte genannt, sie bezeugen einen „Vernichtungsschlag gegen die europäische Zivilisation“. Sein Werk wird mit Claude Lanzmanns‘ „Shoah“ verglichen. Jetzt musste der Historiker, 86 Jahre alt, erneut fliehen, vergangene Woche konnte er mit Tochter und Enkelin nach Deutschland entkommen. Und stellt uns vor die Frage, ob sich Geschichte wiederhole.

Am 27. September 1941, einem Schabbat, trafen sich höhere Wehrmachts-, SS- und Polizeifunktionäre in Kiew und beschlossen, alle Juden der Stadt zu „evakuieren“. Montags und dienstags wurden 33.771 Menschen nach Babi Jar verbracht, einer idyllisch bewaldeten Schlucht vor der Stadt, in der sie ermordet wurden: “Aber ich riss mich los und entkam.”

So berichtet es Michail Rosenberg, er war 8 Jahre alt, als die Deutschen kamen, um ihn und seine Familie in den Tod zu transportieren: “Mutter hielt mich ganz fest, drückte mich an sich und sagte: Wenn wir sterben, dann zusammen, damit du nicht leiden musst.’ Aber ich riss mich los und sprang durchs Fenster …”

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Ukraine: Käßmann, Kurschus, gerechter Krieg

Warschau Altstadt 1945 by Polish Press Agency Public Domain

„Sie brauchen mehr als unser Mitgefühl und unsere Gebete.“ Sagte die Präses der westfälischen Landeskirche, Annette Kurschus, Anfang März der Funke Mediengruppe. Seit November 2021 ist Kurschus, was Margot Käßmann bis Februar 2010 war, Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, sie stellt fest: „Ihr Land“, das der Ukrainer, „wurde willkürlich und bösartig überfallen, sie haben das Recht, sich zu verteidigen.“ Und dann dieser Satz: „Wer bin ich, ihnen ins Gesicht zu sagen, sie sollten dazu Pflugscharen benutzen.“

Blamiert hat Putin alle und alles, Pop und Politik, Wissenschaft und Wirtschaft, Medien und Kommentatoren, Kultur und Kirche, Käßmann und „Konkret“ und so weiter: Nicht dass Putin diesen Krieg führt, sondern wie er ihn führen lässt, wirft jeden, der dachte, er sei auf Höhe der Zeit, hinter sich selber zurück. So schlau wie heute war gestern kaum wer, gerade weil die Bilder aus der Ukraine heute so aussehen wie gestern die in der NS-Wochenschau. Die „Zeitenwende“, die alle erspüren, geht auf eine Impression zurück, einen Sinneseindruck, der das Denken verändert. Beispiel: die evangelische Kirche.

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„Lieber Wolodymyr Selenskyj, wir können Sie sehen“

Katrin Göring-Eckardt im Juni 2017 (c) Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen CC BY 2.0

Nein, Katrin Göring-Eckardt hat den ukrainischen Präsidenten nicht gesehen. Er wurde dem Deutschen Bundestag live aus Kiew zugeschaltet, um sich 5:37 lang anzuhören, wie ihm die grüne Vizepräsidentin seine Welt erklärt.

Es war eine gespenstische Inszenierung gestern im Bundestag, sie war es nicht erst nach der Rede, mit der Wolodymyr Selenskyj die bundesdeutsche Politik beschämt hat, die daraufhin sehr betont zur Geschäftsordnung überging, sondern war es von Beginn an: der ukrainische Präsident gleichzeitig zugeschaltet und weggeblendet. Er wurde ins Bild gerückt, dann baute sich Göring-Eckardt davor auf.

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Kultur im Krieg: Truppenbetreuung oder Le Pop pour Le Pop

Marilyn Monroe 1954 performing for troops in Korea by U.S. Dept. of Defense – Public Domain

Pop-Kultur war immer beseelt von Gewissheit. Völlig fraglos, ob auf der Bühne oder davor, dass man bezaubere und überzeuge und falls doch einmal widerlegt, dann nur durch Pop, niemals durch Panzer, durch Putin schon gar nicht. Eine schöne Gewissheit, sie schält sich gerade täglich ab, es ist ernüchternd. Wenn Pop-Songs, die gegen Putin ins Feld geführt werden, so alt sind wie die Waffen, mit denen Putin diesen Pop bekriegt, gibt es nichts mehr zu tun. Vielleicht ist das eine Chance.

Russland bekämpft die Ukraine, Putin bekämpft den Pop. In seiner Kriegserklärung sprach der postsozialistische Diktator vom „kollektiven Westen“, der drauf und dran sei, „unsere traditionellen Werte zu zerstören“  und „Pseudo-Werte aufzuzwingen, die uns, unser Volk, von innen heraus zersetzen würden“.

Dagegen demonstrieren JuSos und JuLis, Grüne Jugend und Junge Union gemeinsam, am Ende ihrer Demo vorm Bochumer Rathaus ein Lied, das alle kennen, „Ein bisschen Frieden“, Nicoles Siegessong beim Eurovision Song Contest von vor 40 Jahren, jetzt frisch interpretiert.

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Saul Friedländer, Dan Diner ua: „Ein Verbrechen ohne Namen“

Saul Friedländer im Dezember 2010 | Foto Christliches Medienmagazin pro cc 2.0

Ein Büchlein mit vier Texten plus einem Vorwort, gestern erschienen. Drei der vier Texte sowie Vorwort stehen ähnlich bereits im Internet, dennoch ist dieses 94-Seiten-Buch ein 94-Seiten-Gewinn, es bündelt. Und zwar „Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust“. Die Autoren: Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Dan Diner. Ihr Ton: höflich, leicht genervt. Ihr Adressat: Die postkoloniale Forschung, die benutzt werde und sich benutzen lasse, „um zu attackieren“. Wen? Israel, die Juden. Eine Schnell-Lektüre.

Ende 1952 hielt Theodor Heuss, Präsident einer drei Jahre jungen Republik, eine Rede in Bergen-Belsen, dem Konzentrationslager, das als Drehscheibe gedient hat dafür, Menschen durch Arbeit zu vernichten. „Wir haben von den Dingen gewusst“, sagte Heuss, findet aber für das, was er beschreibt, keinen Begriff, es sei „etwas Neues geschehen.“ Für Norbert Frei ist diese Formulierung, „den ‚Zivilisationsbruch‘ erspürend“, ihrer Zeit voraus. Frei, Seniorprofessor für Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Jena, schlägt in seinem Beitrag  –  ursprünglich in der SÜDDEUTSCHEN erschienen, jetzt deutlich erweitert  –   einen souveränen Bogen vom 23. Mai 1949  –  das Grundgesetz wird parlamentarisch verabschiedet  –  zum 23. Mai 2021: Der postkoloniale Theoretiker Anthony Dirk Moses zieht erstens gegen die Erinnerungskultur vom Leder, zweitens gegen Juden und drittens gegen Israel.

Eine hochattraktive Mixtur „nicht nur für Verfechter linker Identitätspolitik“, so Frei über diesen postkolonialen Dreiklang, „sondern auch für die intellektuelle Rechte“. 

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3D-Test: Doppelstandard, Demokratie, Documenta 15

Joseph-Beuys-Straße mit 7000 Eichen, Soziale Plastik documenta 7. Foto: Baummapper Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE

Kunst, die Kunst boykottiert, ist keine. So wenig wie eine Demokratie, die Demokratie boykottiert, demokratisch ist oder ein Dialog dialogisch, wenn er den Dialog verweigert. Das ist so einfach zu begreifen wie die Tatsache, dass BDS, die Diffamierungskampagne gegen das demokratische Israel, eine zutiefst antidemokratische Bewegung ist, ihr ist die Freiheit der Kunst so egal wie die der Palästinenser. Und doch wird  –  so wie dieser Tage im Vorfeld der 15. Documenta, der international geachteten Schau für zeitgenössische Kunst  –  wieder und wieder debattiert, ob es nicht doch gehobene Kunst sein könnte, jüdische Kunst zu boykottieren. Es nisten sich Doppelstandards ein im Denken. Das Perfide daran ist, dass diese Dauerdebatte selbst jene Erinnerung in den Dienst gestellt hat, die den ermordeten Juden gilt: Ich zucke seit längerem zusammen, wenn ich das Wort von der „besonderen deutschen Verantwortung“ höre, die Israel gelte. Nicht, weil es eine solche Verantwortung nicht gäbe, sondern weil sie immer dann bemüht wird, wenn es so gar nicht um sie geht.

Im Mai 2019 hatte der Bundestag die Diffamierungskampagne gegen das demokratische Israel, BDS, nicht als antidemokratisch, sondern als antisemitisch verurteilt und nur deshalb, weil antisemitisch, als eine Bedrohung „auch für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung“. Die Abgeordneten beriefen sich bei ihrer Einschätzung auf eine „besondere historische Verantwortung“, die Deutschland gegenüber Israel habe. Was sicherlich stimmt, aber vor die Frage stellt: Wäre BDS okay, wenn es keine „besondere historische Verantwortung“ für Israel gäbe?

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