Morde am Frankfurter Flughafen – der Uka, die Kufar und die Mär vom Einzeltäter

Arid Uka

Am 2. März 2011 hat der 21 Jahre alte Kosovo-Albaner Arid Uka am Frankfurter Flughafen auf US-Soldaten geschossen. Zwei GI´s erlagen sofort den hinrichtungsartigen Kopfschüssen, ein weiterer ringt noch mit dem Tode. Dass nicht mehr Blut geflossen ist, lag ausschließlich daran, dass die Tatwaffe nicht völlig in Ordnung war. 

Tatzeit war kurz nach 17:00 Uhr am Mittwoch. Am Donnerstag Nachmittag (!) sickert durch, dass die Morde vermutlich politisch motiviert sind. Was wird man bis dahin angenommen haben? Unbezahlte Spielschulden? Eine Eifersuchtstat? Eine Drogengeschichte? – Wie dem auch sei. Der Täter, also Arid Uka, handelte aus islamistischen Motiven. „Der mutmaßliche Täter“ muss es heißen; denn im Rechtsstaat gilt die Unschuldsvermutung. Und deshalb „anonymisiert“ der stellvertretende Generalbundesanwalt Rainer Griesbaum – am Freitag (!) – den mutmaßlichen Täter als Arid U. und vermutet „die Tat eines radikalisierten islamischen Einzeltäters“. Schließlich hat Arid Uka dies in seinem Geständnis genau so gesagt.
Griesbaum äußerte in dieser Pressekonferenz „nur hypothetische Zweifel an der Einzeltäter-Theorie“, so der Spiegel. Zwar: „Wahre Einzeltäter sind unter dschihadistischen Attentätern selten“, weiß man dort, „aber es gibt sie. Arid U. könnte ein solcher Fall gewesen sein.“ Könnte sein, könnte aber auch nicht sein. Spiegel-Leser wissen nicht mehr.

Welt Online wusste schon am Freitag Morgen um sieben, dass man selbst nichts weiß und die Polizei leider auch nicht: „Dem ersten Anschein nach war Arid U. ihnen unbekannt. Er war weder durch Propaganda noch durch Kontakte in einschlägige islamistische Kreise aufgefallen.“ Unter diesen Umständen kann freilich – klare Sache – „den Sicherheitsbehörden kein Vorwurf gemacht werden“.
Ohnehin sollte man mit Vorwürfen vorsichtig sein, und nach dem ersten Anschein hält man am besten ganz den Mund. Oder man bringt einen Artikel mit der Überschrift „Mord mit vielen Fragen“ – wie die Welt in dem zitierten Beitrag, demzufolge „den Sicherheitsbehörden kein Vorwurf gemacht werden“ kann. 

Im Laufe des Freitags klärten sich einige der vielen Fragen auf, so dass Welt Online eine neue Frage aufwerfen konnte; nämlich diese: „Handelte der Frankfurter Islamist wirklich allein?“ Nach Ansicht des stellvertretenden WAZ-Chefredakteurs Wilhelm Klümpersteht diese These auf wackligen Beinen, da er sich bereits vor Jahren mit einem radikal-islamistischen Deutsch-Syrer getroffen haben soll. Dieser sitzt seit seiner Rückkehr aus Pakistan im Gefängnis. Überdies entdeckten die Ermittler unter den 140 Facebook-Freunden des Attentäters auch namhafte radikale Salafisten.“
Bei dem Deutsch-Syrer handelt es sich um Rami M., der in Weiterstadt bei Frankfurt einsitzt und auf seinen Prozess wegen Mitgliedschaft in der “Islamischen Bewegung Usbekistans“ wartet. „Rami M. gilt“, so das hessische Nachrichtenportal nh24, „als einer der bekanntesten Islamisten Deutschlands.“ „Zwei Freunde im Dschihad“ heißt der Bericht über Arid Uka und Rami M., der im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet seine „Aufgabe“ in der „Unterstützung des heiligen Dschihads“ gesehen hatte – mit der Aussicht auf einen „Märtyrertod“.

Arid Uka lebte eine Weile gemeinsam mit Rami M. in einem Mehrfamilienhaus. In Frankfurt hatte Uka auch Kontakt zu „Haddid“, einem gewissen Zainulabuddin N., den die Frankfurter Polizei zur Beobachtung ausgeschrieben hatte. „Es gab den Verdacht, er wolle nach Afghanistan reisen, um sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen“, schreibt der Spiegel. In diesem Januar sei „Haddid“ von US-Truppen festgenommen, inzwischen jedoch aus Mangel an Beweisen wieder auf freien Fuß gelassen worden. 

Die Einzeltäter-Hypothese bestimmt auch jetzt noch die Berichterstattung in Deutschland, obgleich es seit Donnerstag „erste Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund gegeben (hat). Laut Berichten des Hessischen Rundfunks, von NDR Info und dem Berliner „Tagesspiegel“ soll der Täter, der gestern zwei Menschen tötete und zwei weitere schwer verletzte, Kontakte zu islamistischen Kreisen haben. Die Medien berufen sich dabei auf Informationen aus nicht näher genannten Ermittlerkreisen, die angegeben hätten, dass sich der Angriff gezielt gegen die amerikanische Armee gerichtet habe“ (Tagesanzeiger).
Arid Uka, der Frankfurter Attentäter, hatte sich nicht allzu sehr um Konspiration bemüht. Auf Facebook, wo er den Kampfnamen „Abu Reyyen“ trug, verfasste er regelmäßig Einträge, die den Dschihad, den heiligen Krieg, preisen. Am 7. Januar 2011 bspw. stellte er diese Zeilen ins Netz:

und selbst wenn jemand zum Jihad ausrufen würde na und?
das ist nun mal teil dieser schönen religion.
man darf nun mal Kufar [Nichtmuslime, W.J.] bekämpfen wenn man angegriffen wird.
Abu Maleq [aka Deso Dogg] ich liebe dich für Allah!
 

Dies konnte den deutschen Sicherheitsbehörden freilich nicht verborgen geblieben sein. Seit mehreren Wochen sollen sie über Arid Uka informiert gewesen sein. Dass sich das Bundesamt für Verfassungsschutz dabei Arid Ukas, „Abu Reyyens“, Netz aus Facebook-„Freunden“ genau angesehen hatte, ist wenig spektakulär, im Grunde eine Selbstverständlichkeit. Sollte sich jedoch herausstellen, dass der Verfassungsschutz über fast jeden Schritt Ukas genauestens informiert gewesen wäre, könnten die Morde vom Frankfurter Flughafen den Ausgangspunkt für eine Geheimdienst- bis hin zur Staatsaffäre bilden.
Das Bundesamt, aber auch das hessische Landesamt für Verfassungsschutz haben Geheimdienstexperten zufolge Arid Uka engmaschig überwacht. Sein Festnetzanschluss, so heißt es aus Fraport-Kreisen, habe der Telefonüberwachung unterlegen, sein Mobiltelefon soll ständig gepeilt worden sein. Üblicherweise werden aus diesen Daten Bewegungsprofile erstellt, die permanent erneuert werden.
Nun wusste man ohnehin, wo sich Arid Uka aufhielt. Die Frage wäre nur, wenn auch nur einige dieser Informationen zuträfen, weshalb der Attentäter überhaupt im Sicherheitsbereich des Flughafens beschäftigt sein konnte. Sollten jedoch alle diese Informationen unzutreffend sein, die Verfassungsschutzämter also keinen blassen Schimmer davon gehabt haben, was für eine Dschihad-Hetze Arid Uka auf Facebook betrieben hatte, ergäbe sich daraus eine ganz andere Frage. 

Ich bin überzeugt davon, dass die Herren Schlapphüte über den 21-jährigen späteren Mörder bestens Bescheid wussten. Ich hätte nur noch ganz gern gewusst, was in dieser Sache warum so grandios schief gegangen ist. Die Schlapphüte werden es mir nicht sagen. Aber die Amerikaner möchten es auch gern wissen. Die Eltern der Ermordeten und die Kameraden, die New York Times und CNN, Pentagon und CIA sowieso. Deshalb, hochgeschätzte Schlapphüte, noch einmal die Frage: was habt Ihr Euch bloß dabei gedacht, einen Typen aus diesem gefrusteten, halbstarken Mördergesindel im Airport hin- und herflitzen zu lassen?! Was habt Ihr da wieder für einen ausgeklügelten Plan gehabt?! Merkt Euch eins: diese islamistischen Killerbubis sind total kaputt und unfassbar blöd. Alles noch viel schlimmer als bei Euch. Verstanden?!!!

Duisburg: Guttenberg, die Fans und die Polizei

Ramon van der Maat - Bild: Polizei Duisburg

Ramon van der Maat ist Pressesprecher der Duisburger Polizei. Seine Aufgabe ist, Erklärungen abzugeben. Damit verdient er sein Geld. Würde man sich also damit abgeben, zu all seinen Erklärungen Erklärungen abgeben zu wollen, müsste man wohl sämtliche Aufgaben abgeben, mit denen man sich ansonsten noch so abgibt. Da dies zu Erklärungsnöten führen könnte, begnügen wir uns mit den jüngsten Erklärungen, die van der Maat – wie sagt man? Ach ja – abgegeben hat.

Beginnen wir mit dieser hier: “Ich finde es schade, dass nun ein engagierter Politiker weniger auf der Regierungsbank sitzt.“ Sie ahnen, zu welchem Thema sich van der Maat erklärt hat. Richtig: zum Rücktritt Guttenbergs vom Amt des Verteidigungsministers. Ich weiß es nicht, erkläre mir das aber so, dass sich Herr van der Maat nicht dienstlich, sondern privat zu diesem die Republik bewegenden Vorgang geäußert hat. So genau geht das aus der heutigen Printausgabe der Duisburger WAZ nicht hervor.

Doch wie sollte es sonst sein? Dienstlich haben Polizeibeamte nämlich keine politische Meinung, allenfalls gewerkschaftlich – aktuell: zur vermeintlich drohenden „Flüchtlingslawine“ aus Nordafrika – oder, was in diesem Fall wahrscheinlicher ist, da van der Maat bislang nicht als Polizeigewerkschafter in Erscheinung getreten ist, privat.

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Erbakan gestorben – Sunday-Blues, Depri-Wetter und dann das auch noch

Erbakan - Foto via Wikipedia

Liebe Trauergemeinde!

Heute hat unser Herr, der allmächtige Gott, oder, wie er ihn zu nennen pflegte, der große Allah, seinen treuen Gefolgsmann, unseren frommen Bruder Dr. Necmettin Erbakan zu sich geholt. Sei es, dass der Herr das Herz versagen ließ, wie uns die Propheten von Spiegel Online kund tun, oder dass, wie bei Wikipedia geschrieben steht, Bruder Erbakan der Altersschwäche anheim gefallen ist, Necmettin Erbakan hat uns für immer verlassen und seinen wohlverdienten Platz im Paradies eingenommen. Wir sprechen die Verse 166 und 189 aus dem deutschen Strafgesetzbuch und erheben uns in Ehrfurcht vor dem Toten, vor Allah und der deutschen Rechtsordnung. Lasset uns beten:

Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Wer das Andenken eines Verstorbenen verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Liebe Trauergemeinde!

Was will uns – ja sicher, Sie dürfen wieder Platz nehmen! – unser Herr und Gebieter, der allmächtige Gesetzgeber mit diesen weisen Worten sagen?
Lassen Sie mich die Trauerpredigt für Dr. Erbakan mit einer Redewendung aus dem Lateinischen beginnen! «E pluribus unum», aus vielen Eines, heißt es auf dem Wappen der Vereinigten Staaten von Amerika und zu Beginn der Einleitung einer in Deutschland zur Zeit viel beachteten Doktorarbeit … – Moment. Entschuldigung. Ich bin hier jetzt gerade mit meiner Zitatensammlung ein wenig durcheinander gekommen. Eine kleine Unachtsamkeit, kann passieren, ich bitte Sie um Verständnis. Ich wollte etwas Anderes sagen. Hier habe ich es:

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Gemetzel in Libyen – Plädoyer gegen ein militärisches Eingreifen

Karte: Wikipedia

Als am Donnerstag Abend der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europäischen Parlament, Daniel Cohn-Bendit, in einem ZDF-Spezial zu Libyen offen für ein militärisches Eingreifen plädierte, war der Moderator der Sendung, Theo Koll, offensichtlich überrascht. Seinen Zuschauern dürfte es nicht viel anders gegangen sein. Dabei präsentieren sich die Grünen – nicht nur Cohn-Bendit – seit Beginn der Unruhen in Tunesien als die entschlossensten Sympathisanten der arabischen Volksaufstände. Und es ist keineswegs eine denunziatorische Spitze, sondern eine nüchterne Anmerkung, dass seit einigen Jahren kurioserweise die Grünen die ersten und die lautesten gewesen sind, manchmal auch die einzigen, die militärische Optionen als Antwort auf lokale Konflikte ins Gespräch bringen.

Am Freitag ging das Gemetzel in Libyen weiter. Umfangreiche Berichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, eine Reihe von Live-Tickern im Internet, und doch ist kein genaues Bild davon zu bekommen gewesen, was in dem mit Abstand wohlhabendsten Land Afrikas vor sich geht. Arabische Quellen sprechen von Tausenden Toten – mal werden zweitausend genannt, mal zehntausend. Der aus Tunesien und Ägypten bekannte Ablauf, wo nach gut einer Woche und – zynisch formuliert – „nur“ einigen Hundert Toten mit der Flucht von Ben Ali bzw. Mubarak relative Ruhe zurückkehrte, scheint sich in Libyen nicht zu wiederholen. Dass sich Gaddafi an der Macht halten könnte, gilt zwar als ausgeschlossen. Doch der Überlebenskampf des Despoten könne sich nach Ansicht von Politologen noch Wochen hinziehen. Jochen Hippler, Islamexperte an der Universität Duisburg-Essen, hält sogar auch Monate für möglich.

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Stellen Sie sich das doch bloß einmal vor!

Stellen Sie sich das doch bloß einmal vor! Ich gebe zu: die ganze Sache ist etwas weit hergeholt. Aber es hätte doch sein können. Und dann? Unvorstellbar.

Stellen Sie sich doch bloß einmal vor, der Freiherr von und zu Guttenberg hätte als junger Familienvater seine Doktorarbeit selbst angefertigt, also neben seiner beruflichen Beanspruchung als Schlossherr und seiner politischen Karriere als Bundestagsabgeordneter auch noch in mühevollster Kleinarbeit Einleitung und Schlussteil seiner Dissertation ohne Rückgriff auf anderer Leute geistigem Eigentum selbst geschrieben und in den Kapiteln dazwischen sämtliche Zitate sowohl kenntlich gemacht als auch in sinnvoller Weise in den eigenen Gedankengang eingebettet.
Kurz: Guttenberg hätte in untadeliger Weise seinen Doktor gemacht. Oder, weil diese Vorstellung in der Tat äußerst abstrus ist, der ganze Schwindel wäre erst ein paar Monate später aufgeflogen. Oder schon ein paar Monate zuvor. Hätte doch sein können. Nur mal so als fixe Idee. Und dann stellen Sie sich bitte weiter noch vor, die Völker Arabiens hätten die ganzen Aufstände, Revolutionen oder, wie auch immer wir diese Dinge bezeichnen wollen, noch eine Weile zurückgestellt. Wenn sich die Araber einfach gesagt hätten: jetzt haben wir jahrzehntelang all diese Despoten ertragen, da kommt es auf ein paar Monate mehr oder weniger auch nicht an.

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Ein Schnellschuss zur Hamburg-Wahl

Foto: vorwärts.de

Hamburg hat gewählt. Die SPD hat die Wahl gewonnen, die CDU hat verloren. Sozialdemokraten sprechen vom Rückenwind, den dieser Auftaktsieg ihnen für die folgenden sechs Landtagswahlen gäbe. Konservative betonen die spezifische Situation Hamburgs, die zu diesem Wahlergebnis geführt habe. So weit, so unspektakulär. Auch nach den nächsten Wahlen werden die Sieger allgemein gültige positive Signale erblicken, werden die Verlierer – so die Möglichkeit des Leugnens der Niederlage entfällt – die Besonderheiten des Einzelfalls für ihre schwierige Situation verantwortlich machen. So kennen wir es.

Deshalb ist Claudia Roths stetes Herausstreichen des Hamburgerischen bei dieser Hamburg-Wahl wesentlich aufschlussreicher als ihre Formel vom ersten Wahlziel (Stimmenanteil verbessern), das erreicht worden sei, und dem zweiten Wahlziel (absolute Mehrheit verhindern), das nicht erreicht werden konnte. Es ist nicht zu übersehen, dass die Grünen mit den zwei oder drei hinzugewonnenen Prozentpunkten deutlich hinter dem bundesweiten Umfragehoch zurückgeblieben sind, und dass sie sich mit ihrem Coup, Schwarz-Gelb ohne nachvollziehbare Begründung aufzukündigen, selbst aus der Bürgerschaft herausgekickt haben. Kürzer: die Grünen haben sich verzockt.

Die Christdemokraten hatten keine Chance – weder im Wahlkampf noch bei der Kommentierung des Wahlergebnisses. Wer seinen Stimmenanteil halbiert, kann nichts mehr beschönigen. Ihm bleibt nur, sich auf die örtlichen Besonderheiten zurückzuziehen. Vieles spricht dafür, dass die Konservativen mit dieser Interpretation näher an der Wahrheit liegen als diejenigen Sozialdemokraten, die bereits einen Trend auszumachen glauben machen wollen. Fairerweise ist anzumerken, dass die CDU ihre Hamburger Spezifika lauter in die Mikrofone bringt als die SPD den von ihr erhofften Trend.

Wenn sowohl der beliebte Spitzenmann als auch der ungeliebte Koalitionspartner überraschend von der Fahne gehen, wenn der neue Bürgermeister blass und kein anderer Koalitionär in Sicht ist, dann ist bei einer Wahl nichts zu gewinnen. Dass die CDU in Hamburg ein Desaster erlebt hat, wogegen sich die einzelnen Wahlschlappen der SPD in der zurückliegenden Serie beinah überschaubar darstellen, dürfte den Strategen im Konrad-Adenauer-Haus dennoch zu denken geben. Dass eine konservative Partei an der Regierung den Leuten nicht mit einer Schulreform kommen darf, und dass es sich bei einer Zuwiderhandlung um einen Kardinalfehler handelt, weiß man dort bereits.

Nur: die Volksabstimmung gegen das Reformvorhaben richtete sich nicht nur gegen Schwarz und Grün, sondern auch gegen Rot und Rot. Niemand bezweifelt dieses angeführte eherne Gesetz; eine Erklärung für die erdrutschartigen Verluste bietet der Gesetzesbruch jedoch nicht. Allenfalls ist er als ein Mosaikstück eines allgemeinen Profilverlustes der (Hamburger) CDU zu betrachten. Dennoch: die Konjunktur im (CDU-geführten) Deutschland zieht an, die wirtschaftliche Situation im reichen Hamburg ist günstig. Wird dort die CDU als Regierungspartei dramatisch abgestraft, kann das Merkel nicht kalt lassen.

Dass die SPD die Wahl gewinnen würde, war seit dem Scheitern von Schwarz-Gelb klar. 40 Prozent prognostizierten die Institute seinerzeit. Seither stiegen die Werte kontinuierlich, bis es heute fast 50 Prozent geworden sind. Balsam für die seit Jahren in Wahlen geschundene sozialdemokratische Seele. So ganz dürfte das Wort vom „Trend“ nicht daneben liegen, weil die Ausgangssituationen für die SPD – vielleicht abgesehen von Sachsen-Anhalt – gar nicht schlecht sind. Durch den Hamburger Erdrutschsieg werden sie jedenfalls nicht schlechter. Insofern dürfte „Rückenwind“ hinkommen; „Trend“ gibt als Erklärung für den heutigen Erfolg dagegen nichts her.

Die Wahl gewonnen hat Olaf Scholz, was aus zwei Gründen bemerkenswert ist. Der erste: auch wenn niemand die Kompetenz des Politikers anzweifelt, hat doch sein oft als holzschnittartig empfundenes Auftreten den Verdacht begünstigt, mit ihm seien keine Wahlen zu gewinnen. Dieser Verdacht wurde heute mehr als widerlegt. Die Affäre um Guttenbergs gefälschte Doktorarbeit dürfte Scholz auf den letzten Metern noch reichlich Wähler zugetrieben haben. Wirkt er doch gleichsam als Prototyp eines Anti-Guttenberg. Statt pomadiger Blenderei solides Polit-Handwerk – dargeboten im Stil der guten, alten Zeit. Mitunter verspottet als Scholzomat.

Der zweite Grund für die besondere Aufmerksamkeit, die Scholz´ Sieg verdient: seine Präsentation der SPD als „wirtschaftsfreundlich“. Scholz ist nicht nur einer der Macher der Agenda 2010; er vertritt diese Politik auch nachdrücklich. Im Hamburger Wahlkampf ließ er keine Gelegenheit aus, sich als Sozialdemokrat in der Tradition von Helmut Schmidt und Gerhard Schröder zu verkaufen. Damit hatte er, auch wenn er keineswegs über das Charisma der beiden Alt-Kanzler verfügt, Erfolg. Sehr großen Erfolg – vielleicht nicht trotz, sondern gerade wegen seiner an Langeweile grenzenden Nüchternheit, in der er sich von der Eloquenz Schmidts und Schröders für jeden sichtbar unterscheidet.

Die Hamburg-Wahl wird die politische Konstellation in der Bundesrepublik – nicht nur wegen des Bundesrats – deutlich verändern. Olaf Scholz´ Sieg wird nicht ohne Auswirkungen auf das innerparteiliche Spannungsfeld in der SPD bleiben. Sigmar Gabriel hat heute Abend bereits damit begonnen, den Kurs ein wenig nach rechts zu korrigieren. Der Druck in diese Richtung wird wegen Scholz´ Erfolg wachsen. Das magere Wahlergebnis der Linken gibt den entsprechenden Spielraum. Sechs Komma Nochwas sind für Hamburg ohnehin schon etwas wenig. Angesichts einer desavouierten GAL und einer „wirtschaftsfreundlichen“ SPD kann das Resultat die Linken nur enttäuschen.

Bei den anstehenden Wahlen in Westdeutschland liegt die Fünf-Prozent-Hürde hoch. Bei den Piraten dürften alle wahlpolitischen Träume endgültig geplatzt sein. Gegenwärtig ist keine Chance zu erkennen, dass die Piratenpartei ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen könnte. Dass die FDP mit einer Kandidatin, die sich im Wahlkampf der SPD als Koalitionspartner andient und mit einem ganz anderen Profil als die Westerwelle-Steuersenkungspartei antritt, in die Hamburger Bürgerschaft zurückkehrt, wird zu einem späteren Zeitpunkt gewiss mehr Beachtung finden als so kurz nach der Landtagswahl.

„Tag des Sieges“ auf dem Tahrir-Platz: es spricht der moderate islamische Rechtsgelehrte

Yusuf al-Qaradawi

Gestern, am Freitag, den 18. Februar 2011, versammelten sich abermals mehrere Hunderttausend Menschen in Kairo auf dem Platz der Befreiung, dem Tahrir-Platz. Die Ägypter feierten ihre Befreiung; sie begingen den „Tag des Sieges“ genau eine Woche nach diesem Sieg. Am Freitag, den 11. Februar 2011, hatte die Demokratiebewegung ihr vorrangiges Ziel erreicht. Husni Mubarak hatte die Segel gestrichen.

Ernüchterung sei eingetreten am „Tag des Sieges“. „Die Institutionen des alten Regimes und die Regierung fühlen sich jetzt wieder sicherer“, zitiert die FAZ einen der Organisatoren der Proteste. Die Euphorie des Sieges sei daher in den letzten Tagen verflogen. Gut also, dass der Prediger Yusuf al Qaradawidie Bewegung in seiner Freitagspredigt auf dem Platz auf(rief), nicht aufzugeben und bis zum Sieg der Revolution durchzuhalten – sie sei noch nicht zu Ende.“ Yusuf al Qaradawi konnte auf Einladung der “Jugend der Revolution” (The Revolution’s Youth), die auch zu der gestrigen Großkundgebung aufgerufen hatte, das Freitagsgebet sprechen.
Die ARD-Tagesschau berichtete darüber folgendermaßen: „Heute Mittag hatte der bei vielen Ägyptern beliebte konservative Fernsehprediger Yusuf al-Qaradawi auf dem Tahrir-Platz das Freitagsgebet gehalten. Er forderte das Militär auf, die Grenze zum Gazastreifen zu öffnen. Bald, so hofft er, werde er auf dem Tempelberg in Jerusalem predigen. Dies ist als Provokation Israels gemeint. Wegen solcher Äußerungen hat er jahrelang nicht in Ägypten predigen dürfen.“ Das war´s; mehr erfahren wir nicht über den Geistlichen.

So wird ganz beiläufig Ägyptens Demokratiebewegung denunziert: „Provokation Israels“. Wodurch denn? Die Forderung, die Blockade des Gazastreifens aufzuheben, wird doch nicht nur auf dem Tahrir-Platz erhoben, sondern auch von der gesamten westlichen Welt. Und der Gazastreifen wird nun einmal nicht nur von Israel, sondern auch – so ist die Geographie – von Ägypten abgeriegelt. Ist es da eine „Provokation“, wenn ein muslimischer Prediger fordert, dies zu beenden?
Oder dass al Qaradawi auf dem Tempelberg predigen möchte? Ja, Du lieber Himmel. Dort steht bekanntlich die al-Aqṣā-Moschee, in der (nicht nur) jeden Freitag gepredigt wird. So what? Was will uns Jörg Armbruster, der ARD-Korrespondent in Kairo, damit sagen? Oder damit, dass der Fernsehprediger Yusuf al-Qaradawi „konservativ“ sei. So etwas soll bei Klerikern vorkommen. Oder sind die US- Fernsehprediger etwa „progressiv“? – Also bitte!
Dass al-Qaradawi von der “Jugend der Revolution”, also den Facebook-Revolutionären eingeladen wurde, ließ Armbruster übrigens unerwähnt. Genau wie den Grund dafür, warum ausgerechnet dieser Prediger bei vielen Ägyptern so beliebt ist. In dieser Hinsicht wissen Spiegel-Leser mehr. Denn in der aktuellen Printausgabe des Nachrichtenmagazins findet sich ein ausführliches Porträt des ehrwürdigen Scheichs, das bislang jedoch nur in englischer Sprache online steht.

Yusuf al-Qaradawi ist ein respektierter Gelehrter, die prominente, namhafte, weltbekannte Stimme des sunnitischen Islam. Ein „globaler Mufti“ sozusagen, dessen Einfluss auf die Sunniten – übrigens auch in Deutschland – gar nicht überschätzt werden kann. Schon seit fünfzehn Jahren läuft jeden Sonntag auf al-Dschasira seine Sendung „Scharia und Leben“ mit etwa 60 (sechzig!) Millionen Zuschauern.
Auf solche Informationen wartet der deutsche Fernsehzuschauer jedoch vergebens. Wir hören, der Imam sei „konservativ“. Wir erfahren aber nicht, dass er sich „den Ruf eines Moderaten“ erworben hat. Weil auf korrektes Zitieren zur Zeit besonders viel Wert gelegt wird: Alexander Smoltczyk, Jussuf und seine Brüder, „Der Spiegel“ 7 / 2011 vom 14.2.11, S. 84 f. Qaradawi plädiert für „die Toleranz gegenüber Andersgläubigen und verurteilt die Anschläge der Qaida“.
Doch auch dies erwähnt Jörg Armbruster mit keiner Silbe. Stattdessen erweckt er in der Tagesschau den Eindruck, dass sich Israel völlig zurecht provoziert fühle. Kein Wort darüber, dass sich der Scheich „auch gegen die systematische Züchtigung von Ehefrauen (ausspricht). Dumm sei so etwas“.

Auch wir sind modern“, sagte er in einem Spiegel-Gespräch, weil „wir auch von den großen Erfindungen des Westens, von der Revolution des Informationszeitalters profitieren.“ Der Spiegel, das ist schon etwas ganz Anderes als die Tagesschau. Noch einmal ein ganzes Stück seriöser ist freilich Die Zeit. Sie stellte uns bereits 2002 den muslimischen Top-Gelehrten mit dem Aufsatz „Globalisierung auf islamisch“ auf vorbildliche, weil objektive Art und Weise vor. Nämlich so:
„Er predigt die Rückbesinnung auf den Islam: Nur so könnten die Muslime den ihnen in der Welt zustehenden Platz wiedererlangen. Die Bücher des Scheichs sind Bestseller, seine Seiten im Netz die wohl am meisten besuchten in arabischer Sprache. Der gebürtige Ägypter, der an der berühmten Azhar-Universität in Kairo studiert hat, lebt heute in Doha, der Hauptstadt Qatars. Auch in Deutschland ist der Gelehrte ein häufiger Gast bei Großveranstaltungen der Muslime. Die Themen: Fragen des Lebens, der Moral und, nicht zuletzt, der Politik. Sein Wort ist für viele Muslime Gesetz.“

Oder wir sehen nach bei Wikipedia: „al-Qaradawi kann als eine der obersten zeitgenössischen Autoritäten im sunnitischen Islam betrachtet werden und gilt in der islamischen Welt als wichtige moralische Instanz.“ Der heute 84-jährige Präsident der „Internationalen Vereinigung Muslimischer Rechtsgelehrter“ (IAMS) und des Europäischen Rats für Fatwa und Forschung ist „gegen Angriffe auf Homosexuelle“, wie er dem Londoner Labour-Linken Livingstone versichern konnte.
Für diese „geschlechtliche Abartigkeit“ (al-Qaradawi) setzt es 100 Peitschenhiebe, dekretiert der Großmufti, womit er die Scharia zweifelsfrei recht moderat auslegt, wenn man bedenkt, dass dafür andernorts die Todesstrafe fällig ist. Die Todesstrafe hält al-Qaradawi bei außerehelichem Geschlechtsverkehr für angemessen. Unattraktiv für Berlusconi, wenn außerehelicher Verkehr doch nicht besser ist, als schwul zu sein. Selbst Prostituierten ist mit läppischen 100 Peitschenhieben die Barmherzigkeit des beliebten Fernsehpredigers sicher.
Na klar, Schwule und Huren erhalten im Falle der Rückfälligkeit noch einmal eine Tracht Prügel. Aber das ist immer noch besser als die Todesstrafe. Irgendwann werden die Peitschenhiebe schon die erhoffte Wirkung erzielen, vermutlich bei den Huren früher als bei den Schwulen. Letzteren dürfte aber ein höheres Maß an Diskretion und gesellschaftlicher Anpassung durchaus helfen können. Und, wie gesagt, wenn es doch einmal sittlichen Ärger geben sollte, hat ein Scharia-Richter das gottgefällige Urteil zu sprechen – und nicht der erzürnte Pöbel.

Die ägyptische Muslimbruderschaft hatte al-Qaradawi im Jahr 2002 gebeten, sie zu führen, was er ablehnte, weil ihn diese Funktion zu stark einschränken würde. Inzwischen dürfte er auch für die Übernahme einer solch verantwortungsvollen Position zu alt geworden sein. Selbst seine Vortragsreisen nach Deutschland werden allmählich seltener. Dabei hat der Fernsehstar auch hierzulande eine Vielzahl von Fans. Wie auch immer: jetzt wird al-Qaradawi in Ägypten, seiner Heimat, gebraucht. Und als Prediger auf dem Tahrir-Platz nützt er der Bewegung gewiss genauso viel wie als als politischer Führer der Muslimbruderschaft.
Oder nützlicher. Die Muslimbruderschaft wird jetzt auch offiziell zur Partei, und Partei kommt vom lateinischen pars (Teil), ist also nur ein Teil der Bewegung. Besser ist es, sich von dem breiten Bündnis der “Jugend der Revolution” einladen zu lassen. Und da die Generation Facebook sich schwer tut mit den Auffassungen des älteren Herrn zur Sexualmoral, ein aus dem christlichen Abendland nur allzu bekanntes Phänomen, stellt al-Qaradawi dieses Trennende (vorläufig) ein wenig zurück und konzentriert sich auf das ihn mit der Jugend Einende.

„Die Revolution muss weitergehen“, sagte er gestern auf dem Tahrir-Platz. Ob mit oder gegen die ägyptischen Militärs. Der Gazastreifen muss geöffnet, der Blick nach Jerusalem gerichtet werden. Es geht schließlich um die „Befreiung Palästinas“, wie in Tunesien, so auch in Ägypten. Dies wollen nicht nur die Alten und die Frommen, sondern auch die Jungen und die Revolutionären. Sonst hätten sie diesen alten Hetzer nicht die Predigt zum „Tag des Sieges“ halten lassen.
“Die ganze Geschichte hat Gott Leute gesandt, um sie für ihre Verkommenheit zu bestrafen. Die letzte Bestrafung ist von Hitler ausgeführt worden“, predigte al-Qaradawi vor zwei Jahren auf al-Dschasira. Sie, das sind die Juden, die er zu „Feinden Gottes“ erklärt. Yusuf al Qaradawi stimmt die Muslime auf einen neuerlichen Holocaust schon einmal ein: „So Gott will, wird das nächste Mal diese Strafe Gottes durch die Hand der Gläubigen erfolgen.“
Auch Frauen und Kinder sind keineswegs von der „Strafe Gottes“ auszuschließen, so al-Qaradawi. Selbst das im Islam strenge Suizidverbot hat der islamische Rechtsgelehrte für den Kampf gegen Israel außer Kraft gesetzt. Zum Märtyrertod darf die Muslima erforderlichenfalls sogar ohne Kopftuch antreten.

Gänsefüßchen-Affäre: Scheiß auf den Doktor!

Nein, es kommt nicht auf einen Doktortitel mehr oder weniger an. Selbstverständlich nicht. Auf wen die magischen zwei Buchstaben so ähnlich wirken wie ein Adelstitel, der macht sich auch etwas aus Adelstiteln. Der wird nicht imstande sein zu erkennen, wie wenig edel so mancher Blaublüter agiert geschweige denn, wie viele mit akademischen Graden ausgestattete Flachköpfe mit Wort und Tat die Gegend verunsichern. Da jedoch unverkennbar auch noch das 21. Jahrhundert übervölkert ist mit Leuten, denen ein Herr Doktor allein durch seine Präsenz Minderwertigkeitsgefühle bereiten kann, und die vor einem Herrn Baron beinah vor Ehrfurcht erstarren, gleichzeitig aber dieselben Leute mit dem in modernen Demokratien üblichen Wahlrecht ausgestattet sind, sind diese Kindereien ganz so belanglos dann eben doch nicht. 

Davon abgesehen ist die politische Relevanz des Umstands, dass Guttenberg bei seiner Dissertation gepfuscht hatte, gleich Null. Afghanistankrieg, Bundeswehrreform, Skandale um zweifelhafte Männlichkeitsrituale in der Truppe – das wären eigentlich die Themen, die eine demokratische Öffentlichkeit zu beschäftigen hätten. Fairerweise muss erwähnt werden, dass diese politischen Fragen ja auch tatsächlich medial erörtert wurden und werden. Offensichtlich nicht annähernd mit der Leidenschaft, mit der Guttenbergs Schummelei gegenwärtig durchgekaut wird. Politisch an und für sich  vollkommen irrelevant; doch es lässt sich einfach nicht davon absehen, dass auch heute (noch?) die angeführte „demokratische Öffentlichkeit“ gegen die dominierenden Elemente vordemokratischen Bewusstseins wenig ausrichten kann. 

Wäre es anders, wie viele Leute würden sich einer solch strapaziösen Prozedur eines Promotionsverfahrens ohne Not unterziehen? Wie hoch wäre im Falle einer „demokratische Öffentlichkeit“, die sich auf politisch relevante Vorgänge konzentriert, die Auflage der Bildzeitung, wie viele Visits hätten dann – nur mal so als ein Beispiel – die Ruhrbarone? Warum interessieren selbst wir uns für die Glaubwürdigkeit eines Politikers, gerade so, als wenn es in einer Demokratie darauf ankäme, einem Politiker irgendetwas zu glauben? Ein offenkundig vordemokratisches Bewusstseinselement. In einer Demokratie – so sollte man meinen – tritt ein Politiker / eine Politikerin / eine Partei vor der Wahl mit einem Programm an, um dann nach der Wahl regelmäßig Rechenschaft abzulegen, sprich: sich demokratisch kontrollieren zu lassen. 

Wir glauben gar nichts; wir kontrollieren. Glaubwürdigkeit unterstellt – aus nachvollziehbaren Gründen -, dass Politiker bescheißen. Der nachvollziehbare Grund: es sind hinreichend Leute vorhanden, die sich bescheißen lassen. Ich bin darüber hinaus fest davon überzeugt, dass eine überaus große Zahl der Wähler sich bescheißen lassen will. Dies ist jedoch in der aktuellen Gänsefüßchen-Affäre nicht der springende Punkt. Und selbst wenn: der Beschiss sollte nicht so offensichtlich zutage treten, dass es selbst den romantischsten Zeitgenossen schwer fällt, sich weiterhin selbst zu bescheißen. Man will es lieber nicht so genau wissen. Und wer versteht schon etwas von den Regeln wissenschaftlichen Arbeitens – in einem Land, in dem es kein Privileg der Boulevardpresse ist, den Lesern erklären zu müssen, was eine Dissertation ist? 

Insofern wohnt, wie die Frankfurter Rundschau (FR) kommentiert, dem jetzigen Schlamassel für Guttenberg eine „tiefere Gerechtigkeit“ inne. Oder sagen wir besser, weil Gerechtigkeit ein ebenso abgründiger Begriff ist wie Glaubwürdigkeit, so dass man gar nicht wissen möchte, was wohl eine tiefere Gerechtigkeit sein könnte: der ganze Schlamassel kommt nicht von ungefähr. „Es war Guttenberg, der diesen Weg der apolitischen Selbstvermarktung – man könnte auch sagen: der Trivialisierung von Politik – betrat. Genau das fällt jetzt auf ihn zurück.“ (FR – nichts mehr ohne Quellenangabe!). 

Und weil das so ist, hilft auch der Hinweis, seine Doktorarbeit sei doch völlig schnurze, kein Stück weiter. Da kann dieser Franz Josef Wagner in der Bildzeitung flehen, so laut er will: „Macht keinen guten Mann kaputt. Scheiß auf den Doktor“. Es nützt nichts. Natürlich kann man auf den Doktor scheißen; das denkt sich auch der beknackteste Bildzeitungsleser. Aber man darf nicht bescheißen. Das machen zwar alle anderen Politiker ohne Unterlass, denkt sich der Bildzeitungsleser. Alle anderen Politiker außer Guttenberg. Der Guttenberg, der eben nicht. Genau der, das war einer mit Glaubwürdigkeit – plus Adelstitel, plus Doktortitel, hübsche Frau, süße Kinder. Und ausgerechnet der hat „seine“ Universität beschissen, alle diese hohen Herren, Damen und Herren – nur Professoren!

Die Verteidigungslinie „Scheiß auf den Doktor“ ist also völlig daneben gebaut. Thema verfehlt, setzen, sechs. Auch das Gequater von einem „politisch motivierten Angriff von ganz Linksaußen“ (CSU-Friedrich) wird nicht viel helfen – jetzt, wo die Frankfurter Allgemeine und die Neue Zürcher an der Spitze der Bewegung stehen. Auch die Mahnung um Besonnenheit, man möge doch erst einmal die Untersuchungsergebnisse abwarten, sind nichts als Tinnef: die Belege sind eindeutig, mannigfaltig, und … sie stehen im Internet. Obwohl: genau das ist es! Untersuchungsergebnisse abwarten. Na klar! Für Guttenberg wird alles davon abhängen, ob er sich „nur“ eine Rüge einfängt oder ob ihm der Doktortitel aberkannt wird. Das ist die Frage aller Fragen. 

Bleibt es bei einer Rüge, hat Merkel immerhin 2013 Ruhe vor ihm. Ist der Doktortitel futsch, haben wir alle Ruhe vor ihm. Für immer.

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Es läuft nicht gut für Guttenberg

Es läuft nicht gut für Karl Theodor Guttenberg. Hochgepusht zum beliebtesten Politiker Deutschlands schlägt jetzt das eherne Gesetz der Mediendemokratie erbarmungslos zu. Ab sofort geht es auf der Achterbahn der Politbarometer steil abwärts. Ab sofort ist Guttenberg freigegeben. Doch sind wirklich „die Medien“ schuld, dass es jetzt für das „Phänomen Guttenberg“ so knüppeldicke kommt? 

Es begann im Januar mit den drei Bundeswehr-Affären, die den Verteidigungsminister in die Bredouille brachten. Seinen exzellenten Umfragewerten konnten die beiden Todesfälle und das systematische Durchschnüffeln der Post zwar nichts anhaben. Guttenberg reagierte nichtsdestotrotz äußerst giftig, nach seinen eigenen Maßstäben also „unprofessionell“ auf die entsprechenden Anwürfe. 

Bekanntlich gehört es zum Schicksal eines jeden Verteidigungsministers, früher oder später durch den Schlamm der Komissköppe in größte Schwierigkeiten gebracht zu werden. Auch wenn Struck, seinem Vor-Vorgänger, diesbezüglich größere Unbill erspart geblieben war, fällt es schwer anzunehmen, dass Merkel diesen Aspekt außer Acht gelassen haben könnte, als sie Guttenberg auf die Hardthöhe abkommandierte. 

Nachdem all die Bundeswehr-Unstimmigkeiten dem Medienstar nichts anhaben konnten, legte letzte Woche Schäuble nach und verglich das „Phänomen Guttenberg“ mit einer dümmlichen Schlagersängerin. Es erschien wie ein Foul im üblichen Duell zwischen Finanz- und Fachminister; doch es war ein ungewöhnlich schweres Foul. Und vor allem: der Pfiff des Schiedsrichters, in diesem Fall der Schiedsrichterin, blieb aus. 

Alles noch im Rahmen des gesetzmäßigen Medien-Auf-und-Abs? Und jetzt das! Guttenberg hatte bei seiner Doktorarbeit geschummelt. Wobei dies noch recht milde formuliert ist angesichts dessen, was Andreas Fischer-Lescano heute über die Süddeutsche Zeitung ans Licht gebracht hat. Das Material, was der Juraprofessor über die Fachzeitschrift „Kritische Justiz“ vorgelegt hat, ist schlichtweg erdrückend. 

Gewiss, wir schreiben alle ab, bis dass die Schwarte kracht. Erst recht im Zeitalter von Google & Co.; doch erstens gebietet es der gute Stil, hier und da zumindest mal den ein oder anderen Satz ein wenig umzustellen. Und zweitens gelten für Dissertationen – aufgrund der magischen Bedeutung, die den zwei Buchstaben auch heute noch zugemessen werden – nun einmal etwas strengere Maßstäbe.

Guttenberg schreibt in seiner Doktorarbeit seitenweise ab, ohne die Quellen anzuführen. Obgleich er dabei sogar die Kommafehler eins zu eins übernimmt, erwähnt er das verwendete Material nicht einmal im Literaturverzeichnis. Prof. Fischer-Lescano und sein Kollege Dr. Felix Hanschmann, der sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht mit Plagiatsfällen beschäftigt hatte, sind sich deshalb ziemlich sicher, dass man Guttenberg seinen Doktortitel entziehen kann. 

Um dem Plagiatsvorwurf zu entgehen: so steht es in der Süddeutschen Zeitung. Ob Guttenberg dem Plagiatsvorwurf wird entgehen können, steht dahin. Ein Promotionsausschuss wird darüber zu befinden haben. Genau vor einem Jahr ist Dieter Jasper, CDU-Abgeordneter aus dem Bundestagswahlkreis Steinfurt III, mit einer gekauften Dissertation aufgefallen. In der Folge wurde ihm der Doktortitel aberkannt, und der Fall war erledigt. 

Bei Guttenberg liegt der Fall anders als bei Jasper. Was die Dissertation betrifft: Guttenberg hat sie nicht gekauft, sondern offenbar gefälscht. Was die Politik betrifft: Guttenberg ist eine andere Nummer als Jasper. Glaubte er jedenfalls. Glaubten wir jedenfalls. Glaubte das Volk unerschütterlich. Jetzt aber läuft es nicht gut für Karl Theodor Guttenberg. Der Ausgang ist ungewiss, der Promotionsausschuss ist der Rat der Götter. Was vor Gericht und auf hoher See gilt, gilt erst recht vor dem Promotionsausschuss und der hohen Generalität. Und vor Frau Merkel.

Was tun? Wie geht´s? Wie fühlst Du Dich?

Bild: "Berlin direkt" (screenshot ZDF)

Die Moderne, die Postmoderne, der Wandel der Zeiten. Dem großartigen Matthias Beltz verdanken wir hierzu die Einsicht, dass die Leninsche Schlüsselfrage „was tun?“ (Moderne) abgelöst wurde durch das empathische „wie geht’s?“ (Postmoderne). Beltz ist viel zu früh gestorben; selbst einer wie er konnte nie und nimmer ahnen, zu welch grandiosen Weiterentwicklungen in Sachen menschlicher Wärme und so die spätkapitalistische Gesellschaft noch in der Lage sein würde. „Wie geht’s?“ – Mein Gott, wie unpersönlich! 

Okay, auch Matthias Beltz war nur ein Kind seiner Zeit. Was hätte er sonst tun sollen, als die Umgangsformen seiner sozialen Außenwelt zu analysieren. Der angeführte Quantensprung vom „Was tun?“ zum „Wie geht´s?“ liegt dreißig Jahre zurück. Mindestens. Beltz hatte seine Erkenntnis bereits Anfang / Mitte der 1980er Jahre der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. „Wie geht´s?“ – pah! „Wie fühlst Du Dich?“ So muss das heißen! „Wie geht´s?“ heißt ja schließlich nichts Anders als „Wie geht es?“ Wenn man – aus heutiger Sicht – so recht drüber nachdenkt: eine Unverschämtheit.

„Wie fühlst Du Dich?“ – Ja, es hat sich ganz schön was getan in den letzten Jahrzehnten. Heute lässt sich eine solche Frage – gleichsam ein Dokument der Humanität – ganz unbefangen stellen, ohne dass man Angst haben müsste, seinem Mitmenschen zu nahe zu treten. Aber damals? 80er Jahre. Diese ganzen Typen damals; wir brauchen keine Namen zu nennen. Halten wir uns schlicht vor Augen, wen es damals alles noch nicht gab. Zum Beispiel unser aller Lena. Die gab es überhaupt noch nicht. Unvorstellbar. 

Oder bei den Politikern. So einen wie unser aller Baron von und zu Guttenberg. Okay, den gab es zwar schon, jedoch nur in Ansätzen und noch nicht als Politiker. Was war das damals bloß für eine öde Zeit! Keine Lena, kein Ken, und „Wie fühlst Du Dich?“ konnte man außerhalb der Sponti-Szene irgendwie auch nicht so ohne weiteres bringen. Ehrlich gesagt: mir ist das damals gar nicht so aufgefallen. Ich musste schon über Beltz´ „wie geht´s?“ lachen. Mein Gott, was waren wir damals alle kaputt! Total gefühllose Knochen. Entsetzlich. 

Wie gut, dass wir heute zivilisatorisch einen Riesenschritt weiter sind. Doch seien wir wachsam! Der Prozess der Zivilisation vollzieht sich bekanntlich auf dünnem Eis. Und unter der Oberfläche der Freundlichkeit ist das Alte noch da. Mitunter auch über der Oberfläche, mitunter auch der Alte. Schäuble zum Beispiel, so ein Politiker der 80er Jahre. Übrig geblieben. Wie der schon aus der Wäsche guckt, macht klar, dass er nicht vorhat, noch einmal als Top-Kandidat in einem Wahlkampf vor sein Volk zu treten. 

Dem passt das alles nicht. Den braucht man auch gar nicht erst zu fragen: „Wie fühlst Du Dich?“ Ein Blick in sein Gesicht erübrigt jede Frage, und es hätten sich noch eindrucksvollere Bilder finden lassen als dieses Artikelbild hier. Jetzt hat der alte Knötteropa der „Zeit“ ein Interview gegeben und darin das gesagt, was das ZDF freundlicherweise – siehe Artikelbild – in der Sendung „Berlin direkt“ ganz fett auf den Bildschirm gestellt hat: „Gucken Sie sich nur den Zirkus mit Lena auf der einen Seite oder das Phänomen Karl-Theodor zu Guttenberg auf der anderen Seite an.“ 

Die Leute vom ZDF hatten es sich nicht nehmen lassen, das Phänomen Guttenberg höchstselbst zu fragen, was er denn so von diesem Vergleich halte, den Kabinettskollege Schäuble mal so ganz nebenbei eingeworfen hatte. Ken – ganz cool lächelnd – „fand das einen wunderbaren Vergleich“. Sie können mir ruhig glauben, ansonsten klicken sie sich einfach bei Minute 14:00  in „Berlin direkt“ hier ein. Die Frage ist freilich, ob man Guttenberg glauben kann. „Wunderbarer Vergleich“ – na, sag´ mal! Ken, wie fühlst Du Dich? Originalton Guttenberg – kein Witz, echt passiert: „Ich fühle mich wie Karl Lena Meyer Guttenrut.“ 

Wie fühlst Du Dich? Der Bundesminister der Verteidigung fühlt sich wie Karl Lena Meyer Guttenrut. Daraus ergibt sich – m.E. zwingend – die Frage: „Wie geht´s?“ An ihn. Und an uns: „Was tun?“