Zum Attentat auf Gabrielle Giffords in Tucson / Arizona

Gabrielle Giffords
Gabrielle Giffords

Es ist die Nacht vom Samstag auf Sonntag in Deutschland; noch ist nicht klar, ob es sich bei dem Anschlag auf die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords in Tucson / Arizona um ein politisches Attentat handelt oder nicht. Klar ist, dass „Gabby“ Giffords noch lebt.  Zwar wurde ihr Tod bereits gemeldet, doch inzwischen weiß man, dass sie eine Notoperation überstanden hat, sich jedoch nach wie vor in Lebensgefahr befindet. Aus kurzer Entfernung schoss der 21-jährige Täter der 40-Jährigen in den Kopf – ein glatter Durchschuss. Danach feuerte er noch wild um sich, die Polizei meldet sechs Tote, darunter ein neunjähriges Mädchen. Weil er unverletzt verhaftet werden konnte, werden wir vermutlich im Verlauf des Sonntags erfahren, ob der „Amoklauf“ – wie auch zu lesen ist – politisch motiviert war. Es wäre keine Überraschung, wenn dem so wäre.

Gabrielle Giffords unterhielt sich gestern an einem Infotisch vor einem Supermarkt in ihrem Wahlkreis mit einigen Bürgern, als kurz nach 10 Uhr Ortszeit der Attentäter zunächst auf sie schoss. Im November hatte Gabby Giffords zum dritten Mal den Sitz im Repräsentantenhaus errungen, diesmal allerdings nur mit äußerst knappem Vorsprung – vor ihrem Gegenkandidaten Jesse Kelly. Kelly, der zur Tea-Party Bewegung gehört, hatte seine Anhänger im Wahlkampf dazu ermuntert: „Helft uns Gabrielle Giffords aus dem Amt zu werfen. Feuert eine vollautomatische M16 mit Jesse Kelly.“ Dem Tagesspiegel zufolge kommen solche Aktionen im Wahlkampf gut an in Arizona, einem Staat mit vielen Waffennarren, in dem zur Zeit unter anderem darüber diskutiert wird, Waffen in Schulen zu legalisieren. Dies geschah im Juni 2010.

Bereits im März 2010 hatte Sarah Palin, die als Sprecherin der Tea Party gilt, eine US-Karte mit Zielscheiben auf 20 Wahlkreisen veröffentlicht, deren Abgeordnete für die Gesundheitsreform gestimmt hatten. Auch Gabrielle Giffords befand sich in einem der Fadenkreuze; Parole des Wahlplakats: „Stellung beziehen!“ Zu Palins Reden gehört regelmäßig die Aufforderung, gegenüber dem politischen Gegner „nicht nachzugeben, sondern nachzuladen“. Im März 2010 wurde Giffords Wahlkampfbüro in Tucson verwüstet. Bereits 2009 hatte bei einer Giffords-Veranstaltung – ebenfalls an einem Supermarkt – ein Gegendemonstrant eine Pistole bei sich; von der Polizei sei er weggebracht worden, nachdem die Waffe auf den Boden fiel. Darauf hatte dann die Polizei im Herbst 2010 verzichtet; denn auf Giffords Wahlkampfveranstaltungen waren regelmäßig politische Gegner mit Waffen erschienen.

Video Pressekonferenz der Klinik

Gabby Giffords selbst konnte und wollte dagegen nichts vortragen, die Demokratin ist nämlich Anhängerin des in Amerika geltenden liberalen Waffenrechts. Giffords, die als erste Jüdin für Arizona ins Repräsentantenhaus gewählt wurde und in Washington als Nachwuchsstar der Demokratischen Partei gilt, ist bekannt als „moderate“ Abgeordnete – heißt: sie gehört dem rechten Flügel der Demokratischen Partei an, den sog. „Blue Dogs„. Diese vertreten eine konservative Finanzpolitik, d.h. sie vertreten die – fast „deutsche“ – Position, die Staatsverschuldung zu senken, um ein ausgeglichenes Budget zu erreichen. In der Wirtschaftspolitik gelten die Blue Dogs als ausgesprochen unternehmerfreundlich. Giffords war Chefin einer vom Großvater gegründeten Reifenfirma und Geschäftsführerin einer Kapitalanlagegesellschaft, aber eben auch engagierte Unterstützerin von Obamas Gesundheitsreform.

Damit zog sie den Hass der politischen Rechten auf sich, die den Einbau „europäischer“ Elemente ins amerikanische Krankenversicherungssystem mit Hitler- und Stalin-Plakaten bekämpft hatte. Vermutlich ist ihr dies gestern zum Verhängnis geworden. Der junge Attentäter wird sich erklären. Wir bangen derweil um Gabby Giffords Leben.

K-Wort benutzt: Gesine Lötzsch löst Kommunismusalarm aus

Gesine LoetzschSie hat es gesagt, genauer: sie wird es noch sagen. Aber geschrieben hat sie es schon, das K-Wort. Und sie ist immerhin die Vorsitzende der Partei Die Linke, die Gesine Lötzsch. Genauer: eine der beiden Vorsitzenden. Der andere ist Klaus Ernst und – aus einer ganzen Reihe von Gründen – irgendwie ein Problem. Aber die Gesine Lötzsch – nach Parteilogik das passende Gegenstück: weiblich, ostdeutsch, Reala – galt eigentlich immer als enorm vernünftig. Der Parteilogik folgend: irgendwie kein Problem. Und jetzt das! Lötzsch verwendet in einem Beitrag, den sie am Samstag auf der Konferenz „Wo bitte geht’s zum Kommunismus?“ das K-Wort, ohne gleichzeitig direkt darauf hinzuweisen, dass im Namen dieses K-Wortes schwerste Verbrechen begangen wurden – Massenmorde, der Archipel Gulag, die Berliner Mauer, eine chronische Unterversorgung der Bevölkerung mit Gütern des täglichen Bedarfs, und im Tal der Ahnungslosen gab es nicht einmal Westfernsehen. 

Kein Wunder also, dass dieses K-Wort „Emotionen auslöst“, wie Bodo Ramelow das ausdrückt. Im Westen, versteht sich; und offenbar weiß die – wie gesagt: Ostdeutsche – Frau Lötzsch aus Berlin nicht, „welche Emotionen sie im Westen mit diesem Schlüsselbegriff auslöst“. Das vermutet jedenfalls der Vorsitzende der Linksfraktion Thüringens, der aus dem Westen stammt, obschon dieses neue Bundesland wie alle anderen neuen Bundesländer im Osten liegt. Kurzum: er weiß um der doch eher etwas negativ besetzten Emotionen, die mit dem schlimmen K-Wort insbesondere dort verbunden werden, wo schon seit der Ermordung Rosa Luxemburgs die Leute reflexartig Angst vor der Verstaatlichung ihres Kühlschranks bekamen. Zwar konnten damals nur ein paar reiche Leute in den USA einen Kühlschrank ihr eigen nennen, aber es gibt ja auch arme Leute, die gegen die Reichensteuer sind. Man weiß ja nie, vielleicht könnte sie einen doch irgendwann einmal stören, die Reichensteuer. Sicher ist sicher, und deshalb hätte Bodo Ramelow „das Wort Kommunismus nicht benutzt“.

Der Weg zum Kommunismus“ sei, so gab es der Bundestagsabgeordnete und ehemalige Vorsitzende der Berliner Linkspartei Stefan Liebich verbindlich durch, „nicht Teil der Programmdebatte“. Sie wird die Linken in diesem Jahr nämlich verfolgen, und deshalb war es Liebich wichtig, einmal ganz klarzustellen, worüber geredet werden darf und worüber nicht. Zwar gab sein Kumpel, der jetzige Berliner Vorsitzende Klaus Lederer zu Protokoll, „Gesine Lötzsch bislang nicht als eine Vorsitzende erlebt (zu haben), die die Linke in eine kommunistische Partei umwandeln will“; doch Liebich hatte das jetzt gelesen. Und zwar auf Spiegel Online: „Programmdebatte: Linke-Chefin erklärt Kommunismus zum Ziel der Partei“. Da haben wir es! Das sind schon Profis. Nein, nicht die Vereinigung der Vorsitzenden aller möglichen Linken, sondern die Jungs von Spiegel Online. So macht man das.

Man knöpft sich Lötzschs Text vor, der in der Jungen Welt veröffentlicht wurde und dem bis dahin kein Mensch verständlicherweise auch nur die geringste Beachtung geschenkt hatte, sortiert ihn in freier Interpretation in die Programmdebatte der Linkspartei ein und stellt – noch freier interpretiert – fest: „Linke-Chefin erklärt Kommunismus zum Ziel der Partei.“ Immerhin hatte die Chefin bemerkt: „Die Wege zum Kommunismus können wir nur finden, wenn wir uns auf den Weg machen und sie ausprobieren, ob in der Opposition oder in der Regierung.“ Damit steht die Überschrift: Linke will Kommunismus. Was wohl das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED zu dem Vorschlag gesagt hätte, sich auf den Weg zu machen und auszuprobieren? Egal, das K-Wort ist gesprochen, und Kommunismus ist Kommunismus. Allerdings erfahren wir von Gesine Lötzsch nicht so ganz genau, was das eigentlich ist, dieser Kommunismus. Typisch: der Kommunist ist gerissen und verschleiert seine Ziele. Ein kleiner Hinweis findet sich allerdings doch in ihrem Text: „Wenn Kommunismus das Gemeinschaftliche betont und der Liberalismus den einzelnen, dann wollte Rosa Luxemburg beides zugleich.“ So wollte es Otto Schily eigentlich auch; doch dem war immerhin klar, dass das irgendwie nicht gehen kann.

Gesine Lötzsch feiert Rosa Luxemburg, was insofern clever ist, als dass die ultralinke Szene ihre Helden braucht und sich mit Rosa Luxemburg gewiss die richtige ausgesucht hat. Bei Lötzsch wird aus Luxemburg eine „radikale demokratische Sozialistin und konsequente sozialistische Demokratin“, was gewiss zwei verschiedene Aspekte dieser herausragenden Persönlichkeit markieren soll, mit der sich „der sowjetische Parteikommunismus“ nicht „versöhnen“ konnte. Wir können nur erahnen, dass sich bei Gesine Lötzsch alles ganz ähnlich verhalten dürfte wie bei Rosa Luxemburg. Doch bei Spiegel Online hat man Anderes im Sinn. Man ruft ganz einfach mal den Alexander Dobrindt an, also den Generalsekretär der CSU, und fragt ihn, was er davon hält, dass Frau Lötzsch jetzt den Kommunismus zum Parteiziel der Linken erklärt habe. Und dann sagt der:  „Frau Lötzsch stellt sich außerhalb unserer Verfassung. Wer den Kommunismus zum Parteiziel erhebt, greift die freiheitlich demokratische Ordnung unseres Grundgesetzes an.“ Damit steht die Überschrift: „Kommunismus-Bekenntnis: CSU fordert Totalüberwachung der Linken“. Man füge den eigenen Recherche-Ergebnissen schnell noch eine profunde Analyse des Geschehenen hinzu: „Der Text war eine Steilvorlage für den politischen Gegner“, und fertig ist die Lauge.

Da inzwischen auch CDU-Generalsekretär Gröhe angefangen hat zu toben, ist auch Frank-Walter Steinmeier, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, über das Stöckchen, das ihm die Abteilung Antikommunismus hingehalten hat, gesprungen. Das Hamburger Abendblatt ließ er wissen, dass er sich „an den Kopf“ fasse, dass Lötzsch „zurück zum Kommunismus“ wolle, also „dorthin, wo wir Unfreiheit und Misswirtschaft 70 Jahre regieren sahen“. Angeblich rief er die Führung der Linkspartei zu einer raschen Klärung auf. Wen bitte? Wörtlich sagte er dem Abendblatt, er sei „gespannt, wie sich die anderen Führungsfiguren der Linken dazu äußern würden“. Ja, das ist aufregend. Oder sagen wir: es wäre aufregend, wenn Spiegel Online nicht längst des Dramas dritten Akt aufgeführt hätte: die Reue. „Die Linke ist linkssozialistisch, wir sind und werden keine kommunistische Partei. Und ich werde auch kein Mitglied der kommunistischen Plattform“, erklärte die gescholtene Parteiführerin. Klare Abgrenzung vom Kommunismus, und überhaupt habe sie das K-Wort nur deshalb benutzt, weil es im Titel der Veranstaltung am 8. Mai auftaucht. Und wenn man sie fragt, warum es die Linkenvorsitzende überhaupt für nötig erachtet, mit der DKP-Chefin und einer Ex-RAF-Frau zu diskutieren, erklärt sie, sei es ihr „Ansporn, im Publikum auch diejenigen für die Linke zu gewinnen, die unsere Partei für zu angepasst halten„. Entsprechende Vorbehalte gegen die Linke gäbe es nämlich im „linksextremen Milieu“.

Ach so ist das also. Wobei wir jetzt schon wieder nicht wissen, ob Gesine Lötzsch die Linkspartei dem linksextremen Milieu anpassen möchte oder aber das Milieu an die Partei. Vermutlich wird es ein offener Dialog; man wird es ja schon sehen. Immerhin kommt Lötzsch mit konkreten Ansätzen einer „revolutionären Realpolitik“ im Sinne Rosa Luxemburgs, selbstverständlich auf der Höhe der Zeit: energetische Gebäudesanierung, CO2-freie Städte, Verlagerung des Transports auf die Schiene. „Heißt das neuerdings Kommunismus?“ spottet die taz. Wenn das die ultralinken Straßenkämpfer vom Schwarzen Block auch lesen, hat Lötzsch am Samstag auf der Konferenz schon wieder ein Problem. Sie will dazu auffordern, „für einen Richtungswechsel der Bundespolitik zu kämpfen“ – so heißt es im Text. Vermutlich ahnt sie nicht, um noch einmal Ramelow zu zitieren, „welche Emotionen sie im Westen mit diesem Schlüsselbegriff auslöst“. Mit diesem R-Wort: Richtungswechsel. Da fährt die Szene aber voll überhaupt nicht drauf ab. Es müssen schon die K-Wörter sein: Kommunismus, Klassenkampf, Kackbratze. Mal sehen, ob sie das checken wird, die Gesine …

Eigene Stärken bewusst machen, sich helfen und was sonst noch wichtig ist

Geht nicht, gibts nicht“, hat sie gesagt. Eine Heimwerkerweisheit, die ich nicht nur schon immer für unzutreffend gehalten habe, sondern auch – ich will es mal so sagen: für nicht besonders geistreich, dafür aber für ziemlich lästig. „Wohlergehen und Wohlstand ­ das heißt nicht nur ,mehr haben`, sondern auch ,besser leben`. Dafür brauchen wir Sie: die Menschen, die etwas besser machen wollen, die sagen: Geht nicht, gibts nicht“, sprach die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache. Und auch dies: „Deutschland ist so erfolgreich, weil Sie Tag für Tag Ihre Arbeit machen. Sie sind früh morgens auf den Beinen.“ Ja, ich weiß, ist schon okay – da braucht sich niemand drüber aufzuregen. Über die Neujahrsansprache letztes Jahr hatte sich Claudia Roth „entrüstet“ – okay, ich weiß: auch so etwas soll vorkommen. Sie ahnen nicht warum. Angela Merkel hatte nämlich von einer „Sanierung der Staatsfinanzen“ gesprochen, aber ein „Schuldenvermehrungsgesetz“, so Frau Roth, durch den Bundesrat „gepeitscht“. Starkes Stück, nicht wahr?

Dieses Jahr ist es ruhig geblieben um der Kanzlerin warme Worte. Bislang jedenfalls. Dabei … – Schuldenvermehrung und so, diesmal hätte Claudia Roth eigentlich allen Grund, sich zu echauffieren. Merkel hatte nämlich auch gesagt, … – tun Sie mir bitte den Gefallen und sagen es der Roth nicht! Also, Merkel sagte: „Der Euro ist die Grundlage unseres Wohlstands. Deutschland braucht Europa und unsere gemeinsame Währung. Für unser eigenes Wohlergehen wie auch, um weltweit große Aufgaben zu bewältigen.“ Mehr nicht, jedenfalls nicht zum Euro. Aber immerhin. Nicht, dass die Roth das hört! Man könnte ja – böswillig interpretiert – da eventuell herauslesen … Und die meisten Nachrichtenredaktionen haben genau dies herausgelesen. Gut, dass sie nicht auch gesagt hat: „Gute Freunde sind da, um zu helfen, wenn es einer braucht“. Andererseits: gute Freunde, sich einfach mal Helfen, also Solidarität und so …

Das wäre doch eigentlich etwas für die Claudia Roth. Nun ja, egal, das wäre wahrscheinlich doch etwas zu riskant gewesen. Die Merkel regiert ja nicht allein für die Roth, wenn man sich nicht einmal bei der so ganz sicher sein kann. Jedenfalls hat sie wahrscheinlich gut daran getan, es nicht zu sagen. Dafür hat es aber jemand anders gesagt. Ja, das mit den guten Freunden. In Bezug auf den Euro, ja sicher, in Hinblick auf Griechenland. Was dachten Sie denn?! „Gute Freunde sind da, um zu helfen, wenn es einer braucht“ – Chinas Ministerpräsident Jiabao hat es gesagt. „Für viele angeschlagene Staaten scheint das Reich der Mitte der letzte Rettungsanker zu sein“, schreibt Ralf Heß bei heise.de. „Für die Volksrepublik ist der Zeitpunkt gekommen, jetzt die in jahrelanger Arbeit erwirtschaftete Dividende einzufahren. Die Freundschaftsbekundungen Jiabaos gegenüber den angeschlagenen EU-Staaten dagegen sind wohl kaum mehr als eine diplomatische Floskel, mit der den Staatschefs dieser Länder der Kaufvertrag über Europa schmackhaft gemacht werden soll.“

Aber gut, was soll uns groß interessieren, was der chinesische Regierungschef so von sich gibt? Schließlich haben wir selbst ja auch eine tolle Regierungschefin. Und die hat jetzt gesagt, in besagter Neujahrsansprache: „Gemeinsam haben wir Enormes geleistet. Wir haben erfahren, was möglich ist. Das ist wichtig, denn wir Deutschen sind uns unserer Stärken selbst nicht immer bewusst.“ Das ist diese typisch deutsche Art: ständig an der eigenen Nation herummäkeln. Machen wir uns also unsere eigenen Stärken bewusst! So wie jetzt z.B. der Cicero mit seinem Januar-Titel: „Vorbild Deutschland. Was die anderen an uns bewundern.“ So geht es doch auch. Sicher, das Titelbild ist Geschmackssache. Und auch die Story direkt darunter: „Welthandel in Gefahr: Chinas Angriff auf die Wirtschaftsordnung“. Aber so ist es nun einmal, da kann man nichts machen – außer natürlich: sich gemeinsam mit der Kanzlerin auf die deutschen Stärken besinnen.

James MacDonald hat diesen Cicero-Artikel über die Chinesen geschrieben. Der steht aber (noch) nicht online; er heißt: „Der Kampf um Rohstoffe“. Ein Historiker, überhaupt ein ulkiger Kerl, dieser MacDonald. Vor drei Wochen war in der FAZ über ihn zu erfahren, dass er Staatsschulden offenbar für „gar nicht so übel“ hält. Der Schuldenstaat sei die Wiege der modernen Demokratie, behauptet er. Kredit zu geben, privat oder öffentlich, sei stets Ausdruck von Lebensfreude und wirtschaftlichem Optimismus: Würden nämlich die Schuldner nicht glauben, dass die Rendite auf das geborgte Geld größer wäre als die Kosten von Zins und Tilgung, würden sie auf den Kredit verzichten. Auch die Gläubiger müssten darauf vertrauen, dass das Einkommen des Schuldenstaats in der Zukunft wächst. Wirklich ulkig: wirtschaftlicher Optimismus und Lebensfreude in einem Atemzug zu nennen! Und überhaupt: wenn Schuldenstaaten die Wiege, und nicht nur die, sondern überhaupt Kennzeichen der modernen Demokratien wären, müssten Überschussländer doch Diktaturen sein. Ansichten hat dieser Mann!

Beim Aufstieg zur ökonomischen und militärischen Großmacht gefährde China jetzt die Grundpfeiler der internationalen Wirtschaftsordnung, weil es den freien Handel und überhaupt den Zugang zu Rohstoffen behindere, schreibt MacDonald in der aktuellen Ausgabe des Cicero: „Mit großer Eile hat China in Afrika, Zentralasien und Lateinamerika Konzessionen ausgehandelt und Vermögenswerte gekauft, um seine Versorgung mit Erdöl, Metallen und Nahrungsmitteln zu sichern. In Afrika werden die Konzessionen bereits von chinesischen Soldaten bewacht.“ Na sowas! Da hatte Joseph Nye nicht zuletzt im Hinblick auf die chinesische Afrikapolitik den politikwissenschaftlichen Begriff der Soft Power geprägt, und dann schalten die Chinesen einfach mal so um auf Hard Power. Und zwar nicht nur in Afrika. China, um noch einmal James MacDonald zu zitieren, „hat seine Fähigkeit demonstriert, Satelliten mit bodengestützten Raketen zu bedrohen, hat eine landgestützte Flugabwehr-Trägerrakete entwickelt, die die US-Navy daran hindern soll, ihre traditionelle Rolle als Schutzmacht anderer ostasiatischer Länder zu erfüllen; und die Hochseeflotte wächst rasch, die Chinas Militärmacht in weit entfernte Regionen tragen soll“.

„Chinas Welt – Was will die neue Supermacht?“ titelt heute der Spiegel. Eine berechtigte Frage; denn „so wie es sich jetzt abzeichnet, wird es eine multipolare Welt so wenig geben wie eine unipolare. Es wird wieder eine Ost-West-Konfrontation geben, in der nur nicht mehr die UdSSR, sondern China die Rolle des Gegenspielers der USA übernommen hat. Die bipolare Welt 2.0.“ So zu lesen in Zettels Raum. Heimlich, still und leise baue China globale Machtpositionen auf, heißt es dort, „wie ein Schachspieler“. So mag es gewesen sein, wenn man rückblickend die letzten gut vierzig Jahre seit Kiesingers legendärem „Ich sage nur China, China, China“ betrachtet. Inzwischen aber ist China, will man im Bild bleiben, zum Blitzschach übergegangen. Von Soft Power, von Langsamkeit, gar von Heimlichkeit kann inzwischen keine Rede mehr sein. Es sei denn, man zählte diese Form von Heimlichkeit mit dazu: „Seltene Erden – China hält Exportquote künftig geheim“. Die Frankfurter Rundschau meldete am Freitag: „Das staatliche ,China Securities Journal` berief sich bei seinem Bericht am Freitag auf nicht genannte Regierungskreise. Üblicherweise veröffentlicht das Handelsministerium die Ausfuhrquoten der begehrten High-Tech-Rohstoffe zwei Mal im Jahr. Die Regierung will die Ausfuhr in der ersten Jahreshälfte 2011 um 35 Prozent drosseln.“  

Dazu muss man wissen, dass es sich bei den Seltenen Erden um die strategischen Rohstoffe überhaupt handelt. In zahlreichen Hightech-Bereichen werden Seltene Erden gebraucht, wobei China 97 Prozent der Weltproduktion innehat. Die USA beabsichtigen China wegen der Exportrestriktionen – in Bezug auf diese strategischen Metalle – vor der Welthandelsorganisation WTO zu verklagen. Nur zu! Kleine Zusatzinformation: der Weltmonopolist China benötigt selbst mehr Seltene Erden als die gesamte Produktionsmenge. Kurzum: der High-Tech-Branche steht weltweit eine dramatische Rohstoffkrise ins Haus. Die Volksrepublik hat hier – ganz unabhängig von ihrer Globalstrategie – alle Trümpfe in der Hand. Unterdessen arbeitet die chinesische Zentralbank daran, ihre Währung als globale Reservewährung aufzubauen – dies tatsächlich mit der strategischen Ruhe eines Schachspielers. Heute erreicht uns die Meldung, wonach China eine Möglichkeit entwickelt haben will, Plutonium und Uran aus abgebrannten Brennstoffen zu gewinnen.

Ein deutscher Europapolitiker hat kürzlich darauf hingewiesen, dass es seit langem nicht mehr um G7 oder G20 gehe. Vielmehr gehe es um G2 oder G3. „Entweder wird Europa der Dritte im Bunde mit China und den USA oder Peking und Washington entscheiden ohne uns„, sagte der EU-Kommissar für Energie. Unglaublich: es ist Günther Oettinger. Ob er dies inzwischen seiner Parteifreundin hat klarmachen können? Wie sagte sie es noch so treffend in ihrer Neujahrsansprache, unser aller Kanzlerin? „Wir haben erfahren, was möglich ist. Das ist wichtig, denn wir Deutschen sind uns unserer Stärken selbst nicht immer bewusst.“ Nun ja, und falls es mit dem Selbstbewusstsein demnächst mal wieder richtig bergab gehen sollte, immer dran denken: „Gute Freunde sind da, um zu helfen, wenn es einer braucht.“

Gute Vorsätze

Ich weiß nicht: ist das tatsächlich so oder kommt mir das nur so vor? Ich meine: das ist doch an und für sich nichts Neues, dass am 31. Dezember ein Kalenderjahr aufhört und am 1. Januar ein neues beginnt. Und zwar ohne Pause, in der Silvesternacht, begleitet von einer Riesenknallerei. Um die bösen Geister zu vertreiben. Doch diese halten sich tapfer, verdammt tapfer. Neu ist auch nicht, dass die Menschen aus diesem Anlass, nämlich aus Anlass des Jahreswechsels, sich gute Vorsätze vorzunehmen pflegen, die sie im neuen Jahr – vermutlich wegen der bösen Geister – nicht umzusetzen vermögen.

Neu ist aber, doch vermutlich kommt mir das nur so vor, dass dieses Mal so eine Riesen Geschiss darum gemacht wird. Ja, um besagte gute Vorsätze. Der Spiegel hatte ihnen diese Woche Titelblatt und Titelstory gewidmet, aber auch alle möglichen Tageszeitungen haben dieses enorm spannende Thema für sich entdeckt. Im Fokus der Betrachtungen steht dabei die Fragestellung: wie kommt es bloß, dass aus den unheimlich guten Vorsätzen in aller Regel nichts wird. Außer beim Focus: „Ja, ich schaffe es!“ Optimismus pur, man merkt: Spiegel-Leser wissen mehr, Focus-Leser wollen mehr, doch das Leben ist und bleibt ein Jammertal – auch im neuen Jahr.

Denn der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach. Verdammt, wie kann das nur? Überhaupt: „gute Vorsätze“ – wenn ich das schon höre. Macht man sich eigentlich klar, was das überhaupt ist, ein Vorsatz? „In der Psychologie“, lesen wir bei Wikipedia, „ist ein Vorsatz eine Absicht, in einer bestimmten Situation ein bestimmtes Verhalten auszuführen.“ Ja toll – „in einer bestimmten Situation“, spätestens wenn es draußen knallt, ist sie da, die „bestimmte Situation“. Schöne Scheiße, dann muss man nämlich ran. Meine verehrten Herren, die Situation ist da, pflegte Adenauer zu sagen, und Kohl, sein selbsternannter Enkel griff dieses Zitat häufig und gern auf. Die Situation ist da, damit war nun wirklich nicht zu rechnen: ein neues Jahr.

„Im deutschen Strafrecht“, ebenfalls Wikipedia, „beschreibt Vorsatz (dolus) den wesentlichen Teil des inneren Tatbestandsmerkmals. Im Groben stellt er den Tatentschluss dar.“ Herr Richter, damit ist erwiesen: der Angeklagte hat ganz klar vorsätzlich gehandelt. Wobei es sich in diesem Fall naheliegenderweise nicht um einen sog. guten Vorsatz gehandelt haben dürfte. Womit wir bei der nächsten Frage wären: was – in Gottes Namen – ist eigentlich „gut“? Wohlbemerkt: es muss schon etwas sein, das nicht nur gut ist, sondern so gut, dass man nicht überstürzt damit anfängt, sondern das Vorhaben, äh: den Vorsatz seiner Realisierung erst zu einem genau datierten Zeitpunkt in Kraft treten lässt.

Morgen, morgen, nur nicht heute – sagen alle faulen Leute. Mit dieser Weisheit bin ich aufgewachsen, und soweit ich es übersehen kann, hat es mir nicht geschadet. Zum Beispiel auch deshalb, weil mir dieser Sinnspruch ein wenig dabei hilft, einem Wesensmerkmal der hier erörterten guten Vorsätze auf die Schliche zu kommen. Sagen wir mal: ihrem Doppelcharakter. Denn es scheint ziemlich klar zu sein, dass wenn man einen Vorsatz fasst, der sozusagen mit einer Zeitschaltuhr ausgelöst wird, muss er zwei Bedingungen erfüllen, die in sich nicht ganz widerspruchsfrei sind: einerseits gut, andererseits trotzdem scheiße. So weit die Theorie. In der empirischen Überprüfung halten sämtliche mir bekannten Neujahrsvorsätze diesen Definitionsbedingungen eisern stand.

Lesen Sie doch einfach mal, was die Leute sich so zum neuen Jahr alles vornehmen! Googeln Sie mit dem Begriff „Neujahrsvorsätze“! Immer wieder werden Sie finden, dass irgendwelche Leute mit dem Rauchen aufhören wollen. Kein Wunder, dass es um die, wie man heute sagt, Nachhaltigkeit dieser Vorsätze nicht besonders gut bestellt ist. In der Silvesternacht, Punkt 24 Uhr, also Neujahr Null Uhr, fange ich an zu Rauchen. In dem Moment, in dem die Anderen die Lunte des Böllers anzünden, stecke ich mir meine erste Zigarette an. Das wäre doch mal was! More Fun, Partytime – im neuen Jahr fängt mein Leben erst richtig an. Die blöden Böllerer lassen es krachen. So. Und ich jetzt endlich auch.

Ein Beispiel. Aber immerhin: damit ist das Rätsel, warum aus den angeblich so guten Vorsätzen meistens nichts wird, im Kern gelöst. Es liegt an den Vorsätzen. Und, wie sieht es aus? Haben Sie sich inzwischen einmal sachkundig gemacht, welche Neujahrsvorsätze so bei den Leuten kursieren? Okay, ich sage es Ihnen: eine Spaßbremse nach der anderen. Alle zusammengenommen: der perfekte Plan für ein absolut freudloses, möglicherweise zu allem Überfluss auch noch quälend langes Leben. Ich nehme an, dass die Leute sich genau deshalb in der Silvesternacht noch einmal, noch ein einziges Mal so richtig die Kante geben. Ein letztes Mal, bevor es mit dem richtig guten Leben verdammter Ernst wird.

Wie auch immer: der Fall ist klar. Entweder man verzichtet darauf, sich mit diesen angeblich guten Vorsätzen lächerlich zu machen. Wobei das Lächerliche darin besteht, dass man ihnen nicht gerecht wird, und nicht etwa darin, dass die Vorsätze für sich genommen schon lächerlich genug sind. Lächerlich! Oder – und das scheint mir die Antwort auf alle diesbezüglichen Fragen zu sein, sozusagen des Rätsels Lösung – man fasst Vorsätze, die erstens recht leicht umzusetzen sind, und zweitens – viel wichtiger – auf die man so richtig Bock hat. Seien Sie Sie selbst. Lassen Sie einfach mal so richtig die Sau raus! Das Leben ist kurz genug.

Ihnen wird schon etwas einfallen, wonach Ihnen schon immer mal der Sinn gestanden hat. Oder nicht? Ist es schon so schlimm? Ein paar Vorschläge gefällig? Also wohlbemerkt: nur Vorschläge. Gut zusammengestellte Neujahrsvorsätze wollen freilich individuell ausgerichtet sein. Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Also, wie sieht es aus? Rauchen Sie wenigstens? Finden Sie nicht auch, dass es an der Zeit wäre, endlich mal wieder fremdzugehen. So richtig saftiger Sex – wäre doch mal was. Oder, also und / oder: einfach mal das Konto überziehen, bis die Schwarte kracht. Und warum lassen Sie sich nicht mal häufiger eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen? Die Anderen machen es doch schließlich auch. Und, und, und …

Das Leben könnte so schön sein. Also: machen Sie etwas draus! Die Gelegenheit ist günstig. Ein neues Jahr beginnt. Sie leben nur einmal. Fangen Sie also endlich damit an!

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Polit-Prognose 2011: alles intakt

Auf ins neue Jahr! Endlich wird es für Polit-Freaks wieder spannend. Sieben Landtagswahlen stehen auf dem politischen Kalender. Mindestens sieben; denn wenn die Minderheitsregierung in NRW nicht halten sollte, sind es schon acht. Und wenn die Koalition in Berlin platzen sollte, gäbe es auch noch Bundestagswahlen. Aber warum sollte sie?

Über Selbstverständlichkeiten braucht man nicht zu reden. Deshalb ist es fast schon überflüssig, auf diese beiden, nennen wir sie: Grunderkenntnisse hinzuweisen:
1. die bisherigen sog. „Volksparteien“ verlieren an Bindungskraft – trendmäßig, präziser: mega-trendmäßig. Denn es handelt sich hierbei um einen Megatrend. Und damit zusammenhängend:
2. in der Bundesrepublik Deutschland hat sich ein Fünf-Parteien-System fest etabliert. Wobei in dieser Aufzählung bekanntlich CDU und CSU als eine Partei gedacht sind, und „fest etabliert“ soviel bedeutet wie: so bleibt es erst einmal. Union, SPD, Grüne, Linke und FDP. Das sind fünf.
Man kann und darf ganz getrost an diesen beiden „Grunderkenntnissen“ festhalten, selbst wenn der Megatrend zulasten von CDU und SPD im kommenden Jahr mal eine Pause einlegen sollte, und wenn 2011 nach den meisten Wahlen nicht etwa fünf, sondern nur drei oder vier Parteien in die Landtage einziehen sollten.
Denn – kleiner Tipp für die Plauderei auf der Silvesterfeier: ein Trend ist ein Trend, und „mega“ ist überhaupt schon mal sehr gut. Will sagen: man wird Ihre Prognose in 2011 gar nicht empirisch überprüfen können; denn Sie prognostizieren ja gar nicht. Sie machen einfach einen Trend aus, wie gesagt: einen Megatrend. Am besten verwenden Sie zusätzlich noch das Adverb „tendenziell“ – kommt immer gut.
Auch in Hinblick auf das etablierte Fünf-Parteien-System. Hier ist der Terminus „System“ von entscheidender Bedeutung. System bedeutet hier so viel wie: insgesamt kommen fünf Parteien vor und hängen irgendwie miteinander zusammen. Also: nicht immer und überall, sondern nur im „System“.

Der Vorteil, sich parteiensystemmäßig nicht allzu genau festzulegen, liegt darin, dass – wie gesagt – in den meisten Fällen gar nicht fünf Parteien in die Länderparlamente einziehen werden. Das ist das eine, das andere: es ist noch nicht ganz klar, ob nach diesem neuerlichen Superwahljahr überhaupt noch fünf Parteien übrig bleiben werden. Ausgerechnet die beiden Parteien mit den klarsten inhaltlichen Profilen hadern gegenwärtig nicht nur mit ihren Vorsitzenden, sondern zeigen darüber hinaus existenzbedrohende Schwächen.
Die Linken weisen zwar stabile Umfragewerte um die zehn Prozent auf, allerdings nur bei der bundesweiten Sonntagsfrage. In Bezug auf die einzelnen Landtage ergibt sich jedoch ein völlig anderes Bild. Während die Linke im Osten Deutschlands als Volkspartei überall Platz Zwei belegt, bekommt sie in den westdeutschen Flächenländern kein Bein auf die Erde. Abgesehen von den drei Stadtstaaten und dem Saarland dümpelt sie allerorten um die Fünf-Prozent-Marke herum.
Hinzu kommt, dass – wenngleich geleugnet – auch inhaltlich die Grenze zwischen „Realos“ und „Fundis“ exakt dort verläuft, wo dereinst der Eiserne Vorhang heruntergelassen war. Dass dies in einem Jahr, in dem sich die neue Partei anschickt, ein Programm zu beschließen, die Spannungen, ja: Spaltungstendenzen deutlich erhöht, ist wenig überraschend.
Doch ganz unabhängig davon, was die innerparteilichen Ränkespiele ergeben werden: sollten nach den Anfangserfolgen die westdeutschen Landtage für die Linkspartei wieder in unerreichbare Ferne gerückt sein, hat sich das mit der Partei Nr. 5 im vermeintlich etablierten Fünf-Parteien-System erledigt. Mit ganz erheblichen Auswirkungen weit über die Partei Die Linke hinaus.

Für die FDP, die so klar für den Kapitalismus ist wie die Linkspartei dagegen, geht es in diesem Jahr ganz offenkundig ans Eingemachte. Daran ändert auch der Hinweis nichts, dass die FDP schon oft totgesagt worden sei, weil sie in der Mehrheit der Landtage nicht vertreten war und an der Fünf-Prozent-Hürde herumkreuchte. Dies ist ein Verweis auf die alte Bundesrepublik. Die Grünen waren weder stark noch stabil genug, den Liberalen die Rolle des Züngleins an der Waage streitig machen zu können.
Die FDP hat – daran ändert nicht einmal der Blick auf die unglaublich erfolgreiche, letzte Bundestagswahl etwas – ihre Funktion eingebüßt. Nicht mehr Funktionspartei sollte sie wenigstens inhaltlich etwas zu bieten haben. Die von Westerwelle ausdauernd betriebene Verengung auf die Marke „Steuersenkungspartei“ verschaffte der FDP den Rekord vom Herbst 2008 … und die einmalige Existenzkrise jetzt. Dies ist hinreichend erörtert worden.
Es bedeutet, dass die einzige Überlebenschance darin besteht, ein neues inhaltliches Angebot zu präsentieren und das dazu passende neue Personal. Westerwelles innerparteiliche Konkurrenten kommen dafür nicht infrage. Die FDP wird nicht überleben, nur weil Leute wie Brüderle, Gerhardt oder frustrierte Landespolitiker die Themen „Bildung“ oder „Bürgerrechte“ stärker plakatieren.
Auch ein Comeback Westerwelles bzw. der Aufstieg „seiner“ jungen Leute aus der zweiten in die erste Reihe können die FDP genauso wenig retten wie die Linksliberalen, die sich jetzt als mögliche Alternative zu Wort melden. Das ist so ehrenwert wie süß, aber sorry: da ist wirklich kein Platz mehr frei.
Für die FDP gibt es nur eine einzige Alternative zum Untergang, nämlich der nicht ganz offene, dafür umso nachhaltigere Wechsel zum Rechtspopulismus. Die Sache ist bereits im Gange, die Leute stehen längst bereit. Nicht die gute, alte Stahlhelmfraktion, keine Haiderisierung, und auch kein plumper Antisemitismus à la Möllemann. Die Rede ist vielmehr von den Herren rund um den liberalen Aufbruch.
Ohne eine allzu ruckartige inhaltliche Wende würde die FDP auf das Profil der Anti-Euro-Partei ausgerichtet. Die anderen Punkte sind für die Wutbürger bereits zurechtgelegt – unnütze, kostenträchtige Migranten („Sarrazin-Partei“), Vergesellschaftung der Kindererziehung („Familienpartei“). Sie werden jedoch in Hinterhand gehalten, weil die Anti-Euro-Kampagne erstens vor Verdächtigungen in punkto Rechtsradikalismus schützt, und zweitens sofortige wahlpolitische Erfolge verspricht.

Es steht keineswegs fest, dass sich diese Anti-Euro-Kräfte in der FDP durchsetzen werden. Es steht aber fest, dass die FDP entweder diese Wende zum Rechtspopulismus vollzieht oder aber von der Bühne verschwindet. Letzteres wäre für diese Bundesregierung zunächst einmal kein allzu großes Problem. Das mit dem Fünf-Parteien-System könnte man zwar vergessen, alles Andere schaut man sich dann nach der Bundestagswahl 2013 an. Ohne die liberalen Minister, versteht sich.
Wird jedoch die FDP in eine Anti-Euro-Partei transformiert, wäre die Bundesregierung schneller am Ende, als gegenwärtig so landläufig gedacht wird. Und falls Sie annehmen sollten, die Bundestagsfraktion würde solch einen Kurswechsel nicht mitmachen, empfehle ich Ihnen, sich einfach mal im FDP-Kreisverband ihrer Stadt umzuhören. Die Kameraden brennen nur drauf. Und mit solch einem populären Kurs hätte man auch nichts dagegen, vor die Wähler zu treten.
Was 2011 nicht ist, kann 2012 noch werden. Prost Neujahr! So wie die Dinge liegen, wird es tatsächlich bei einem Fünf-Parteien-System bleiben. Wahrscheinlich noch sehr lange. Und der Megatrend, dass die Volksparteien, oder sagen wir: die bisherigen Volksparteien an Zustimmung verlieren, wird intakt bleiben. Insofern können Sie bei Ihrem Polit-Smalltalk auf der Silvesterfete nichts falsch machen. Und noch ein Tipp: deuten Sie an, dass Ihnen der ganze Kram mit den Parteien sowieso mehr und mehr egal ist. Das kommt besonders cool. Und liegt im Trend. Sozusagen im Megatrend. 

Freiherren, Freigeister und diese Sehnsucht: ein Wintermärchen als Vorschlag zur Güte

Die stellvertretende Vorsitzende der Partei „Die Linke“ Katja Kipping hat die Weihnachtspause genutzt, die Abschaffung der Adelstitel zu fordern. Unter Bezug auf das österreichische „Adelsaufhebungsgesetz“ von 1919 sagte Kipping: „Es ist an der Zeit, dass wir das auch in Deutschland tun.“ Adelstitel seien nämlich in einer Demokratie überflüssig.

Auch in Deutschland wurden zwar seit 1918 keine Adelstitel mehr verliehen, und mit der Weimarer Reichsverfassung alle Privilegien des Adels zumindest juristisch beseitigt, nach wie vor ist es jedoch gestattet, den Titel als Namenzusatz zu führen – wenn man adelig ist, versteht sich. Derlei Traditionspflege hat keinerlei juristische Konsequenzen; man kann nicht einmal einen Anspruch darauf geltend machen, entsprechend angeredet zu werden.
Schon insofern hat Frau Kipping Recht: solch ein Titel ist so überflüssig wie nur was. Und dennoch scheinen diese mehr oder weniger hübschen Titel ganz so überflüssig doch nicht zu sein. Immerhin ließe sich mit all den Vons und Zus eine „vordemokratische“ Sehnsucht stillen, die Kipping „in Teilen der Bevölkerung“ auszumachen glaubt.
Diese werde insbesondere von Verteidigungsminister Guttenberg ausgenutzt, der versuche, „sich als jemand darzustellen, der anders ist als das politische Establishment“, erklärte Kipping der Süddeutschen Zeitung. Damit knüpfe Guttenberg „an die Unzufriedenheit mit der real existierenden Demokratie“ an und spiele „mit dem Bedürfnis nach einem aristokratischen Führungsstil“.

Ganz offensichtlich hat Katja Kipping mit ihrer Forderung nach Abschaffung der Adelstitel ein gutes Näschen bewiesen. Denn kaum hatte sie ihren Vorschlag gemacht, hagelte es auch schon Widerspruch von allen Seiten. Mehr ist über Weihnachten kaum zu erwarten. Sowohl in den Kommentaren unter den entsprechenden Meldungen als auch in den Blogs war zu vernehmen, dass nicht die Adelstitel, sondern vielmehr Forderungen nach ihrer Abschaffung überflüssig seien.
Schließlich sei doch der Adel in Deutschland seit 1919 abgeschafft, die heutigen Namenszusatzträger genössen keinerlei Privilegien, bei dem ganzen blaublütigen Gedöns handele es sich ohnehin nur um ein Unterhaltungssegment der Klatschpresse, und außerdem gäbe es im Lande weitaus wichtigere Themen.
Mit diesen sollten sich Politiker, insbesondere linke Politiker befassen, anstatt zu versuchen, um der eigenen Profilierung willen unpolitische Diskussionen über unpolitische Sachverhalte zu entfachen. Adelstitel seien letztlich bedeutungslos, und deshalb messe ihnen auch kein Mensch – von einigen den Lady-Di-Heftchen verfallenen älteren Damen einmal abgesehen – auch nur irgendeine Bedeutung zu.

Gewiss wäre es schade, wenn jetzt – ausgerechnet an Weihnachten – Zank und Streit darüber entstünde, wie wir es in diesem unserem Lande mit den vom blauen Blute zeugenden Titeln halten. Deshalb halte ich es mit Kippings Kritikern: eine solche Debatte wäre überflüssig. Die kann dieses Land nun wirklich nicht gebrauchen. Und sie tut auch nicht Not.
Denn bei allen Differenzen im Detail stimmen ja ihre Kritiker mit Frau Kipping überein, dass nicht nur eine Diskussion über sie, sondern auch die Adelstitel selbst heutzutage absolut überflüssig sind. Deswegen mache ich um des lieben Friedens willens folgenden Vorschlag zur Güte:
ausgehend von der Einigkeit aller Demokraten in dieser Sache verständigen sich die Fraktionen des Deutschen Bundestages darauf, ohne viel Aufhebens – sagen wir: eingestilt über den Ältestenrat – unter dem Tagesordnungspunkt „ferner liefen“ die Adelstitel abzuschaffen und das Tragen dieser Namenszusätze zu verbieten.

Dieses ganze Prozedere kann ohne eine solche einer Demokratie absolut unwürdigen öffentlichen Debatte über die Bühne gehen. Das Parlament beschließt diese reine Selbstverständlichkeit ohne irgendeine Aussprache, so wie der Bundestag alle möglichen anderen Lappalien ebenfalls beschließt, ohne dass irgendjemand irgendeine Notiz davon nähme. Der Beschluss kommt ins Bundesgesetzblatt, und fertig ist die Lauge.
Die Betroffenen erhalten nach Inkrafttreten des Gesetzes eine amtliche Mitteilung, wann und wo sie sich ihre neuen Personalausweise, Pässe, Führerscheine etc. abzuholen haben. Die Gebühren für diesen Verwaltungsakt dürfen die üblichen kommunalen Preise nicht überschreiten. Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger sind von den Kosten der Entadeligung ihrer Namen freizustellen. Gewiss kämen mit dieser massenhaften Streichung von Namenszusätzen erhebliche Kosten auf die Städte und Gemeinden zu.
Doch dieses Geld ist den Demokraten die Demokratie wert. Das Adelstitelaufhebungsgesetz regelt im einzelnen, dass und wie Bund und Länder den Kommunen den Großteil dieser (Opportunitäts-) Kosten abnehmen. Obgleich sie sich in den vertraulichen Beratungen des Ältestenrats nicht mit ihrem Ansinnen durchsetzen konnte, dem ehemaligen sog. Adel selbst diese Kosten aufzubrummen, trägt die Linksfraktion diesen interfraktionellen Antrag mit.

Die Linke ist froh, diesen Fremdkörper aus der Demokratie verbannt zu haben, und bildet sich ein, auf ihrem Weg zum demokratischen Sozialismus ein Stück voran gekommen zu sein. Die anderen Fraktionen sind froh, Frau Kipping in ihrer Agitation gegen die „real existierende Demokratie“ etwas Wind aus den Segeln genommen zu haben. Die ehemaligen sog. Adeligen sind froh, diese absolut lächerlichen Namenszusätze endlich losgeworden zu sein, ohne befürchten zu müssen, auf ihren Sippentreffen blöde angeguckt zu werden.
Und alle Demokraten sind froh, dass nach langer, langer Zeit ein weiteres Stück Mittelalter abgeschüttelt werden konnte. Grafen, Fürsten und Barone und wie sie alle heißen gibt es jetzt nur noch im Märchen. Wohlbemerkt: das war jetzt nur so ein Vorschlag zur Güte von mir. Wenn Sie so wollen: ein Märchen. Denn selbstverständlich lassen sich die Adelstitel nicht einfach mal so nebenbei abschaffen.
Für solch ein Wintermärchen gäbe es nie und nimmer eine politische Mehrheit. Das weiß jeder; das weiß auch Katja Kipping. Man mag über ihre Motive streiten, man mag ihr Wort von der „real existierenden Demokratie“ für verunglückt halten, doch es ist ihr Verdienst, darauf aufmerksam gemacht zu haben. Adelstitel abschaffen, Revolution spielen, und sei es auch nur eine bürgerliche Revolution. So etwas gibt es hier nicht! Nicht in Deutschland. Wenn hier überhaupt mal Revolution gemacht wird, dann …

Ach, lassen wir das! Es ist noch Weihnachten.

Es muss nicht immer Duisburg sein

Was macht ein Wirt, wenn seine Kneipe ihren Ruhetag hat? – Richtig: er geht in eine andere Kneipe. Nächste Frage: was macht ein Streifenpolizist, wenn er seinen freien Tag hat? Was meinen Sie? Einem Privatdetektiv helfen? – Nun, überlegen Sie doch mal! Das kann doch nicht. Nach einem „Streifenpolizisten“ hatte ich gefragt, nicht nach einem Super-Cop Marke Super-Hirn. Bei einem privaten Sicherheitsdienst anheuern? – Mmhh, nicht schlecht. Bei den Hells Angels mitmachen? – Bingo! Richtige Antwort. Allerdings wollte ich hier und heute nicht darauf hinaus. Zumal: bei den Höllenengeln gelten strenge Aufnahmeregeln. Will sagen: die nehmen noch lange nicht jeden. 

Also, nochmal die Frage: was macht ein Streifenpolizist, wenn er seinen freien Tag hat? Oder, präziser formuliert: was machen zwei Streifenpolizisten, wenn sie ihren freien Tag haben? Oder, noch präziser: zwei Duisburger Streifenpolizisten? Richtige Antwort: dies und jenes. Präziser: die einen so, die anderen so. Merke: alle Polizisten sind nicht gleich. Schon gar nicht in ihrer Freizeit. Manche interessieren sich – nur mal so als Beispiel – für Fußball; andere dagegen nicht. Verständlich: bei jedem Heimspiel – hier: des MSV – müssen die sich mit diesen Vollidioten namens Hooligans anlegen. Wenn die dann endlich mal ihre Überstunden abfeiern dürfen, wollen die von Fußball nun aber wirklich nichts mehr hören und sehen. Höchstens vor dem Fernsehgerät. 

Andere Kollegen wiederum gehen so richtig in ihrer Arbeit auf. Die identifizieren sich mit ihrem Job. Auch in ihrer Freizeit. Und die stehen zu ihrem Verein, im Falle von Duisburger Straßencops – logisch: die stehen zum MSV. Also, zurück zu unserer Frage: was machen so – sagen wir mal: besonders engagierte Beamte, wenn der MSV spielt? Auswärts natürlich! Was die bei Heimspielen machen, ist doch klar: Dienst. Also, was machen die bei Auswärtsspielen des MSV? Die besonders engagierten, die sich mit ihrer Arbeit, mit dem MSV und irgendwie auch mit ihrer prominenten Stadt identifizieren können? Haben wir es jetzt? Logisch: die fahren mit. Oder gestern: Pokal-Achtelfinale in Köln. Bei den Nieten vom FC. Die Kölner in der ersten Bundesliga, die Duisburger in der zweiten – trotzdem: der Pokal hat seine eigenen Gesetze. 

40 Tausend Leute, davon 10 Tausend – schönes Wort: Schlachtenbummler, und der MSV macht die Podolski-Truppe zuhause nass. Bei denen zuhause, wie gesagt. Doch darum geht es hier nicht. Fußballergebnisse sind – unter uns gesagt – Kindergarten. Was machen also die beiden Duisburger Streifenpolizisten? Also, nachdem (nix: obwohl) der MSV gewonnen hat? – Richtig: sie machen sich auf, die Einsatzhundertschaft der Kölner Polizei zu überwinden, weil sie mit den Kölner „Problemfans“ noch etwas klären wollen. Dritte Halbzeit – Sie verstehen schon. Nun waren diese beiden Kollegen jedoch schon an der Schlägerei vor dem Spiel beteiligt, so jedenfalls die Kölner Polizei nach Angaben des WDR. Wie auch immer: die Kölner wollten ihre Duisburger Kollegen nicht durchlassen. Die wollten überhaupt keine Duisburger Fans durchlassen, diese Spielverderber. Denn dass es sich bei den beiden um Kollegen handelte, wussten die ja gar nicht. 

Erst einmal nicht. Aber dann, wie es eben so ist direkt nach dem Spiel: körperliche Gewalt, Landfriedensbruch, Beleidigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, das ganze Programm eben. Die Situation ist eskaliert; aber klare Sache: die Kölner Beamten im Einsatz haben angefangen. Die wollten die Duisburger einfach so nicht vorbei lassen. Und dann haben sie die beiden auch noch festgenommen, jedenfalls ihre Personalien aufgenommen. Ein Tatverdächtiger 35 Jahre alt, ein anderer 40 Jahre – okay, das ist auch noch kein Alter. Beide Angehörige der Duisburger Polizei. Tatvorwürfe gegen das Duo: siehe drei Sätze zuvor. Aktive Beteiligung an der Prügelei wirft ihnen die Kölner Polizei vor. Es sei immer ärgerlich, wenn man gegen Kollegen ermitteln müsse, erklärte Kölns Polizeisprecher auf Anfrage der WAZ. 

Die Duisburger Polizei wolle prüfen, schreibt Spiegel Online, „ob nach den strafrechtlichen Ermittlungen ein Disziplinarverfahren eröffnet wird“. Vom Polizeidienst seien die beiden mutmaßlichen Gewalttäter bislang nicht suspendiert worden, obwohl nach Informationen des WDR die Duisburger Polizisten nicht zum ersten Mal aufgefallen seien. Nochmal: die meisten Polizisten in Duisburg sind ganz anders. Ich bin Duisburger; mir können Sie das glauben. Klar: ein Restrisiko bleibt immer. Sollten Sie also – zum Beispiel an Sylvester – Unsinn vorhaben oder sich, wenn es wärmer wird, einfach mal ein schönes Fußballspiel ansehen wollen, den Zartbesaiteten unter Ihnen sei gesagt: es muss nicht immer Duisburg sein. Andererseits: vielleicht sind die beiden Jungs bei einer normalen Verkehrskontrolle ja auch ganz nett. Freunde und Helfer. Man weiß es nun mal nicht.

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Loveparade: Posse um Duisburger Gedenkskulptur schnell beendet

Albumcover "Innocent Victim" (Uriah Heep 1977)

Die Duisburger Posse um eine Gedenkskulptur zur Loveparade-Katastrophe hat ein unerwartet schnelles Ende gefunden. Unerwartet deshalb, weil „im Zusammenhang mit der Love-Parade“, wie ein Blogger auf der Westen schreibt, „auch nichts erspart (bleibt). Immer wenn man meint, es ginge nicht noch dicker, kommt es noch dicker.“ Ein – vermutlich nicht nur in Duisburg – inzwischen weit verbreiteter Gedanke, von mir dennoch sicherheitshalber zitiert und nicht geklaut.

Zitiert und nicht geklaut habe er das Motiv für die Gedenkskulptur, ließ der Grevenbroicher Künstler Jürgen Meister gestern sinngemäß wissen, nachdem xtranews aufgedeckt hatte, dass es sich bei seinem Sieger-Entwurf um ein Plagiat handeln könnte. Meister gab freimütig zu, was ohnehin nicht zu leugnen war, nämlich dass es sich bei dem Bild mit den in die Höhe gereckten Händen um ein seit einiger Zeit bei Fotolia erhältliches Motiv handelt.

Gegenüber xtranews bemühte Meister gar Picasso mit dem Zitat: „Ich suche nicht, ich finde“. Dennoch kam die heutige Entscheidung der Jury auch insofern etwas überraschend, weil der Vorsitzende von Pro Duisburg, Hermann Kewitz, sich Dienstagnachmittag noch in Gelassenheit übte, wie der Westen schreibt: „Wir wollten kein Kunstwerk von Jürgen Meister, sondern eines, das die Gefühlslage trifft, eines, das uns geeignet scheint, an die Opfer zu erinnern und zu mahnen.“ All diese Kriterien erfülle der Siegerentwurf nach wie vor, „unabhängig davon, wer die Idee dazu hatte“, erklärte Kewitz gestern.

Allerdings war ebenfalls zu erfahren, dass Duisburgs Alt-Oberbürgermeister Josef Krings zur gleichen Zeit „einfach ratlos und entsetzt (war). Wie kann uns das ein Künstler in einer Zeit solcher Offenheit verschweigen und dann noch glauben, dass so etwas unentdeckt bleibt?“ Dieser Vorgang hatte ihn, so Krings, „peinlich berührt“. Immerhin stand und steht völlig außer Zweifel, dass der Meister die Jury der Spendeninitiative über sein „Zitat“ in Unkenntnis gelassen hat. Zitate sind jedoch auszuweisen.

Dies sieht inzwischen auch Hermann Kewitz so. „Er hatte ja die Gelegenheit, uns darauf hinzuweisen, woher er die Silhouette hat. Das aber hat er nicht getan“, erklärte Kewitz heute. Deshalb sah sich, so das Ergebnis der heutigen Sitzung, die Jury der Initiative Spendentrauermarsch vom Meisterkünstler getäuscht und beendete daher die Zusammenarbeit mit ihm. Im Anschluss, also so gegen 14:00 Uhr, versuchte Alt-OB Krings, Herrn Meister über diesen Schritt telefonisch zu informieren. Vergeblich.

Um 14:14 Uhr teilte xtranews mit, „gerade eben“ eine eMail erhalten zu haben, mit der Meister seinerseits seinen Wettbewerbsbeitrag zurückgezogen hat. Die Innocent-Victim-Show: “Wegen der massiven und unsachlichen Anfeindungen und Unterstellungen sehe ich mich zu diesem Schritt gezwungen. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.“ Schuld sind die Anderen, klar, was den Künstler jedoch nicht daran gehindert hätte, an irgendeiner, nicht ganz so wichtigen Stelle einen kleinen Fehler, oder sagen wir: eine kleine Nachlässigkeit einzuräumen, die dann von bösen Neidern ausgeschlachtet worden wäre.

Nichts da. Jürgen Meister hat sich „nichts vorzuwerfen.“ Nun gut; Vorwürfe machen ihm Andere schon genug. Hier zum Beispiel: „Gerade bei einem so sensiblen Thema wie der Loveparade-Tragödie hätte der Künstler seine eigenen Gefühle und Ideen verarbeiten sollen, um ein würdiges Denkmal zu kreieren. Alle anderen Teilnehmer, die vermutlich mit mehr Aufwand, mit viel Liebe und Mühe etwas erschaffen haben, was ihrer eigenen Kreativität entsprungen ist, tun mir aufrichtig leid.“

So schreibt es Petra Röder. Sie hat als User „pdesign“ die Silhouette mit nach oben gereckten Händen bei Fotolia ins Netz gestellt. Sie erklärt, keine Ansprüche gegen Herrn Meister geltend machen zu wollen. Und, was das Loveparade-Denkmal betrifft: „Hier geht es um die Bewältigung von Trauer und deren Verarbeitung und nicht um eine finanzielle Bereicherung.“ Wohl wahr.

Petra Röder hatte übrigens ihr Bild niemals mit einem Gedanken an Trauer verbunden. Doch so kann es gehen: wenn ein Künstler kommt und häufig genug in Hände, die Freude und Jubel symbolisieren, einen „zweiten Blick“ hinein interpretiert, erkennen irgendwann auch Menschen, die die Loveparade für eine bemerkenswerte Kunstform gehalten hatten, in diesen Händen den Hilfeschrei um Rettung. Keine Frage: Jürgen Meister ist ein Künstler.

Duisburg: Posse um eine Gedenkskulptur zur Loveparade-Katastrophe

In Duisburg nehmen die Peinlichkeiten rund um die Loveparade kein Ende. Gestern hat die Initiative Spendentrauermarsch bekannt gegeben, dass sich eine Jury unter 39 eingereichten Vorschlägen für eine Gedenkskulptur entschieden hat, die ihr in künstlerischer Hinsicht am geeignetsten erschien, an die getöteten und verletzten Opfer der Loveparade-Katastrophe zu erinnern.

Die Duisburger WAZ schreibt unter der Überschrift „Die Gedenkstele: Hände, die um Rettung flehen“: „Die Hände zum Himmel gereckt. Sie scheinen auf den ersten Blick nach oben gerissen. Einer Jubelpose gleich. Wie im Moment größter Freude und Ausgelassenheit. Doch bei genauerem Hinsehen …“ kann man in ein Kunstwerk alles Mögliche hineininterpretieren; klüger ist aber – zumindest in diesem Fall: man lässt es.

Denn so wie es aussieht, ist die Initiative Spendentrauermarsch einem Künstler aufgesessen, der … – sagen wir mal so: „richtig stolz (ist) auf diese Entscheidung. Das ist der größte und wichtigste Eckpunkt meiner Karriere“. So sagt es jedenfalls Jürgen Meister, der Schöpfer des besagten Werkes. Nicht dem Grevenbroicher Tageblatt; denn dort hätte der stellvertretende Chefredakteur Horst Schlämmer gewiss knallhart nachgefragt, sondern der Neuss-Grevenbroicher-Zeitung.

Und da wird nicht ganz so knallhart nachgefragt, sondern freundlich berichtet: „Der 57-Jährige hat die Gedenkskulptur für die 21 Opfer der Loveparade in Duisburg entworfen – ein Kunstwerk mit hohem symbolischen Wert.“ In der Tat, nur: diese neuerliche Provinzposse symbolisiert etwas ganz Anderes dieser Loveparade-Katastrophe, als sich die Grevenbroicher Lokalredakteure haben träumen lassen.

Es sei ihm nicht leicht gefallen, eine ganze Woche „dicht zu halten“, erzählte Künstler Meister, der Meisterkünstler, auch noch der Grevenbroicher Zeitung – wegen seines Stolzes, versteht sich. Nicht ganz so schwer scheint es ihm gefallen zu sein, einen anderen nicht ganz unerheblichen Aspekt seines Entwurfes für sich zu behalten. Wie unangenehm für ihn, dass sogleich die Kollegen von xtranews darauf aufmerksam machen!

So wie es aussieht, handelt es sich nämlich bei „Meisters Entwurf“ um nichts Anderes als eine Eins-zu-eins-Kopie eines Bildes, das über die Fotoplattform “fotolia” jedermann zugänglich ist. Für jeden nunmehr  im direkten Vergleich bei xtranews zu betrachten: der in der WAZ abgebildete Meisterentwurf sowie das Bild aus “fotolia”. Ein Blogger unter dem Bericht in der Westen weist überdies darauf hin, es handele sich „eindeutig (um einen) Ausschnitt aus Pizzamannes Video, vergrößert und abkopiert“.

Sollte dem so sein, wäre es tatsächlich angebracht, von einer „Verhöhnung der Opfer“ bzw. von einer „Veralberung der Hinterbliebenen“ zu reden. Diese Vorwürfe sollten aber nicht gegen die Überbringer der schlechten Nachricht gerichtet werden, sondern gegen den Verursacher. So wie es aussieht, scheint es Jürgen Meister zu sein, der aus durchsichtigen Motiven die nötige Ernsthaftigkeit im Umgang mit dieser Katastrophe vermissen lässt.