Das Rheinland vibriert. Das Who is Who der Kölner Bucht trifft sich und kennt sich. DC Open ist eigentlich Magnet des süßen Sommerabends. Nur mich zieht es lieber in surreale Welten in der ehemaligen kurfürstlichen Nebenresidenz der Rhein-Ruhr-Metropolregion. Im beschaulichen Brühl krönt Alberto Giacometti das Jubiläum „100 Jahre Surrealismus“. Als Meister der Moderne trifft der Schweizer Künstler auf den Giganten des Kölner Dada. Das Max Ernst Museum zeigt in Kooperation mit der Fondation Giacometti Paris die künstlerische Würdigung einer Freundschaft. Mit Madeleine Frey habe ich nach der feierlichen Eröffnung darüber gesprochen, was die von gegenseitiger Anerkennung geprägte Verbindung zweier Weltkünstler überdauert.
Anna Maria Loffredo: Wie fühlst du dich nach dem heutigen Abend?
Madeleine Frey: Es war volles Haus. Ich glaube, die Ausstellung ist wirklich schön geworden und ich bin froh und erleichtert.
Anna Maria Loffredo: Wie bist du auf die Idee gekommen, Giacometti zu wählen?
Madeleine Frey: Man muss fairerweise sagen, das Projekt stand schon, als ich kam. Ich bin erst seit zwei Jahren am Max Ernst Museum. Projekte solchen Formats haben eine sehr lange Vorlaufzeit, vier bis fünf Jahre. Mein Vorgänger hat den Kontakt mit der Fondation Giacometti aufgenommen, hat die Verträge gemacht und sie wurden, kurz bevor ich kam, unterschrieben. Und ich dachte …
Anna Maria Loffredo: Jackpot?
Madeleine Frey: Ja, ich hatte gar keine andere Wahl (lacht). Oft ist es so, wenn man als Direktorin neu anfängt, dass man manchmal Pech hat, und man Projekte umsetzen muss, hinter denen man vielleicht nicht steht. Man hat aber auch Glück, so wie hier, dass es ein Projekt ist, dass man auch persönlich toll findet und dann gerne umsetzt.
Anna Maria Loffredo: Da steckt bestimmt ein großes Team hinter, um so eine hochkarätige Ausstellung mit einer eleganten Leichtigkeit auf die Beine zu stellen.
Madeleine Frey: Wie hatten ein unglaublich tolles Team. Friederike Voßkamp, die das Ganze gemeinsam mit Laura Braverman der Fondation kuratiert hat, arbeitet ganz schön die Schnittstellen zwischen Max Ernst und Alberto Giacometti heraus. Die Frage ist, zeigt man das, was man schon 100 Mal gesehen hat, oder schafft man es, durch eine gute Kuration ein Narrativ zu entwickeln, das wirklich neue Blickwinkel eröffnet? Ich finde, das ist uns sehr gut gelungen.
Anna Maria Loffredo: Was siehst du in dem Œuvre von Giacometti wegweisend für 2024, vor allem für junge Menschen? Welchen guten Grund gibt es für sie, nach Brühl zu kommen und sich die Ausstellung anzuschauen?
Madeleine Frey: Ich glaube, es ist eine gewisse Offenheit, mit der Giacometti an seine Arbeiten herangeht. Also wir sind einer ziemlich gewaltigen Entwicklungslinie auf der Spur. Giacometti startet mit Objekten, die dem Kubismus nahe sind, geometrische Formen, Reduktion der Form, alles im Paris der 1920er Jahre. Da war Giacometti selbst gerade Mitte 20. Wenn man jung ist, guckt man, was ist eigentlich gerade vorhanden, was ist en vogue, was machen andere? Man orientiert sich an Älteren. Dennoch hat er immer wieder seine eigene Sprache gefunden. Stück für Stück hat er sich dort heraus gearbeitet und war mutig und ist eigene Schritte gegangen. Giacometti war immer wieder von Zweifeln geprägt. Nach der kubistischen Phase hat er gesagt: „Mir reicht es nicht. Ich will irgendwie weiter.“ So hat er die Gitterskulpturen entstehen lassen. Dieser Zweifel hat doch immer wieder zu was Neuem geführt.
Anna Maria Loffredo: Seine Zweifel wirkten wie ein Treiber?
Madeleine Frey: Ja, genau das hat ihn angetrieben. Es hat ihn nicht losgelassen und ich kann mir vorstellen, gerade für viele junge Menschen, man muss seinen eigenen Weg finden. Und der eigene Weg kann auch steinig sein. Gerade am Beispiel von Giacometti – und das gilt im Übrigen auch für Max Ernst – sieht man, beide haben immer weiter gemacht, haben an sich geglaubt, und jetzt haben wir zwei Weltkünstler in Brühl.
Aus der Ausstellung:
Aufgrund der beengten räumlichen Verhältnisse in Giacomettis Atelier stellte er das Werk bei Max Ernst auf der Terrasse der unweit gelegenen Atelierwohnung unter, wo es versehentlich zu Schaden kam. Ernsts Sohn Jimmy erinnert sich später: „Ich liebte es, dort (auf der Terrasse) zu sitzen und mir die atemberaubende Skyline von Paris anzusehen, und zwar durch das regungslose Ballett der Skulpturen hindurch, die Alberto dort aufbewahrte, weil sein Atelier zu klein war.“
Anna Maria Loffredo: Was können wir von dir in der Zukunft erwarten? Welche Wünsche hast du für dein Haus?
Madeleine Frey: Mir geht es vor allem darum, den Surrealismus auch in unsere heutige Zeit zu holen. Ich finde es wichtig, die Zeit des 20. Jahrhunderts und die klassische Moderne zu zeigen, um vor allem die Ideen in unsere heutige Zeit zu transportieren. Ein großes Projekt, das sich dann hoffentlich auch bald angehen kann, ist unsere neue Dauerausstellung. Max Ernst ist hier in Brühl aufgewachsen, groß geworden, ist dann nach Bonn gegangen bzw. bevor er nach Bonn zum Studieren ging. Als Soldat wurde er im Ersten Weltkrieg eingezogen. Max Ernst hat zwei Weltkriege erlebt. Er war interniert. Er war Flüchtling. Er musste ins Exil. Er hat immer wieder von vorne anfangen müssen. Und heute feiern wir das, als wäre es etwas Normales. Aber Max Ernst hat gleich zwei Weltkriege miterleben müssen.
Anna Maria Loffredo: Er hatte nicht nur Lebens-, auch Liebeskrisen. Durch Krieg finden auch tragische persönliche Geschichten statt. Aufgrund dessen hatte er seine Liebste [Leonora Carrington] verloren … er hat immer wieder von vorne anfangen müssen.
Madeleine Frey: Er hat nie die Zuversicht verloren. Gerade wenn wir unser Jahrzehnt anschauen. Die 20er Jahre sind so krisengeschüttelt, man weiß gar nicht mehr, wo man hinschauen soll. Ein Krieg nach dem nächsten beginnt und irgendwie denkt man, es betrifft immer andere. Aber nein, es betrifft mittlerweile auch uns. Ich möchte das gern im Licht des 21. Jahrhunderts erzählen, einerseits aufmerksam zu machen, andererseits Zuversicht zu geben. An einem Künstler wie Max Ernst sieht man doch recht gut, dass man trotz vieler Krisen und vieler äußeren Bedingungen, für die man selbst nichts kann als Individuum, es schaffen kann, sich aufzuraffen und was zu bewegen. Und das hat Max Ernst mit seiner Kunst gemacht. Wenn man jetzt denkt, dass Max Ernst nicht unbedingt ein politischer Künstler war, wie wir zum Beispiel heute politische Künstler sehen, so hat er doch immer wieder Arbeiten geschaffen, die extrem politisch sind. Auf eine ganz subtile Weise ist er auf gewisse Dinge eingegangen. Also ich denke da an den Hausengel, den er als Reaktion auf den spanischen Bürgerkrieg gemacht hat. Ein Monster, das alles zertrampelt, das sich immer wieder aus sich selbst geriert. Er hat Europa nach dem Regen gemalt, wo sich die Landschaften Europas verändert haben, hat das schon gemacht, bevor der Zweite Weltkrieg begonnen hat. Wie so eine hellseherische Fähigkeit, dass in Europa eine Neuordnung passieren wird, die ja auch geschehen ist. In einem Gemälde ist eine apokalyptische Landschaft, es zeigt den Mond, wie er den Abgrund hinunterrollt, und kurz vor seinem Tod hat er dieses Gemälde noch einmal umbenannt, nachdem er zwei Weltkriege erlebt hat, den Abwurf der Atombombe, den Vietnamkrieg. Das vergisst man immer wieder. Er war in Amerika, hat dort das Geschehen beobachtet und Gemälde umbenannt. Gleichzeitig hat er aber auch in seinen späten Jahren wunderbare, humorvolle Skulpturen geschaffen. Er war neugierig.
Anna Maria Loffredo: Er hat antizipiert. Nicht nur in der politischen Sphäre, auch im künstlerischen Sinne hat Max Ernst Dinge antizipiert, Techniken „vorentwickelt“ und ihre Wirkung vorausgesehen, wovon andere moderne Künstler gerade in den USA profitiert haben.
Madeleine Frey: Er war der Vorläufer von Jackson Pollock. Er hat Jackson Pollock die Drip Painting Technik beigebracht hat, wodurch Jackson Pollock dann weltberühmt wurde.
Anna Maria Loffredo: Wie kommt es, dass du so eine Hinwendung zu Max Ernst hast? Bei mir war es mein Kunstlehrer, der mir ihn beigebracht hat.
Madeleine Frey: Ich war vorher Leiterin der Galerie Stadt Sindelfingen, im Museum für Moderne und zeitgenössische Kunst, wo wir auch Kunst des 20. Jahrhunderts gezeigt haben, aber eher Richtung Süddeutschland. Da war das Informel stark vertreten, Otto Goetz, Willi Baumeister … sie waren die Heroes der Sammlung. Da war ich sechs Jahre. Dann hat sich die Möglichkeit ergeben, nach Brühl zu wechseln. Ein großer Sprung in ein sehr, sehr kaltes Wasser. Ich kannte tatsächlich niemanden im Rheinland.
Anna Maria Loffredo: Mit viel Konkurrenz mit den großen Städten Köln und Düsseldorf. Du hattest aber heute volles Haus in Brühl.
Madeleine Frey: Ja, es ist eine tolle Stimmung!
Anna Maria Loffredo: Ich komme gerne wieder. Danke, Madeleine!