„Bei fast allen Kindern ist der Wille da, Schwimmen zu lernen“

Schwimmbecken Foto: MCSAM Lizenz: Gemeinfrei


Jedes fünfte Kind kann nicht schwimmen. Es fehlt an Schwimmbädern und Kursen.

13 Jahre alt war der Junge, der Mitte Juli in der Ruhr ertrank. In der Nähe des Eisenbahnmuseums in Bochum Dahlhausen hat er sich angekleidet ins Wasser begeben. Warum ist bis heute nicht bekannt, aber dass er nicht schwimmen konnte, wissen die Behörden mittlerweile. Zwei Tage kämpften die Ärzte um sein Leben. Am Ende vergebens. Die Ruhr ist ein ruhiger Fluss. An einigen Stellen kann man sie zu Fuß durchqueren. Dutzende Wehre und Dämme bremsen die Geschwindigkeit des Wassers. Aber es gibt auch Bereiche, an denen der Fluss drei bis vier Meter tief ist. Wenn man auf rutschigen Steinen den Halt verliert, wird es riskant, wenn man kein sicherer Schwimmer ist. Für Nichtschwimmer ist auch die Ruhr lebensgefährlich. Doch immer weniger Kinder sind sichere Schwimmer: 2010 wurden noch 64 Prozent von ihnen als solche eingeschätzt. 2022 waren es nur noch 57 Prozent. Von 10 auf 20 Prozent hat sich in diesem Zeitraum die Zahl der Kinder verdoppelt, die überhaupt nicht schwimmen können.

Schwimmen zu können ist nach Erkenntnissen der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft (DLRG) auch eine Frage des Geldes: „Was uns in der Deutlichkeit überraschte, sind die Unterschiede nach Einkommen“, sagte Ute Vogt, die Präsidentin der DLRG, bei der Vorstellung einer Umfrage zur Schwimmfähigkeit der Bevölkerung: „Die Hälfte (49 %) der Kinder aus Haushalten mit einem monatlichen Nettoeinkommen unter 2.500 Euro kann nicht schwimmen. Hingegen sind es bei einem Haushaltsnettoeinkommen über 4.000 Euro zwölf Prozent. Ute Vogt: „Schwimmen zu können darf keine Frage des Geldes sein. Umso wichtiger ist es, dass jede Schule in die Lage versetzt wird, das Schwimmen angemessen zu unterrichten.“

Nicht schwimmen zu können kostet Leben: Mindestens 355 Menschen sind 2022 in Deutschland ertrunken. 2021 waren es 56 weniger. 252 von ihnen starben in Flüssen und Seen, in denen das Baden in der Regel kostenlos ist. Der gefährlichste Monat ist in der Regel der August, in dem es auch in Deutschland erträgliche Temperaturen gibt und man große Teile des Lebens draußen verlagern kann.

Mit 69 Toten ist das Bundesland mit den meisten Ertrunkenen Bayern. Der Bayerischer Schwimmverband hat gemeinsam mit der DLRG die Initiative „Bayern lernt schwimmen“ gestartet. Auf der Internetseite gibt es neben den Adressen von Schwimmvereinen Videos mit Tipps, wie Kindern schwimmen beigebracht werden kann. Besitzer von privaten Schwimmbädern wie Hotels werden aufgerufen, sie der DLRG und den Vereinen für Schwimmkurse zur Verfügung zu stellen. Was die Aktion gebracht hat, sagt Peter von der Sitt, der Fachwart Schule und Verein im Bayerischen Schwimmverband, auf Anfrage der Jungle World, sei noch nicht klar: „Hierzu liegen uns wenig Informationen vor. Sicherlich haben interessierte Eltern die Plattform genutzt, um Vereine oder DLRG-Ortsgruppen in der Nähe zu finden, die Schwimmkurse anbieten. Eine Rückmeldung hierzu gab es jedoch nicht.“ Dass viele Kinder nicht schwimmen können, liege allerdings nicht am mangelnden Interesse: „Als Lehrer, der seit vielen Jahren im Rahmen des Schwimmunterrichts an der Schule den Kindern das Schwimmen beibringt, kann ich sagen, dass es zu nahezu 100 Prozent nie am Willen, sondern an den Gegebenheiten lag, wenn ein Kind nicht schwimmen lernte. Fehlende Wasserzeiten, geschlossene Schwimmbäder, zu große Gruppen oder – so wie gerade nach der Pandemie – dass die Schwimmkurse über lange Zeit völlig ausgebucht sind, erschweren das Schwimmenlernen auf breiter Front. Schwimmvereine, Wasserwacht, DLRG und Volkshochschulen sind in Sachen Schwimmen schlichtweg am Limit.“

Auch im Kreis Unna im östlichen Ruhrgebiet müht man sich, die Kinder in die Becken zu bekommen. Die angebotenen Kurse sind fast alle ausgebucht. Das Programm „Jedes Kind soll schwimmen lernen“ ist ein Erfolg. Die Kleinen sind meist mit Begeisterung bei der Sache, sagt Kreissprecher Max Rolke: „Die Kinder im Schwimmkurs wollen zum Großteil schwimmen lernen. Es gibt vereinzelt Kinder, die erst in die Wassergewöhnung müssen. Alle anderen schwimmen nach einer Woche nur mit einer Schwimmnudel allein im tiefen Becken. Manche haben Angst vorm Tauchen, aber auch dies wird mit unterschiedlichen Übungen vorsichtig geübt.“ Das Problem sei eher der Mangel an Gelegenheiten zu lernen, den Kopf über Wasser zu halten und dabei auch noch Spaß zu haben: „Viele Eltern haben die Rückmeldung gegeben, dass es schwierig ist, einen Schwimmkurs zu bekommen und es lange Wartelisten gibt“, sagt Rolke. Dies sei im gesamten Kreisgebiet ein Problem, da die Wasserflächen immer weniger werden. „Wenn Kinder spielerisch an das Thema Wasser und Schwimmen herangeführt werden und dies mit ausgebildeten Schwimmlehrern passiert, dann ist eigentlich bei fast allen Kindern der Wille da, Schwimmen zu lernen.“

Doch die Gelegenheiten dazu gibt es immer seltener. Die Zahl der Schwimmbäder nimmt seit Anfang des Jahrhunderts kontinuierlich ab. Gab es in Deutschland im Jahr 2000 noch 3478 Hallenbäder, waren es 2019 nur noch 3233. Noch drastischer hat sich die Lage bei den Freibädern verschlechtert: In über der Hälfte der im Jahr 2000 vorhandenen 1068 Freibädern wurde das Wasser abgelassen. 2019 gab es bundesweit nur noch 502 Freibäder.

Grund genug für den damaligen Innenminister Horst Seehofer (CSU), 2019 einen neuen „Goldenen Plan“ anzukündigen. Was wie ein Vorhaben der Kommunistischen Partei Chinas, dem heimlichen Vorbild der Christsozialen, klingt, hatte einen Vorläufer in der bundesrepublikanischen Sportgeschichte: Von 1960 an wurden in Deutschland bis 1975 17,4 Milliarden Mark in Schwimmbäder, Sporthallen und Fußballplätze gesteckt. Das Land sollte sich bewegen. Ein Großteil der heutigen Bäder wurden in dieser Zeit gebaut. Der Goldene Plan Seehofers wurde im Gegensatz zu seinem Vorläufer nie umgesetzt. Doch die Hinterlassenschaften der Sportplanwirtschaft der 60er und 70er-Jahre bereiten nun Probleme, wie die Bäderallianz, ein Zusammenschluss aller Verbände, die sich um Schwimmen, Springen und Planschen kümmern, im Sommer feststellte. Im Positionspapier „Die Zukunft der deutschen Bäder“ stellt die Allianz fest, dass es zwar einen Sanierungsstau bei den Bädern in Höhe von rund 4,5 Milliarden Euro gibt, die reine Sanierung allerdings gar nicht erstrebenswert sei. „Die meisten Bäder entstammen aus den Zeiten des Goldenen Plans und sind sportzweckorientiert. Seither haben sich die Nachfrage und der Bedarf deutlich verändert.“ Die Bäder müssten klimafreundlicher, attraktiver und vor allem bedarfsgerechter ausgerichtet werden: „Grundlage unserer Bäder“, heißt es in dem Papier, „ist fast immer die Pflichtaufgabe des Schulsports. Auch dort hat ein Wandel hin zu „Sport, Bewegung und Körpergefühl im Wasser“ und „Vermeidung von Ertrinkungstod“ stattgefunden.“ Die Bäder der Zukunft sollten Orte der Gesundheit, des sozialen Miteinanders und des Sports, aber auch Orte der Freizeit für Familien und die Gesellschaft sein. Dafür braucht es allerdings Geld, dass es nicht gibt. Allein die gestiegenen Energiekosten, die nach einer Schätzung des Bundeswirtschaftsministeriums bis in die 40er-Jahre hinein nicht sinken werden, werden den Bäderbetreibern, in der Regel sind das die Städte, weiterhin große Sorgen bereiten. Für Kinder, die schwimmen lernen wollen, sind das keine guten Nachrichten.

Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Jungle World

 

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