Es gibt wenige Gebiete, auf denen Deutschland bis heute weltweit eine Sonderrolle einnimmt. Die Energiepolitik mag eines davon sein, die umwerfende Brotkultur ein anderes, ganz besonders besonders ist Deutschland aber weiterhin in Fragen jüdischer Identitätsbildung.
In diese Kategorie fällt auch der Artikel „Es wird nie gut sein, aber…“ von Rina Soloveitchik in der ZEIT, der sich mit den Identitätsproblemen des zeitgenössischen Judentums in Deutschland befasst. Soloveitchik beklagt sich darin wortreich über die anhaltende Holocaustfixierung des jüdischen Lebens und darüber, dass die „jüngeren Juden in Deutschland dieses trostlose Selbstverständnis noch immer weitertragen.“ Zum Beweis werden Shahak Shapira und Oliver Polak zitiert und auf die verantwortungsschwangeren Staatsverträge mit dem Zentralrat verwiesen. Neben diesem ist für Soloveitchik außerdem noch die „bürokratische, träge, starre, traditionalistische Kultur“ in den jüdischen Gemeinden ein wesentlicher Bremsklotz für die Entwicklung eines modernen Judentums. Rabbiner seien „auf Formalitäten fixiert“, was immer das heißen mag, und sorgten dafür, dass in den Synagogen nur „jahrhundertealte Gebete heruntergelesen“ werden, ohne dass diese noch irgendjemandem etwas sagten. Graswurzelprojekte wie Lesekreise und ähnliche Zusammenkünfte seien auf Foren außerhalb des Gemeindelebens beschränkt.
Gegen diese Analyse lassen sich verschiedene Kritikpunkte ins Feld führen. Chaya Tal, Autorin des lesenswerten Blogs Ich, die Siedlerin, konstatierte auf Facebook spürbar aufgewühlt, das Problem der Autorin liege offenbar weniger beim Verhältnis der Deutschen zu den Juden als vielmehr bei Letzteren selbst und da insbesondere in einem Judentum, das sich, so Tal, nach Ansicht der ZEIT-Autorin ‚gefälligst mal reformieren‘ sollte.
Da mag teilweise etwas dran sein, und nachdem Chaya eher zu den Vertretern der orthodoxen Glaubensrichtung gehört, ist es verständlich, dass die von Soloveitchik mit WG-Wehmut beschriebenen Schabbat-Singabende mit Trommel und Gitarre ihrer Vorstellung von jüdischem Leben eher nicht entsprechen. Doch geht ihre Kritik noch am Kern des Problems vorbei. Wo immer Soloveitchik in ihrem Text eine Analyse der Schwierigkeiten des heutigen Judentums in Deutschland versucht, so schaut sie auf dieses Judentum durch ein Prisma, das ihren Blick verengt: Berlin.
Denn die von der Autorin beschriebenen Phänomene sprechen von einer umfassenden Fixiertheit auf – und jüdischen Sozialisierung in – einem Berlin, das für Juden, genau wie für alle anderen auch, schon längst zu einer großen Filterblase geworden ist.
So beklagt der Artikel, dass das „offene, diskursive Judentum“ sich in Deutschland neue Wege suchen müsse und diese in Singabenden von LSD (Let’s Start Davening) oder dem Toralesekreis der Synagoge am Fraenkelufer finde, der Helfer in Flüchtlingsunterkünfte schicke. Diese Argumentation ist vor dem Hintergrund einer grenzenlos selbstreferentiellen Berliner Stadtkulisse und eines jüdischen Grundrauschens, das gleichfalls kaum noch Bezüge zum jüdischen Leben im Rest Deutschlands aufweist, durchaus verzeihlich, richtiger wird sie davon nicht. Denn die von Soloveitchik als leuchtendes Vorbild angeführten, grenzenlos pluralistischen und äußerst dezentralen Gemeindestrukturen der angelsächsischen Welt, in denen zahlreiche unabhängige Synagogen verschiedene Riten anbieten und somit im Prinzip um Beter konkurrieren, können kaum als Modell für Deutschland herangezogen werden. Hierzulande stehen Synagogen nicht für sich, sondern werden von Gemeinden verwaltet, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts in einem eng umrissenen legalen Rahmen operieren. Und selbst wenn sich das eines Tages ändern sollte, fehlt es vielerorts doch schlicht an der Masse für organisatorische oder liturgische Experimente. Wer sich in Gemeinden wie Konstanz, Frankfurt (Oder), Neustadt an der Weinstraße oder Pinneberg umhört, der wird nur wenige Klagen über den verkrusteten Ritus hören. In solchen Gemeinden ist man zumeist schon froh, wenn externe Finanzierungen die Aufrechterhaltung regelmäßiger Religions- und Hebräischstunden für die wenigen jüdischen Kinder am Ort ermöglichen und alle paar Wochen überhaupt mal ein Rabbiner vorbeikommt.
Anders in Berlin. Dort ist man auf solche Hilfe eher nicht angewiesen, denn in Berlin kann jüdische Identität sowieso an jeder Ecke diskursiv ausgehandelt werden. Zwischen veganen Falafelbuden und Modeblogs über orthodoxe Kopfbedeckungen lässt sich eben trefflich theologisch herumtheoretisieren.
Dass der Zentralrat dabei nicht inbrünstig mittut, ist im Übrigen keine Überraschung, denn er ist schon rein strukturhierarchisch nur eine politische Vertretung der (Mehrheit der) Gemeinden, mit allen bürokratischen Einschränkungen, die das so mit sich bringt. Sich dann darüber zu mokieren, dass die Staatsverträge sich auf die Nazizeit beziehen und der Zentralrat als Empfänger staatlicher Fördermittel im Jahr ein paar Millionen an die Kultus- und Kulturarbeit der Gemeinden durchreicht, beweist vor allem, dass man von der Situation der kleineren Gemeinden keine Ahnung hat. Denen ist es herzlich egal, ob die Zuwendungen politisch oder historisch begründet werden, Hauptsache, das Geld fließt. Natürlich ist es am jüdischen Stammtisch auch Konsens, dass dem Zentralrat – ebenso wie den Gemeinden – eine Frischzellenkur gut täte; dass er mittelfristig zur identitätsbildenden Eventagentur umgebaut werden sollte, ist es eher nicht. Davon abgesehen spricht es von einer gewissen Herablassung, wenn Kommentare von Zentralrat und Gemeinden zu Antisemitismus implizit und undifferenziert als unzeitgemäß kritisiert werden. Der Holocaust mag heute auch für viele Juden weit weg sein, der Antisemitismus ist es durchaus nicht. Oder erinnert sich noch jemand an „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“? Ist ja auch schon zwei Jahre her.
Nein, aus der K.d.ö.R.-Ecke allein werden die Rezepte für die Zukunft sicher nicht kommen, was auch nicht weiter verwundert, denn schon historisch waren die jüdischen Gemeinden in Deutschland selten ausgesprochene Innovationsfabriken, und auch heute wird ein bisschen Strukturkosmetik nicht ausreichen. Die „neue Diversität“, von der Soloveitchik schreibt, gibt es zwar, aber sie steckt noch in ihren Anfängen, muss organisch wachsen und ihre eigenen Wege finden, die weißgott auch außerhalb der Gemeinden liegen dürfen. Warum auch nicht? Die Entwicklung ist schon in vollem Gange. So existiert, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, in Deutschland seit 2009 ein Begabtenförderwerk für jüdische Studenten und Doktoranden. Seit 2014 unterhält die amerikanisch-jüdische Studentenorganisation Hillel International einen Ableger in zahlreichen, auch kleineren, deutschen Universitätsstädten. Unzählige Gemeinden, Organisationen und Einzelpersonen beteiligen sich jedes Jahr am karitativen Mitzvah Day, übrigens oft genug in Flüchtlingsprojekten. Und mancherorts, ob man’s glaubt oder nicht, helfen sich sogar die trägen, starren, traditionalistischen Gemeinden selbst: In München, dem Inbegriff dessen, was man als vorzeigbarer Berliner nicht zu kennen braucht, betreibt und finanziert die größere der beiden jüdischen Gemeinden seit Jahrzehnten einen sehr beliebten lokalen Studentenverband.
Kurzum, die Sache läuft, sicher nicht ohne Probleme, aber im Ganzen ordentlich, und zwar weitgehend ohne Trostlosigkeit und Holocaust. Der „neue Umgang zwischen Deutschen und Juden“, den Soloveitchik fordert, er kommt schon noch – wenn man der Sache genug Zeit gibt. Der Staub, den die massenhafte Einwanderung der Neunzigerjahre aufgewirbelt hat, hat sich noch längst nicht vollständig gelegt, doch schon jetzt zeichnen sich die Umrisse vielversprechender Ideen für die Zukunft und eine selbstbewusste deutsche und jüdische Identität ab.
Einen gewissen Trost mag es Soloveitchik indes spenden, dass sie mit ihrer Institutionskritik ironischerweise selbst in einer langen deutsch-jüdischen Traditionslinie steht. Schon früher nämlich erfreute sich in Deutschland die Kritik an der Indifferenz der Gemeinden, ihrem verknöcherten Kultus und dem bevorstehenden Verfall jüdischen Lebens größter Beliebtheit. Hier eine Kostprobe:
„Dann die religiöse Parteiung, welche durch das starre Festhalten, durch das Verweigern aller Nachgiebigkeit in der unbedingt notwendigen Umgestaltung unseres Kultus so sehr vermehrt wurde, die religiöse Gleichgültigkeit, die dadurch in so vielen genährt und großgezogen worden, weil ihnen der Gottesdienst keine Befriedigung schaffte und darum kein gottesdienstliches Bedürfnis schuf – diese sind es, welche den Bestand der Gemeinde sehr nahe bedrohen!“
Das schrieb die Allgemeine Zeitung des Judentums im Januar 1849. Wie sagte doch mal ein ausgesprochener jüdischer Traditionalist? Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
Ich bin nicht regligiös. Aber wenn ich meine religiösen Freunde und Bekannten betrachte, dann scheint mir, dass für die meisten von ihnen gemeindliche Kontinuität, wertebezogene Ordnung und emotionaler Halt die eintscheidende Funktion ihrer Religion ist. Kirchlich-rituelle Innovationen und/oder Reformen, welcher Art auch immer, stehen auf jeden Fall nicht im Mittelpunkt ihrer Religiösität. Aber ich kann mich natürlich täuschen.