Zweiter Tag, 24.8.
Sagen wir es mal so: Mein Freund B. und ich sind jetzt Männer im reiferen Alter, also nicht reif, nur reifer. Wir verplempern meinen ersten Morgen in Berlin gelassen, frühstücken, plauschen, lesen „Der Tagesspiegel“, obwohl …, also „lesen“ kann man nicht wirklich sagen. B.’s Ex von nebenan legt ihm zwar ihren „Tagespiegel“ morgens vor seine Tür, wenn er in Berlin ist, schneidet aber zuvor alles an Artikeln raus, was sie für die Arbeit benötigt. Und das scheint viel zu sein. So blättern wir also im durchlöcherten „Tagesspiegel“, freuen uns über jeden interessanten Artikel, der noch als Ganzes lesbar ist oder lesen halt die Cut-Ups, die sich ergeben.
Dann räumt B. sich Karton um Karton weiter ein in seiner Charlottenburger Wohnung, die er fast nicht mehr nutzt. Bei seiner jetzigen Freundin auf Usedom kann er all den Klimbim nicht unterbringen, den er im Usedomer Ferienhaus seiner Ex und in einer Garage abgestellt hatte. Ich dagegen dusche, lege mich aufs Bett und lese wieder etwas in Zaimoglus neuem Roman „Ruß“. Darin auch die Zeilen: „Renz‘ Schwiegervater verbrachte zwei Nächte und anderthalb Tage in einem Rasthofmotel bei Hamm im Gewerbegebiet. Er schwärmte die Bedienung am Schaschlik- und Schnitzeltresen an, eine Frau mit Papierhaube und Papierschürze, eine müde Frau, die die Kelle schwang und fast immer ernst und nüchtern sprach. Sie hatte Eckart angesehen und gefragt: Was kann ich für sie tun? Da hatte er gewusst, wenn er nicht aufpasste, würde es ihn erwischen …“
Panoramablicke & Fotogelegenheiten
Am frühen Nachmittag schaffen wir es, die Wohnung zu verlassen, laufen zur U-Bahn-Station „Kaiserdamm“ und fahren bis zum Alexanderplatz. Ich habe mir vorgenommen, bei jedem Berlinbesuch je einen touristischen Hotspot abzuarbeiten; die Nischen lerne ich mit B. sowieso kennen oder erkunde sie seit Jahren selbst. Einmal muss ich also auf den Fernsehturm, ins Restaurant und auf 207 Metern Höhe rundblicken. Doch wieder ist mir die Schlange vor dem Aufzug viel zu lang und ich werde es wohl beim virtuellen Panoramablick abends über B.s Little Apple-Computerscreen belassen müssen.
Wir ziehen in der späten Mittagshitze weiter in Richtung Museumsinsel, ich Schatten suchend, B. immer in der prallen Sonne. Er liebt das, schön braun zu sein und dazu weiße Leinenhemden zu tragen. Ich find’s o.k., weißes Linnen, aus dem Stoff wird sowieso unser letztes Hemdchen geschneidert sein. Da trägt er schon mal ein.
Apropos ‚Vergänglichkeit‘: An der Rathausstraße kurz vorm Spreeufer steht auch das Marx-Engels-Denkmal. Es zeigt in „etwa doppelter Lebensgröße auf flacher Sockelplatte die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus: Karl Marx, auf einem Quader sitzend und die Hände auf die Knie gelegt, und Friedrich Engels, daneben stehend, beide den Blick nach vorn gerichtet“. Die Plastik steht unter Denkmalschutz. Kurz danach, direkt am Ufer der Spree, hat jemand ein Stencil auf Stein gesprüht: „Dies ist keine Fotogelegenheit“. Eigentlich hätte mich das aufmerksam machen sollen, auf das, was noch kam.
Nofretete muss warten
Ich hatte mir gewünscht, dass, da der TV-Turm ausfiele, Nofretete im Neuen Museum besucht werden müsse. Wir driften also vor den Dom, betrachten ein wenig das Leben auf der grünen Wiese davor, schauen Kleinkünstlern und Selbstdarstellern zu, steuern schließlich in Richtung Neues Museum. Da wirft B. zu Recht ein, dass wir langsam was essen sollten, um nicht vor der schönen Ägypterin vor Hunger einzuknicken. Da gegenüber, da sei irgendwo doch eine Mensa. Ist dann auch eine, macht aber genau um 16 Uhr zu, es ist 16 Uhr.
Wenn man mit B. loszieht passiert immer so etwas. Entweder man torkelt mit ihm blind in Langeweile und Verdruss, oder es geschieht Wundersames. Flirts, Gespräche, übermütige Blödigkeiten, wunderbare Blicke …
Jetzt fällt ihm ein, dass das Maxim-Gorki-Theater doch eine Kantine habe, mit einem Garten und da könne man vielleicht preiswert … und so ist es dann auch. Der Theatergarten liegt in Gebäude- und Baumschatten, kühl, in der Kantine gibt’s noch ein paar Knacker oder Bockwürste mit Kartoffelsalat, dazu wahlweise alkoholisches oder alkoholfreies 0,33-Bier. Preis? 5 Euro etwa insgesamt. Super. Der Wirt ist freundlich, scherzt mit uns, wir machen auf unbeholfene Touris, er auf Berliner Pflanze. Lachen viel. Beim Rausgehen werfe ich mit dem Arsch eins unserer Biere um, jetzt hat mich die Provinzler-Rolle eingeholt. Später im Garten darauf noch ein Bier getrunken.
Völker, schaut auf diesen Garten
Der Garten ist leer bis auf ein paar Techniker und einen kleinen Vierertrupp. Ich sage zu B.: „Den kenne ich. Das ist doch Rainald Grebe!?“ Obwohl ich mir eigentlich sicher bin, googelt B. den Grebe auf dem iPhone, schaut Fotos, ja, er isses. Hab ich doch gesagt, sage ich, erkenn ich an der Stimme. Am 31. August gibt’s im Gorki eine Grebe-Premiere: „Völker schaut auf diese Stadt. Berlin wählt und Rainald Grebe kann sich nicht entscheiden.“
Zwei Tage später wird die Berliner Wochenzeitung „der Freitag“ den hochdekorierten Grebe unter dem Titel „Mario Barth für Reiche“ in die Pfanne hauen. „Der Kleinkünstler Rainald Grebe füllt die Waldbühne, tourt durchs Land, macht Theater, tritt im Fernsehen auf. Sein Kabarett steckt aber tief in den achtziger Jahren fest.“ Scheiße. Ich hatte mir vorgenommen, ihn endlich mal live anzuschauen, und jetzt erklärt mir der „Freitag“, warum ich dann auch regressiv wäre.
Wuwei
Immerhin weiß ich noch, dass ich zu diesem Berlin-Trip bloggen wollte, wenn denn etwas Berichtenswertes geschähe. Da müsste ich eigentlich auch ein Foto machen. Aber manchmal bin ich schüchtern, wirklich, obwohl (0der weil?) ich in meinem Job dauernd mit Promis zu tun habe. Ich warte also eine Gelegenheit ab, um ein Foto zu machen. Aus Grebes Viererrunde am Biergartentisch steht einer auf, Profi-Fotokamera im Anschlag, und fotografiert ein paar Minuten die Runde. Alle tun so, als ob sie’s nicht wahrnähmen. Posen ohne zu posen, der Zen-Buddhismus in der Kunst des Fotografiertwerdens, Wuwei, Geschehenlassenkönnen.
Als der Profi fertig ist, stehe ich sofort auf, frage höflich, ob ich auch ein Foto machen dürfe. Grebe schaut mich an, schaut seine Leute an, sagt kurz: „Das ist jetzt dann genau das Gegenteil von vorhin.“ Keine Ahnung, was er meint, ist auch nicht direkt an mich gerichtet, aber indirekt schon. Ich frage nach: „Ist das jetzt schlimm, soll ich nicht?“. Grebe winkt ab, „Doch, doch.“ Ich mache zwei Schnappschüsse, nach 10 Sekunden bin ich vom Tisch weg. Merke: Höflichkeit wird nicht unbedingt mit Höflichkeit beantwortet. Das Publikum möge sich abends anstellen. Kann man’s ihm verübeln? Man nicht, aber ich für einen Moment schon.
Zeitfenster
Schließlich sind wir doch noch die paar Schritte von Grebe zu Nofretete geschlendert. Der Kassencontainer vorm Neuen Museum (ganz in der Nähe der Residenz Angela Merkels) ist nur schwer als Kassenhäuschen dieses Museums zu erkennen. Schließlich finden wir’s aber raus, kaufen „Zeitfenster-Tickets“ und verschwinden in der Kühle des Altertums, der Vor- und Frühgeschichte. Ich sage: „Bevor wir hier müde werden, geht’s sofort ab zu Nefertiti. Planerfüllung.“ B. nickt. Wir fragen uns durch. Und was ist: Auch Nofretete möchte bitte nicht geknipst werden, nicht mal ohne Blitzlicht. Fotografieren verboten. Na egal. Ich gehe drei vier Minuten um ihren Kopf herum. Wie alt war sie, als ihr Abbild modelliert wurde. 18? Auf jeden Fall ein kleiner Kopf, schönes einäugiges Gesicht, aber hohlwangig. Oder liegt’s an der Beleuchtung? Fast wirkt sie magersüchtig, heute wäre sie Super-Model oder „Face of the year” des Lollywood-Kinos. Ich fotografiere dann jene kleine Nofretete-Figur, die man fotografieren darf und ein paar andere Schöne. Danach nehmen wir uns noch die Zeit, um das ganze Museum zu durchstreifen, es lohnt sich. Nicht nur wegen der kühlen Räume.
Le fin
Als wir wieder ins Freie treten, trifft uns die Abendhitze hart. Wir flanieren trotzdem noch bis zum Gendarmenmarkt, setzen uns draußen ins Café zwischen Französischem Dom und Konzerthaus. Espresso. Im Konzerthaus stehen zwei Türen offen, ein Chor probt.
Das zweite Mal in 24-Stunden liefert mir Berlin gratis den Soundtrack zum Kurztrip. Das ist kaum zu toppen. Wir fahren mit der U-Bahn heim, richten uns einen Salat an und holen die Gläser. Ich mache mir einen Kir aus dem guten mitgebrachten Weißwein und Crème de Cassis und merke nicht, dass ich von dem süffigen Mix zu ordentlich trinke. Wir sitzen bis 24 Uhr auf B.s Mini-Balkon und erzählen ins laue nächtliche Blau und können la fin de la fin nicht finden.
„Ich hatte mir gewünscht, dass, da der TV-Turm ausfiele, Nofretete im Neuen Museum besucht werden müsse.“
der Satz fällt ja stilistisch völlig raus – von wem hast du da (natürlich unbewusst!) abgeschrieben?
#1 andreas: keine ahnung, von mir selbst? ist denn jeder ton-, farb- oder stimmungswechsel auch gleich ein stilbruch? gebrochenes bewusstsein, multiple persönlichkeit kann sich doch auch in stilwechseln ausdrücken…
ich denk drüber nach.
und wegen der übersetzung aus dem portugiesischen habe ich eine idee, dazu melde ich mich wieder.
@ Gerd #2
fass es als Kompliment auf … da hat jemand gelesen … und der private Detektiv in ihm meldete sich:
„Wenn du den Schmalzl fragst, gibt es Zufall ja nicht. Ich persönlich glaube zwar eher, dass es kein Zufall ist, dass diesen Schmarren immer die größten Deppen behaupten. Aber bei gewissen Zufällen muß man natürlich schon zugeben: auffällig.“ Wolf Haas
# 3 Andreas: Ja, Wolf Haas ist schon gut.
Schön, dass du als Berliner ein Leser der Ruhrgebiet-BerlinTexte bist. Ein Günter Eich-Text (glaube ich) fängt so an: ‚Einen Leser kenne ich in … und einen in …‘
Immerhin. Da freue ich mich doch, dass du und ein paar andere auch meine Versuche zur Kenntnis nehmen.
Selbst den ganz Großen ging’s da nicht anders. Mein geliebter G.E. Lessing formulierte einmal in „Sinngedichte an den Leser“
Wer wird nicht einen Klopstock loben?
Doch wird ihn jeder lesen? – Nein.
Wir wollen weniger erhoben
Und fleißiger gelesen sein.
Heute sind wir wohl alle eher so weit, dass wir lieber schreiben, veröffentlichen, als (genau) zu lesen.
@Gerd Herholz,
„Heute sind wir wohl alle eher so weit, dass wir lieber schreiben, veröffentlichen, als (genau) zu lesen.“
Kürzlich stand ich bei mir selbst im Verdacht, nur noch das zu lesen, was ich selber geschrieben habe.
Aber bei genauerer Recherche, erwies sich diese Annahme glücklicherweise als falsch. Puuh.
#5 Helmut: Wenn du bei dir selbst unter Verdacht standest …, dann hast du dich hoffentlich nicht selbst verhaftet, dich deinem inneren Richter vorgeführt und wieder auf Bewährung rausgelassen? Oder? Sollte ich noch einmal bei mir selbst unter Verdacht stehen, sperre ich mich einfach ein und machen im Ego-Knast den Hauptschulabschluss nach, betreue – wie in schlechten Hollywood-Streifen – die Gefängnis-Bibliothek, die ich aber für Mitgefangene schließen werde. Ist schon was los in so einer multiplen Persönlichkeit. Ciao, Helmut, ich treff mich jetzt mit meinen Alter Egos.
„Heute sind wir wohl alle eher so weit, dass wir lieber schreiben, veröffentlichen, als (genau) zu lesen.“ —– Mit – zugegeben – leicht abweichendem Vorzeichen hat sich dazu auch schon Kurt Tucholsky geäußert: „Meinen kleinen Bedarf schreibe ich mir selbst.“
#7: Hey, Aki, Du hier? Das freut mich.
Was beim Tucholsky womöglich reichen mochte, führt bei mir, allein mangels Masse schon in die Vereinsamung.
Reicht bestenfalls für eine kleine Meditation über das Nichts.
Darum bin ich schon auf Gedanken Anderer angewiesen.
also @Joachim Henn, Danke für den Hinweis auf Tucholsky.