Berlin und Ankara: Das Dilemma zwischen Moral und Macht

Recep Tayyip Erdogan Foto: Glenn Fawcett Lizenz: Gemeinfrei


Das Bild war beeindruckend: SPD-Politiker um den Bundesvorsitzenden Lars Klingbeil, die am Reichstag ein Transparent gegen die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu entrollten. Das Auswärtige Amt verurteilte das Vorgehen der türkischen Justiz, Brüssel mahnte Rechtsstaatlichkeit an. Doch hinter diesen Gesten verbirgt sich eine unbequeme Wahrheit: Deutschland hat keine wirkliche Antwort auf die Türkei-Frage. Von unserem Gastautoren Friedrich Schmidt

Denn während Berlin mit moralischer Entrüstung reagiert, bleibt die Realpolitik in Ankara davon unberührt. Recep Tayyip Erdogan regiert weiter – unbeeindruckt von westlicher Kritik oder Demos in München und Köln. Und während Deutschland demonstrativ auf Distanz geht, suchen andere europäische Staaten längst das Gespräch: der britische Premier Keir Starmer, Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, Frankreichs Emmanuel Macron.

Ist Deutschlands Zurückhaltung also Prinzip – oder schlicht Ratlosigkeit?

Deutschlands Außenpolitik beruft sich auf Ideale: Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit. Doch diese Prinzipien kollidieren zunehmend mit geopolitischen Zwängen – nicht nur in der Türkei, sondern auch im Umgang mit China, mit Saudi-Arabien oder Ägypten.

Die Frage lautet: Kann man mit autoritären Regimen kooperieren, ohne sich selbst zu kompromittieren?

Im Fall der Türkei ist die Antwort besonders komplex. Denn trotz aller demokratischer Erosionen bleibt Ankara ein unverzichtbarer Partner. Militärisch ist die Türkei die zweitstärkste Macht der NATO und lieferte der Ukraine entscheidende Drohnentechnologie, als Berlin noch zögerte. Energiestrategisch kontrolliert sie Pipelines aus dem Kaukasus und Zentralasien – ein lebenswichtiger Korridor für Europa, seit Russland zur Bedrohung geworden ist.

Deutschland neigt dazu, sich in der Rolle des Mahners zu gefallen. Doch dieser Ansatz ist wirkungslos. Erdogan lässt sich nicht durch Appelle beeindrucken, und die demonstrative Kälte aus Berlin schwächt nicht ihn, sondern nur Deutschlands Einfluss. Andere Länder haben das erkannt: Frankreich verhandelt über Rüstungskooperationen, Italien sucht energiepolitische Partnerschaften, selbst Griechenland, trotz aller Spannungen, hält den Dialog aufrecht.

Dabei geht es nicht darum, Werte über Bord zu werfen. Sondern darum, klüger zu agieren. Statt öffentlicher Verurteilungen, die Erdogan nur als Propagandamaterial dienen, könnte Deutschland Reformkräfte in der Türkei gezielt unterstützen – durch wirtschaftliche Anreize, Bildungsprogramme, zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit. Statt sich aus sicherheitspolitischen Fragen herauszuhalten, sollte Berlin anerkennen, dass Stabilität in der Ägäis, im Nahen Osten, in der Energieversorgung ohne die Türkei nicht zu haben ist.

Die Wahrheit ist: Erdogan wird so schnell nicht verschwinden. Und selbst wenn – sein Nachfolger wäre nicht automatisch ein liberaler Reformer. Deutschland muss lernen, mit dieser Realität umzugehen.

Das bedeutet keine Prinzipienlosigkeit, sondern eine Außenpolitik, die strategisch denkt.

Denn am Ende zählt nicht, wer die lautesten Proteste äußert, sondern wer Einfluss behält. Und derzeit verliert Deutschland. Es ist Zeit für einen neuen Ansatz: weniger moralisierend, mehr strategisch.

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