Das Ruhrgebiet hat es geschafft: Das ehemalige Industriezentrum ist so arm wie Berlin. Doch Armut alleine ist nur die halbe Miete – “arm, aber sexy” ist das gebot der Stunde. Wir haben Berliner gefragt, wie das geht. Unser Gastautor Frank Muschalle vom Blog Frontmotor hat geantwortet.
Klaus Wowereit könnte heute Nacht Besuch von drei Geistern bekommen. Der von der vergangenen Weihnacht zeigt ihm dann Berlin 2001, in dem wir noch arm, aber sexy waren. Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht erzählt vom Allzeithoch der Grunderwerbsteuereinnahmen (Dank an die EURO Krise und Rettungspakete!) und dem Allzeittief deutscher Projektplanung in Schönefeld. Eigentlich ein Unentschieden, aber nach dem Tiefschlag der Tip Redaktion ihn zum peinlichsten Berliner 2012 auszurufen und dem letzten Platz im Armutsbericht eine gefühlte Niederlage. Das törnt ab. Sind wir jetzt alle „planlos und kraftlos, also unsexy“? Deshalb wird Klaus W. die künftige Weihnacht nicht mehr interessieren. Er kuriert lieber seinen Kater aus und rekapituliert, wie das alles anfing.
Nur Kapitalisten wussten von Anfang an, dass „arm, aber sexy“ ein genialer Marketinggag von Immobilienanalysten war. Der nächtliche Lärm vor Wowereits Tür könnte deshalb auch von Dieter Gorny stammen, der ein neues Wachstumsmärchen für die Gründung eines neuen „Centers für irgendwas“ sucht. Wowereit träumt. Vom „Fluch der kreativen Klasse“ und von chronisch unzufriedenen Kommunalpolitikern. Mit „Arm, aber sexy“ ging doch endlich mal ein Impuls von Berlin aus. Den verstand jeder und da fühlte sich jeder angesprochen. Vielleicht auch im Ruhrgebiet. Also Zeit für ein „European Center for Urban Sexappeal“ oder so? Der Projektantrag ist sicher schon aufgesetzt. Wenn nur dieser Lärm nicht wär, denkt Wowereit und fällt zurück in den Winterschlaf.
Mal sehen, was sich da für Gornys Bewerbungsfolien eignet: Kommt man z.B. von Westen mit dem ICE nach Berlin rein, sieht man zuerst den Funkturm und dann das rote Neonlicht von „Artemis“. Viele Wilmersdorfer hielten das anfangs für ein griechisches Restaurant. Als die Eurokrise anschwoll und die Berliner Mieten und Immobilienpreise, argwöhnten sie dann, es sei eine Beratungsstelle für griechische Baranleger. Doch erst seit den Räuberpistolen aus Großburgwedel wissen alle, welches Franchisemodell sich dahinter verbirgt. Trotzdem: Wenn die Wilmersdorfer Witwen und Alt-68er wieder von Sexappeal reden, meinen sie eher den Immobilienmarkt in der Morgenpost.
Berlin entdeckt den Kapitalismus. Weiß jetzt, wie es sich Millionäre in Europanik angelt und im Bundesrat trotzdem den Hut rumgehen lässt. Das kann der Pott doch auch, wenn er will. Ist nur eine Frage der Arbeitsteilung, wie z. B. vorbildlich von Jochen Poß und Clemens Tönnies vorexerziert.
Tegernseer und Geißlinger Investoren kommen nicht mit dem Zug sondern dem Auto nach Berlin. Sie kommen häufiger, seitdem Peer Steinbrück die Grenzen zu Schweiz und Luxemburg persönlich überwacht. Symbolische Szenen spielen sich da schon vor den Toren der unterbewerteten Hauptstadt Europas ab. Die in Friedrichshain-Kreuzberg als „Schlampenpanzer“ verrufenen SUVs kommen am Dreieck Werder auf den Berliner Südring und drängeln da erstmal die Armutsflüchtlinge aus dem Ruhrgebiet ab. Jetzt nur nicht durchdrehen, denn am Sonntag treffen die OPEL Fahrer die Oberklasse schon wieder – beim Casting für sanierte Mietwohnungen.
Wowi braucht sie beide. Von den Mietern und neuen Einwohnern die Wählerstimmen und von den Projektentwicklern die Grunderwerbssteuern und die Arbeitsplätze am Bau. Und wie jede Dreiecksbeziehung ist auch diese kompliziert und wächst dem Mann allmählich über den Kopf. Dazu das Getöse um den Flughafen #BER. Wowereits Stern sinkt gerade schneller als die Aktien von Apple.
Uns Normalos ist das egal. Wir erwarten nach New Economy, Bankenskandalen und Eurokrise von oben nichts mehr, wollen jetzt aber auch mal mitspielen und unseren Spaß haben. Wir wetten mit auf Immobilienwertsteigerungen. Kommt Euch irgendwie bekannt vor, habt ihr irgendwo schon mal über Spanien gelesen? Na und? Wenn es schief geht, lassen wir uns retten.
Die Analysten von der Landesbank sagen: Die Musik spielt hier und jetzt. Die Zinsen bleiben niedrig, solange die Wirtschaft in Europa nicht anspringt (Gott, bewahre!). Ob der EURO hält, das wissen wir, ist unsicher. Also alles zusammenraffen, die gemietete Wohnung kaufen (so billig wie nirgendwo in Europa!) und auf Wertsteigerung hoffen.
Aber Achtung, Baby. Nimm bei der Bank ruhig etwas mehr auf. Für die 20er-Jahre Parties bei Else Edelstahl., wo man dem Genuss huldigt und hofft, irgendwann Kursgewinne für die eigene Wohnung realisieren zu können. Charlestonkleid, Stirnband., Grammophon. Champagner statt Bionade, Zigarette am langen Stil statt Rauchverbot. Zum Teufel mit der zu Fuße latschenden Gesundheit. Wenn der große Knall doch noch kommt, greifen wir nicht nach Aspirin, sondern wissen selbstzufrieden, vorher noch mal richtig gelebt zu haben. Also ein Win-win Szenario. Das muss unbedingt auf die Folien vom Projektantrag in NRW.
Wir feiern, weil ihr kauft und die Touris, Solizahler und Investoren uns für arm halten. Ok, wir fürchten das Straßenausbaubeitragsgesetz und dass uns am Alex oder Bahnhof Friedrichstrasse eine Eisplatte auf den Kopf fällt. Aber sonst haben wir vor niemandem mehr Respekt.
Was nicht auf die Folien sollte: Von oben betrachtet fließen die Rettungseuros direkt von den mittleren Angestellten an die geretteten Gläubiger südeuropäischer Anleihen. Die bringen ihre Kohle außer Landes und zahlen in Berlin ihre Immobilien in bar. Dann treiben sie die Mieten hoch und verdrängen die, denen Schäuble morgen eh schon die Sozialleistungen kürzen will, an den Standrand.
Definitiv auch nicht auf die Folien gehört: Die Berliner sagen ja zur Kohle von Fremden, aber nein, wenn sie etwas dafür tun sollen.
Wenn in Berlin einer kommt und in einem Szenebezirk Architektur und Arbeitsplätze schaffen will, oder wilde Müllkippen wegräumen will, kriegt er mächtig Druck. Von den Hundeklobloggern wie vom grünen Bezirksbürgermeister. Dann brennen Autos, und der Indymediaserver bricht zusammen. Diese Pressuregroup ist für das Liegenschaftsmarketing trotzdem existenziell: Die Gefahr, die sie verströmt, steigert die die Lust, den Luxus auf die Spitze zu treiben. Carloft im sechsten Stock. Wenn dein X5 auf den Stellplatz rollt und nur durch eine Glaswand von deiner Kaminlounge getrennt ist, hast du den Häuserkrieg gewonnen. Wenn das Volk unten lärmt, zieh die Zugbrücke hoch, schließ die Fenster. Leg eine Charlestonplatte aufs Grammo. Übe ein bisschen, bis deine Frau von der Burlesquetanzstunde zurück ist.
Was aber auf die Projektantragsfolien gehört, und das freut vor allem die Abteilung Saugen und Fegen, die sich immer unter den breiten und langen Paschminatüchern versteckt. Die neue Berliner Lust sorgt neuerdings für ein Stadtbild mit Frauen, die man auch von der Seite wahrnehmen kann. Sprich: Figur haben. In Zahlen: Größen oberhalb von 32. In Berlin haben wir das Hungern in bulimische Kleidergrößen und das, was Italiener für 54 halten, hinter uns. Frauen, die man von weitem für Beth Ditto halten könnte, kleiden sich jetzt auch so. Der Trend geht auch wieder weg von Häkelunterwäsche hin zu Korsett und Strümpfen. Aber richtig extrem ist das hier: Man darf wieder offen zeigen, dass man hetero ist. Auch das ein Massenlustgewinn: Das wohlige Gefühl toleriert zu werden, auch wenn man zu einer Mehrheit gehört. Das gehört unbedingt in die Beschlussempfehlung.
Aber, vielleicht hast du dich bis jetzt noch gar nicht angesprochen gefühlt. Bist eher der Nerd, der Apps programmiert und dem dabei die Work-life-lust-balance etwas windschief geworden ist? Du willst nicht dein Erbe verjubeln oder in Betongold anlegen? Du suchst einen Investor für deine App, oder eine Investorin?
Dann komm zum Rosenthaler Platz ins St. Oberholz – oder wie es sich selbst nennt: Das „Shades of Grey der Gastromie“. Hier sitzen Suchende in Business Kostüms und surfen mit übereinander geschlagenen Beinen im kostenlosen WLAN. Gut, die meisten surfen nur ihre Accounts in den Onlinesinglebörsen ab und reizen dabei ihren Dispo aus. Zwischendurch deshalb manchmal eine Fastforward-Finanzierung mit den Business Angels von der Landesbank. Andere schreiben Bewerbungen für den Innovationspreis Berlin/Brandenburg. So viel ich weiß hat aber bisher jeder Gewinner dieses Preises wenige Jahre später Insolvenz angemeldet. Auch hier wieder: Die Lust am Untergang. Mit den Passagieren am Heck der Titanic ging es ja auch noch mal richtig aufwärts, bevor sie senkrecht in die Tiefe tauchten.
Komm also nicht her, weil du „Herr Lehmann“ gesehen hast oder gar kennen lernen willst, oder „Sommer vorm Balkon“ und hier in eine WG mit Katrin und Nike ziehen willst. Guck lieber die alten DEFA Filme und dann „Gegen die Wand“ und überleg ob für den Tag danach auch Frankfurt Oder in Frage käme.
Vor allem aber: Ließ den „Flug der kreativen Klasse“ nicht mehr zu Ende. Das Ruhrgebiet mag interessante Leute anziehen. Wir in Berlin können mehr, wir ziehen sie auch aus.
Gelsenkirchens Antwort auf Berliner Charleston könnte die Rückkehr zum Barock sein. Und ich würde das dem trendigen Metrotypen Baranowski durchaus zutrauen. Sollte er dann noch outen, dass er sich überhaupt nicht für Fußball interessiert, wäre er mutiger als Wowereit und würde ihn von den Titelseiten verdrängen, womöglich Kanzlerkandidat werden. Yulklapp. Klapp!
Wowereit erwacht vor Schreck! Was war das? Der Geist der zukünftigen Weihnacht hat alles mitgeschrieben und sein Macbook zugeklappt. Er verschwindet durch die geschlossene Schlafzimmertür, greift noch seinen Ebass und verschwindet mit seinem Schlitten Richtung Ruhrgebiet. Das goldene U leuchtet ihm seinen Weg. Dieter Gornys Plan für 2013 ist fertig.