Die „Berliner Zeitung“ verabschiedet sich von der Zeitung. Am Wochenende heisst sie nur noch so, ist aber keine mehr, sondern wurde in ein Magazin verwandelt. Damit verzichtet das einst auflagenstärkste Aboblatt der Hauptstadt darauf, an den beiden Tagen der Woche, an denen am längsten und meisten gelesen wird, mit dem Anspruch einer Zeitung den aktuellen öffentlichen Diskurs durch Reportagen, Analysen und Kommentare zu prägen. Die neuen Verleger kehren damit als erste in Berlin der grossen Tradition der Zeitung den Rücken, die über lange Zeit die Öffentlichkeit entscheidend bestimmte. Von unserem Gastautor Franz Sommerfeld.
Ihrer Entscheidung wohnt eine gewisse Logik inne. Denn schon lange spielen die Zeitungen nicht mehr die dominierende und bestimmende Rolle in der Meinungsbildung, die ihnen Politiker und andere immer noch zumessen, wenn sie ihr eigenes Statement und Foto dort entdecken. Die Auflagen der Berliner Abo-Zeitungen liegen unter 50.000 Exemplaren, nur der „Tagesspiegel“ hält sich deutlich darüber. Aber es ist überhaupt nicht zu vergleichen mit den Zeiten, in denen Tageszeitungen über die Hälfte der Haushalte erreichten und so tatsächlich Meinung machten. Öffentliche Meinung entsteht heute in einer vielfältigeren und unübersichtlicheren Medienlandschaft.
Das klassische Geschäftsmodell der Zeitung nähert sich also seinem Ende. Wann die ersten Zeitungen auch in Deutschland sterben, lässt sich nur deshalb nicht mathematisch berechnen, weil schwer zu kalkulieren ist, wie lange Verleger bereit sind, die Verluste ihrer Titel auszugleichen. Dass die neuen Eigentümer die „Berliner Zeitung“ nicht gleich wieder einstellen wollen, die sie gerade gekauft haben, leuchtet ein; warum sie statt dessen ein Magazin heraus geben in Zeiten, in denen nicht nur der „stern“ seinem Untergang entgegen stürzt, ist schon schwerer nachzuvollziehen. Aber es zu versuchen, ist verlegerische Freiheit.
Allerdings reagieren Stammleserinnen und -leser der „Berliner Zeitung“ auf diese neue Freiheit so ablehnend, dass sich Eigentümer und Geschäftsführer gezwungen sahen, im Oster-Magazin mit einem grossen Selfie zu beruhigen. Warum dies nicht der für das Magazin neu berufene Chefredakteur Tomasz Kurianowicz oder die Herausgeberin Margit J. Mayer tun, bleibt offen. Dass sie die Namen ihrer Kritiker nicht veröffentlichen, diese also gesichtslos bleiben, wirkt respektlos gegenüber denen, die sich offensichtlich für „ihre“ Zeitung engagieren. Vielleicht mangelt es auch nur an positiven Zuschriften, die wenigen veröffentlichten klingen recht künstlich und lassen Raum für eine übergrosse Buchhalter:in-Stellenanzeige.
In den Jahren, in denen ich in der Redaktion der „Berliner Zeitung“ arbeitete, waren unsere Leserinnen und Leser ausserordentlich politisch interessiert. Die Veranstaltungen mit Politikern im grossen Saal der Zeitung am Alexanderplatz waren oft bis auf den letzten Platz gefüllt. Sie fragten und diskutierten gerne. Ihnen bietet das neue Magazin kein Angebot. Und das in Zeiten, die politisch wie selten vibrieren. Merkels Ausstieg, Bidens Einstieg, Chinas Aufstieg, Digitalisierung und Corona markieren einen Zeitenbruch.
Die alten Leserinnen und Leser der „Berliner Zeitung“ werden ihre Erwartungen am ehesten mit der Wochenendbeilage der taz erfüllen können. Das ist keine Frage von Rechts oder Links. Die taz liefert eine gelungene Mischung aus aktueller Berichterstattung und Zeitgeist-Themen, publiziert dicht am Nerv der Zeit und spürt den Grundströmungen der Gesellschaft nach. Ihre Texte sind relevant, während viele durchaus gute Stücke des Magazins der Berliner Zeitung auch letzten Monat oder nächsten Herbst erscheinen könnten.
Früher fremdelten die Ostberliner Stammleserinnen und Leser mit der durch und durch westlichen taz; das wird noch mehr nachlassen. Zudem ist das epaper der taz schnell und einfach für 1, 90 Euro zu laden. Die taz, auf die viele Verleger lange herab schauten, erweist sich mit ihrer realistischen Kostenstruktur und ihrem hochwertigen Inhalten als eines der wenigen Medien, der eine Transformation in die digitale Zukunft gelingen könnte.
Die „Berliner Zeitung“ wird für ihr Magazin also neue Kunden gewinnen müssen. Das erschwert sie dadurch, dass sie Interessierte zwingt, ihr übergrosses und unhandliches Papierformat am Kiosk für 3, 60 Euro zu erstehen. Es gibt zwar ein E-Paper, nur lässt es sich nicht kaufen. Wer es kaufen will, muss für 29,90 Euro die „Berliner Zeitung“ mindestens einen Monat lang abonnieren, nur um das Magazin laden zu können. Die Ära der Zeitung neigt sich ihrem Ende entgegen. Das geschieht in vielfältigen Formen. Diese ist eine davon.
Der Artikel erschien zuerst auf Facebook. Franz Sommerfeld war Chefredakteur des Kölner Stadtanzeigers und Mitglied des Vorstands bei M. DuMont Schauberg.