Mischa Leinkaufs Fotoserie im Programmmagazin der Ruhrtriennale 2022
Mischa Leinkauf setzt einen Menschen hinein in die kolossalen Kulissen der Schwerindustrie, die einst Geld und Macht repräsentierten und entdeckt Fotografie um Fotografie Motive, die den Mythos Ruhrgebiet umkreisen. Sein „Avatar“ lässt sich durch Gebäude-Schluchten und Landschaften der Region treiben, wie ein Vogel scheint er sich vom Wind trägen zu lassen und zu landen, wo er gerade will. Immer sitzt des Fotografen Stellvertreter weit oben, dort, wo gewöhnlich Sterbliche nicht hingelangen, und wendet uns den Rücken zu. Wir sehen ihm beim Schauen zu und teilen seine Aussicht.
Ob auf dem Turm des Duisburger Rathauses das nahe Ruhrflüsschen herbeifantasiert oder auf den Dächern und Simsen von Hüttenwerken und Wassertürmen die Wohnsiedlung, immer verschränken sich Schauplätze der Arbeit mit Natur- und Lebensräumen der Menschen.
Ruft Leinkauf da nicht C.D. Friedrichs „Wanderer überm Nebelmeer“ auf und mit ihm die Epoche der Romantik, um einerseits ironische Distanz zu den kitschigen Klischees des „Kohlenpotts“ zu gewinnen, andererseits Wehmut über die Verluste der Moderne zuzulassen?
Der Fotograf spielt mit vorgefundenen Szenerien und erfundenen Situationen und so verschwimmen zwischen surreal vergrößerten Fassadenprofilen und Materialmustern auch die Grenzen zwischen digitaler und analoger Fotografie. Mit Hilfe von Drohnenkamera-Augen und unterstützt von erfahrenen Kletterern, sammelt Leinkauf Bilder der Region und fügte sie zu „seinen“ Ansichten zusammen. Erstaunliche Motiv-Kombinationen eröffnen Erinnerungsräume, in denen die Geschichte des Ruhrgebiets herumgeistert.
So verweist das Motiv des imposanten Landesarchivs in Duisburg der Ortner & Ortner Baukunst (vollendet 2014) auf andere preisgekrönte zeitgenössische Architektur in der Region, speziell unter den zahlreichen Industriedenkmälern, in denen auch die Ruhrtriennale alljährlich ihre außergewöhnlichen Programme in Szene setzt. Und einen Schritt tiefer in die Vergangenheit erinnert uns die Fotografie an die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscherpark aus der Ideenküche von Karl Ganser, die das Selbstbewusstsein der Region nachhaltig stärkte.
Als Betrachter folgen wir den Gedankenverästelungen des Künstlers / Hans-guck-ins-Land, und die einzelnen Lichtbilder laden sich mit Ortsgeschichte auf: Zurück in die Nachkriegszeit führen sie, als die Arbeiterschaft des Ruhrgebiets das westdeutsche Wirtschaftswunder stemmte:
Im „Rußland“ riecht es nach Kohle und Eisen, und als Gegengift soll der Architekt Hans Schwippert 1956 die Ausstellung „Werdendes Abendland“ einrichtet, die zeigt, dass auch dieses Land zwischen Feuerrot und Rußschwarz eine glänzende Vergangenheit hatte, die frühmittelalterliche Welt christlicher Kultur in bedeutenden Abteien. Die ausgestellten kostbaren Sakralkunstwerke eröffnen den Malochern und ihren Familien eine Dimension von Geschichtlichkeit, die den Arbeitsalltag übersteigt und zur Identifikation einlädt. Eine halbe Million Besucher pilgern damals zur Villa Hügel, deren in die Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes verstrickte Besitzer daran interessiert sind, sich mit Mäzenatentum reinzuwaschen.
Auch das Titelbild des Merian-Heftes „Ruhrgebiet“ bediente im Januar 1958 dieses Gegenbild zu qualmenden Schloten, indem es das romanische Atrium des Essener Münsters zeigte.
Mit einer neonbunten Kirmes-Szenerie vor der Hochofen-Silhouette des Hüttenwerks Bruckhausen in Duisburg-Beeck wartete das Cover des Merian-Heftes im August 1980 auf. Rudi Meisel lichtete es wie die meisten Lichtbilder der Ausgabe ab. Seine Bilder zeigten, dass es auch im Pott mehr gab als harte Arbeit; die eng bemessene Freizeit, in denen die Kumpel Tauben züchteten und Fußball spielten.
Ist es nicht wiederum zweiundvierzig Jahre später ein bedeutsamer Richtungswechsel, wenn Mischa Leinkaufs Blick von der Höhe des Audimax hinunter fällt ins grüne Tal, während Rudi Meisel vom alten Bauernhaus unten hinaufblickte zur neuen Betonkrone der Ruhruniversität? Romantisierend unterstrich Meisel den Gegensatz von echten, handwerklichen Strukturen, verkörpert im Fachwerk des Bauernhofs, und „ seelenlosem“ Beton. Leinkauf versöhnt den Antagonismus indem er auf Harmonie setzt. Sein „Wanderer“ lebt im Nebeneinander von Beton und Fachwerk. Auf dem Titelbild des Ruhtriennale-Katalogs hat er sich aufgeschwungen in Augenhöhe mit Dampfschwaden, die aus Riesenwassertürmen quellen.
Auf einer anderen Fotografie bringt Leinkauf die Ruhr in Zusammenhang mit den Menschen, indem er eine Brücke ins Bild rückt, während Meisel den Fluß verklärte im Licht der untergehenden Sonne.
Im Jahr 2022 stehen die Förderräder still, Hüttenwerke sind abgeräumt, und die Natur hat große Industrie-Areale zurückerobert. Auf den Brachflächen wachsen seltene Pflanzen, die Emscher ist renaturiert. Der Gestaltungswille der Menschen hat im Ruhrgebiet einen Strukturwandel vollbracht, der unvorstellbar war. Im Klimawandel könnte die Region leuchtendes Vorbild werden, und mit Mischa Leinkaufs Fotografien möge das Katalogbuch der Ruhrtriennale programmatisch im doppelten Sinne sein.