„Bist du wirklich da? Hast du das wirklich überstanden?“

Ralph Giordano Foto (Ausschnitt): MMH Lizenz: CC BY-SA 3.0


Eine Hommage auf Ralph Giordano zum 100. Geburtstag. Zusammengestellt und herausgegeben von unserem Gastautor Roland Kaufhold.

„Es dauerte geraume Zeit, bis Roman Bertini das Loch in der Mauer passiert hatte. Er entzündete eine Kerze und stellte sie an das obere Ende seines Lagers. Dann nahm er die Waffe aus der rechten Hosentasche, legte die Pistole neben die Menora, rückte das Buch Schau heimwärts, Engel von den Manuskripten, holte unter dem Umschlagdeckel sein silbergraues Notizbuch mit dem Goldschnitt hervor und schrieb da hinein: ‚Wir sind befreit.’“

Ralph Giordano war 22 Jahre alt, als er am 4. Mai 1945, dem Tode näher als dem Leben, nach mehrjährigem Überlebenskampf aus seinem Versteck, einem dunklen Loch einer Ruine in Hamburg, kroch. Dass er noch lebte, gemeinsam mit seiner Mutter Lea, vermochte er selbst kaum zu glauben. 40 Jahre später, 1985, beim Erscheinen seines Bestsellerromans Die Bertinis, war dieser am 20. März 1923 in Hamburg geborene jüdische Publizist und Filmemacher eine öffentliche Person. Er symbolisierte mit seiner Vita als einer der wenigen jüdischen Publizisten, die „dennoch“ in Deutschland geblieben waren, die existenzielle Notwendigkeit des Erinnerns.

Der am 20.3.1923 in Hamburg geborene und aufgewachsene Ralph Giordano war eine Jahrhundertgestalt – und doch scheint er, zumindest in seiner Wahlheimat Köln, weitgehend vergessen.

Wir entfalten in diesem umfangreichen Ralph Giordano – Themenschwerpunkt noch einmal die wichtigsten Themen aus Ralph Giordanos widerspruchsreicher literarischer und politischer Vita.

Den Anfang macht die zu von Roland Kaufhold anlässlich Giordanos 90.tem Geburtstages verfasste Hommage  

„Du bist davongekommen, du bist davongekommen!“
Der Filmemacher, Romancier, Essayist und Mahner Ralph Giordano

Der von Roland Kaufhold (2022) verfasste Beitrag Der emotionslose Ochsenfrosch, dem die Untat ins Gesicht geschrieben steht blickt zurück auf den Gerichtsprozess eines für NS-Prozesse zuständigen Oberstaatsanwaltes. Dieser sollte eigentlich einen Prozess gegen den Mörder von Finkelgruens Großvater Martin führen. „Stattdessen“ verklagte er Ralph Giordano (und in der Folge auch Finkelgruen) wegen dessen 1993 in der „Frankfurter Rundschau“ veröffentlichten Buchbesprechung von Finkelgruen Familienchronik Haus Deutschland (1992).

Diese Episode mutet im historischen Rückblick unglaublich an – und sie endet doch, auch wegen Ralph Giordanos Insistieren, mit einem kollektiven Amüsement.

Peter Finkelgruen: Der Ochsenfrosch – eine ungehaltene Rede (2013)

Diese dem Malloth-Prozess (1989-2001) geschuldete Gerichts-Episode wird ergänzt durch Peter Finkelgruens Beitrag über den „Ochsenfrosch – eine ungehaltene Rede“.

1986: Filmreportage über den Völkermord an den Armeniern

Der Filmemacher Ralph Giordano war der erste filmische Chronist, der den türkischen Völkermord an den Armeniern bereits im Jahr 1986 in einer eindrücklichen filmischen WDR-Reportage in Erinnerung rief. Hieraufhin ereilten ihn Hunderte von Morddrohungen – diesmal jedoch nicht durch deutsche, sondern durch türkische Geschichtsleugner. Auch danach schrieb Ralph Giordano in seinen journalistischen Reportagen immer wieder über diesen frühen Völkermord. Seine unverbrüchliche Solidarität mit dem armenischen Schicksal bildete einen Kern seiner aus der Shoah erwachsenen politischen Identität. Hieran erinnert Roland Kaufhold (2015) in seinem TRIBÜNE-Beitrag „Die armenische Frage existiert nicht mehr – Trägodie eines Volkes“. Ralph Giordanos frühe Fernsehdokumentation (1986) zum Völkermord an den Armeniern.

Komplettiert wird diese Erinnerung durch Judith Kesslers (2015) Studie „Wandernde Konzentrationslager“

sowie Ralph Giordanos (2010) TRIBÜNE-Beitrag Ein Menschheitsverbrechen. Der türkische Völkermord an den Armeniern.

Giordanos Gratulation anlässlich Peter Finkelgruens 70. Geburtstages Finkelgruen

Runde Geburtstage von Freunden waren für Giordano immer wieder Anlässe für gemeinsame Erinnerungen an geteilte Lebenspassagen.

Als sein langjähriger Kölner Freund und Exil-PEN Kollege Peter Finkelgruen 70 wurde verfasste der inzwischen knapp 89-Jährige eine persönlich gehaltene Hommage an Finkelgruen. In diesen Tagen klingelte mein Telefon. Giordano war am Apparat. Er bedauere sehr, dass er nicht zu der gemeinsamen Feier und Gedenkbaumeinweihung kommen könne, teilte Giordano mit. Aber er sei soeben gestürzt und sei nun selbst auf Unterstützung angewiesen. Deshalb habe er als Ersatz einen Beitrag verfasst, in dem er ihre Schicksalsgemeinschaft als verfolgte Juden erinnere: „Für Peter Finkelgruen. Zum 70.ten Geburtstag“ ist seine kurze Hommage betitelt.

2013: Geburtstagsband „Jubeljung – begeisterungsfähig“

Ein Jahr später, 2013, anlässlich Giordanos 90.ten Geburtstages, gab Peter Finkelgruen im Namen ihres Exil-PENs / PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Exil einen Ehrenband heraus, in dem langjährige literarische Freunde Giordanos Lebenswerk aus ihrer jeweils eigenen Vita heraus betrachteten. Der Band wird hier kurz vorgestellt.

Ralph Giordano (1998): Rascher Frieden mit den Tätern

Drei kurze, ältere Texte Giordanos, die früher bereits auf haGalil erschienen sind, runden das Bild ab: Giordanos Text
Rascher Frieden mit den Tätern“

Ralph Giordanos (2001) Beitrag „Diese Filme sind wichtig“

sowie ein Kurzbeitrag auf haGalil (2003) anlässlich des Leo-Baeck-Preises 2003 für Ralph Giordano.

Verleihung des Giesberts-Lewin-Preises an Ralph Giordano

Obwohl Ralph Giordano den größten Teil seines Lebens in Köln verbrachte blieb er hier doch eher eine randständige, eher störende Persönlichkeit. In seiner Geburtsstadt Hamburg hingegen, in der er die Shoah überlebte, wurde Giordano immer wieder geehrt. Hier fühlte er sich Zuhause, zugehörig, beheimatet. Die einzige offizielle Auszeichnung ereilte Giordano im Jahr 2006 in Köln: Die traditionsreiche, bereits von Heinrich Böll mit gegründete Kölnische Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit verlieh ihm ihren Giesberts-Lewin Preis. Wir publizieren hierzu die von ihrem Vorsitzenden Jürgen Wilhelm 2006 gehaltene Laudatio: „Sie scheuen weder radikale Formulierungen noch Paradoxien und sind zugleich ein Meister der klaren Analyse“

Giordano: Mein politisches Testament (2012)

Im hohen Alter legte Giordano mit seinen Erinnerungen eines Davongekommenen (2007), Mein Leben ist so sündhaft lang. Ein Tagebuch (2010) sowie Von der Leistung kein Zyniker geworden zu sein. Reden und Schriften über Deutschland 1999 bis 2011“ (2012) noch einmal sehr persönlich gehaltene, auf Versöhnung mit dem Leben ausgerichtete Bücher über sein Leben vor.

2012, da war er 89, veröffentlichte Giordano einen Text, den er ausdrücklich als sein „politisches Testament“ bezeichnete. Auslöser war die gerade aufgedeckte NSU-Mordserie. Giordano, der schon viel durchgemacht hatte, war zutiefst geschockt. Alle „Aufklärung“ über das nationalsozialistische Erbe schien vergeblich:

„Da mordet sich quasi spazierengehenderweise eine Nazi-Gang mit Hintermännern dreizehn Jahre lang quer durch Deutschland, ohne dass sie und ihr Netzwerk auffällig werden. Als die blutige Strecke und ihre Verzweiflungen dann endlich entdeckt werden, fällt die Bundesrepublik aus allen Wolken ihrer gehüteten Blindheit“, bemerkt Giordano

Auch diese letzte politische Intervention des streitbaren Weltbürgers publizieren wir.

2014: Ralph Giordanos Tod

Am 10.12.2014 verstarb Ralph Giordano in Köln im Alter von 91 Jahren. Die Jüdische Allgemeine ehrte ihn mit dem Nachruf Das Leben eines Davongekommenen.

Wir brauchen eine Ralph Giordano Strasse

In den Jahren danach wurde Ralph Giordano in Hamburg gleich mehrfach geehrt: Gleich zwei Straßen – eine offizielle sowie eine inoffizielle – wurden in Hamburg nach ihm benannt. In Köln hingegen gab und gibt es nur Schweigen.

Deshalb publizierten Peter Finkelgruen und Roland Kaufhold im Mai 2022 den Aufruf:

Köln bräuchte eine Ralph Giordano Straße… Oder: Warum die liberale Großstadt Hamburg eine Ralph Giordano Straße hat, Köln jedoch nicht.

Es bleibt abzuwarten, ob die Millionenstadt Köln die Reife für eine solche Ehrung zeigt. Skepsis ist angesagt.

Der Artikel erschien bereits auf Hagalil

 

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