Unser Autor Peter Hesse kennt die Band Bohren & der Club of Gore aus Mülheim an der Ruhr seit vielen Jahren. Da heute mit ›Patchouli Blue‹ das neunte Studio-Album der Doom-Jazzer erscheint, hat Peter zu jedem der 11 Albumsongs ein Ereignis aufgeschrieben, was in seinem persönlichen Erinnerungskosmos eng mit der Band verbunden ist.
1.) Meine Welt ist schön
Ostern 1997 – ich verbringe einen Urlaub mit meinem Bruder an der spanischen Mittelmeerküste in Calpe. Bei Regenwetter spielen wir viel Schach, meist verliere ich – bei einer besonders derben Partie zu meinen Ungunsten gibt es sogar eine kleine Schlägerei. Aber wie das so ist unter Brüdern: kurz darauf ist alles vergessen. In diesem Urlaub hören wir immer wieder ein Mix-Tape. Neben Jon Spencer Blues Explosion, DJ Shadow oder Funny Van Dannen bleiben meine Ohren immer wieder am „Track 3“ vom Bohren-Album ›Midnight Radio‹ (1995) hängen, der so klingt, als hätte David Lynch einen Autounfall von Chris Isaak in Zeitlupe gefilmt. Und diese unverwechselbare Spookyness hat die Band bis heute behalten.
2.) Sag mir wie lang
Herbst 2000 – als Mitarbeiter vom Musikmagazin Visions erhalte ich das neue Bohren Album ›Sunset Mission‹ in der Redaktion. Mit dieser Platte schaffen sie ein unkaputtbares Meisterwerk, was mich monatelang begleitet. Ich habe in den Nuller Jahren kaum eine Platte so oft gehört wie diese. Zum Interview treffen wir an einem verregneten Novembertag die Band im Kölner Jazzclub Stadtgarten. Wir finden uns sympatisch und freunden uns an. Organist Morten hat mir über die Jahre viele wertvolle Musiktipps gegeben. Er war der erste in meiner Filterblase, der Sunno))) auf dem Zettel hatte – und an seinen Tipps aus dem Heavy Metal-Universum habe ich mich oft erfreut.
3.) Zwei Herzen aus Gold
Januar 2001 – ich bin beruflich ein paar Tage in Berlin und das Wochenende könnte nicht besser laufen, denn bereits am Freitagabend spielen Bohren ein Konzert am alten Ostbahnhof. Ihre Shows finden meist in Dunkelheit statt – so auch in dieser kahlen Halle, die mit ihren weiträumigen Waschbetonwänden eine besonders kalte und gruselige Akustik ausstrahlt. Das Konzert ist spitze. Wir feiern nach der Show noch bis in die frühen Morgenstunden. Ein Wahnsinnsabend, an den ich mich bis heute gerne erinnere.
4.) Tief gesunken
Juni 2002 – Nahe der Lüneburger Heide findet wie jedes Jahr auf einem abgelegenen Acker das Hurricane Festival statt. Freitagnacht ist mit New Order der letzte Headliner des Abends. Unserer Gesichter sind lang, denn seit Tagen hat es geregnet. Als wir mitten in der Nacht zum Zelt kommen, steht dort das Regenwasser zentimeterhoch drin, meine Isomatte schwimmt. Nichts zu machen, wir schlafen im Auto. Nachts werde ich ich vom Rotorengeräusch eines Hubschraubers wach: der Tourbus der Band Slut ist an einem nahegelegenen Waldweg abgesackt und rechts zur Seite gekippt – so dass der Hubschrauber von oben mit einem Scheinwerfer leuchtet. Die eilig herbeigerufenen Abschleppwagen (einer von vorn, einer von hinten) haben große Mühe die Situation zu retten. Unsere Stimmung ist auch hin, auf der Rückfahrt ins Ruhrgebiet hören wir ›Black Earth‹ von Bohren & der Club of Gore – und genau so fühlen wir uns auch.
5.) Sollen es doch alle wissen
Dezember 2002 – Manowar spielen in der Westfalenhalle und Morten und Robin holen mich kurz vorher im Büro ab – und haben passend zur Einstimmung eine Plastiktüte voll Bier dabei. Ich kann an diesem Tag tresentechnisch nicht mithalten und verliere irgendwann nach Bier Nummer X die Übersicht. Sturzartig verlasse ich nach der dritten Nummer vom Manowar-Set die Halle und fahre mit einem Taxi über die B1 bis nach Hause. Am nächsten Tag erfahre ich per SMS von Morten das gleiche: „Keine Ahnung, wie wir das geschafft haben – und noch nach Hause gekommen sind….“
6.) Vergessen & Vorbei
Sommer 2004 – in meinem Elternhaus im Dortmunder Süden feiere ich meine Hochzeit und freue mich besonders, dass Morten, Christoph und Robin auch vorbei gekommen sind. Die Tage zuvor hat es aus Eimern geregnet, dass unsere Feier stattfinden konnte hing lange am seidenen Faden. Regenwetter & Bohren gehört bei mir scheinbar immer zusammen. Irgendwann legt unser Party-DJ den Roky Erickson-Klassiker ›Night Of The Vampire‹ in der Version von Entombed auf – und Morten singt an dieser Stelle den kompletten Text mit. Ein Moment für die Ewigkeit.
7.) Deine Kusine
Mai 2005 – Nach den Bohren-Meisterwerken ›Sunset Mission‹ (2000) und ›Black Earth‹ (2002) erscheint im Mai 2005 das umwerfende Album ›Geisterfaust‹. Im Interview erklärt mir Saxophonist Christoph Clöser mit einfachen Worten das Geheimnis von Bohren: „Unsere Musik ist nicht Minimalismus im Sinne eines Steve Reich oder Philipp Glass. Wir brauchen wenige Töne, sind langsam und reduziert, aber in unserer Musik gibt es Melodien, Strophen, Refrains und nicht nur rhythmische oder tonale Muster, die wiederholt werden und unmerklich ihre Textur verändern.“ Organist Morten Gass setzt dazu noch einen pointierten Schlusspunkt: „Eigentlich touren wir immer noch ganz gerne und ich möchte mich mal an dieser Stelle bei allen Konzert-Veranstaltern bedanken, die uns immer so nett behandeln – auch wenn wir manchmal etwas seltsam sind.“
8.) Patchouli Blue
Frühjahr 2010 – Für ein Video-Interview mit dem Ruhr 2010-Ableger labkultur treffe ich die Band in ihrer Heimatstadt Mülheim an der Ruhr. An diesem Tag ist die Band nicht sonderlich gesprächig, das Wetter ist zudem viel zu schön. Später landen wir noch in einem Eiscafé an der Ruhr und Christoph schwärmt in vielen Sätzen über Helge Schneider, den wir für unsere Folge der Musik im Ruhrgebiet-Reihe „Aufgenommen & Abgemischt“ auch noch getroffen haben. Später im Jahr erzählt mir ein Dortmunder Electro-DJ von dem tragischen Vorfall bei der Love Parade in Duisburg: Als die Veranstaltung abgebrochen werden soll (durch katastophales Management gab es 21 Todesopfer – sowie über 500 Verletzte, darunter etwa 40 Schwerverletzte) finden die noch anwesenden DJs am Plattenteller die Stimmung ohne Musik noch trister als mit. Sie überlegen was man in so einem düsteren Moment auflegen kann. In einem Plattenkoffer findet sich das Bohren-Album ›Sunset Mission‹, was dann in ganzer Länge abgespielt wird.
9.) Glaub mir kein Wort
März 2014 – Mit ›Piano Nights‹ erscheint mal wieder ein umwerfendes Album von Bohren und für meine Besprechung im Magazin coolibri schreibe ich wie folgt: ››Jedes Album der Mülheimer hatte in Vergangenheit immer eine Art unsichtbaren Schutzpatron. War es bei „Black Earth“ Celtic Frost und bei „Dolores“ Sigur Ros, so ist das Quartett mit „Piano Nights“ in der spirituellen Nähe von Tangerine Dream angekommen. Mit diesem Werk ist ein pathologisches Phantasialand in Superzeitlupe gelungen – versehen mit viel Tiefe und leisem Humor. Der Song „Segeln ohne Wind“ sollte die offizielle Nationalhymne für das Ruhrgebiet werden: es gibt hier keine rosigen Zukunftsperspektiven, aber die scheinheiligen Inszenierungstricks sind Weltklasse.‹‹
10.) Verwirrung am Strand
März 2019 – In der vollbesetzten Bochumer Christuskirche spielen Bohren an Rosenmontag ein tolles Konzert. Später rede ich mit der Band noch darüber, wie die Band im Winter 2000 vor etwa 30 Eingeweihten im Café der Discothek Planet spielte – und was sich bis heute verändert hat. Nicht geändert hat sich die lange Auf- und Abbau-Arie der Band. Ich betätige mich lange nach Konzertschluss als Aushilfsroadie und quetsche mir an einem Beckenständer noch einen Finger. Ein paar Tage später schreibt mich Bassmann Robin Rodenberg an: „Ist wieder alles okay mit deiner Hand?“ Echt nett! Auch, dass am gleichen Abend sogar noch zwei Musiker der holländischen Instrumentalband GORE zu Gast waren – immerhin ein wichtiger Einfluss für die Bohren Musiker, denn nicht umsonst steht der Name GORE am Ende ihres Namens. Beide Bands beschließen, dass sie mal zusammen auftreten müssen und am 6. März ist es im Club Poppodium Grenswerk in Venlo endlich soweit.
11.) Total falsch
Dezember 2019 – Bohren laden mich zu Ihrer Weihnachtsfeier ein und ich bin schon am späten Nachmittag bei Morten daheim. Er zeigt mir stolz seine neue halb-akustische Gretsch-Gitarre und wir reden viel und lange. Christoph kommt an diesem Abend extra mit der Vespa aus Köln angereist – und ist dafür über die Dörfer und Landstrassen von Wuppertal und Velbert gefahren. Irgendwann sprechen wir über Marius Müller-Westernhagen und dessen Neuauflage von „Das Pfefferminz Experiment“, wo der Sänger mit amerikanischen Musikern sein Erfolgsalbum aus dem Jahr 1977 noch mal neu eingespielt hat. „Wenn er, wie damals Paul Simon, wenigstens mit seinen Musikern nach Afrika gegangen wäre, wäre das ja noch halbwegs originell gewesen. Aber so wie Westernhagen das macht ist das einfach nur absurd schlecht“, sagt Morten. An diesem Tag erhalte ich eine Promo-Kopie von „Patchouli Blue“ und habe das Album bis zu diesem Tag sicher 40mal gehört. Es ist gut zu wissen, dass Bohren nach etwa 25 Jahren Bandgeschichte ihren Stil immer noch ein bisschen verfeinern können – und immer wieder zu großer Form auflaufen.