Bomben auf Gaza, Bomben auf Bochum

Turm der Christuskirche, ein paar Schlote: Bochum 1945 (c) Stadtarchiv Bochum

Hunderte Leichen, auf Rasenflächen aufgereiht, unkenntlich verstümmelt. Sperrholzsärge roh gezimmert, „Soldaten ließen die Särge herunter. Vorher hatte man SA-Leute dafür eingesetzt“, so ein Zeitzeuge, „aber seit sich einmal laute Wut Luft verschafft hatte, wagte man das nicht mehr.“ Vor 79 Jahren, am Abend des 4. November 1944, waren zehntausende Bomben auf Bochums Innenstadt gesegelt. Und? Hat jemand die „Konfliktparteien“ zur „Verständigung“ aufgerufen?  

Über 700 britische Bomber, mehr als 10 000 Sprengbomben, mehr als 130 000 Brandbomben. Und 1300 tote Bochumer an diesem einen Abend, 107 Bomben pro Kopf. „Am frühen Morgen des 5. Novembers“, so erinnerte sich Erich Brühmann, Pfarrer in Altenbochum, „kam Frau W. mit zwei Kindern zu uns. Ihr Haus war am Vorabend in Flammen aufgegangen. Während des Vormittags wurde die Sorge um den Vater immer bedrückender. Er hatte Nachtdienst auf dem Bochumer Verein gehabt, wo viele Bomben niedergegangen waren. Darum ging sie zum Hauptfriedhof und suchte unter den Leichen, die dort auf den großen Rasenflächen zusammengetragen waren, nach ihrem Mann. Erst am dritten Tag fand sie ihn, sie erkannte den verstümmelten Körper an einem Manschettenknopf.“

Brutale Szene. Der Bochumer Verein war einer der großen Rüstungsbetriebe im Nazi-Reich, um das Stahlwerk zu bedienen, hatte er immer wieder Arbeitskräfte aus dem KZ Buchenwald angefordert: Im November 1944, als der Luftangriff lief, war das „Außenlager Bochumer Verein“ mit 1704 Häftlingen aus Buchenwald, Auschwitz und Neuengamme belegt, auch auf sie, die meisten von ihnen Juden, gingen die britischen Bomben nieder. Während ihnen Luftschutzbunker versperrt blieben: Bochum hielt  –  wie heute die Hamas  –  streng auf Ordnung auch bei Bombenalarm.

Vier Monate später wurde das Außenlager  –  heute liegt hier die Gedenkstätte „Saure Wiese“, 2012 nach einem Konzept des Bochumer Künstlers Marcus Kiel errichtet   –  aufgelöst. Auflösung hieß: Die 1326 noch Lebenden wurden ins KZ Buchenwald zurück verschleppt, nur wenige haben ihre Befreiung vier Wochen später erlebt. Dass einer von ihnen „humanitäre Pausen“ gefordert hätte oder „geschützte Korridore“, um Hilfslieferungen für notleidende Bochumer zu ermöglichen, ist nicht bekannt.

Wohl bekannt dagegen, wie die Bomben erlebt wurden, die vom 13. – 15. Februar 1945 auf Dresden fielen: „Hätte der Angriff auf Dresden nicht stattgefunden, wären sechzig Stunden später, am Morgen des 16. Februar 1945, die letzten noch im Regierungsbezirk Dresden lebenden 213 Juden, darunter neben meiner Schwester und mir weitere neun Kinder unter 15 Jahren, deportiert worden“, so berichtete es Heinz-Joachim Aris (1934-2017), in Dresden geboren und von 1992 bis 2012 Geschäftsführer der dortigen Jüdischen Gemeinde: „Die Aufforderungen dazu war allen betreffenden Personen am 12. bzw. 13. Februar 1945 zugestellt worden.“

Anders in Hamburg: „Am Morgen nach der Nacht, die Dresdens Untergang brachte, ging aus Hamburg der letzte Transport von Juden nach Theresienstadt ab“, erinnerte der Schriftsteller und Publizist Ralph Giordano (1923 – 2014): „Das Ende des ‚Dritten Reiches‘ stand auf der Welttagesordnung, alles ging drunter und drüber  –  nur Eichmanns Deportationsmaschine funktionierte noch.“

Etwa 10 000 Juden waren in Nazi-Deutschland selber untergetaucht, von ihnen ist bestenfalls jeder zweite, eher wohl jeder dritte seiner Ermordung entkommen. Ihr größtes Risiko war die Denunziation: „Ich fürchte die Menschen mehr als die Bomben“, heißt es im Tagebuch von Erna Becker-Kohen, sie war zuerst in Berlin untergetaucht, musste dann jahrelang irrlichtern, dann wieder Berlin …

Wo auch Michael Degen (1928-2022) zusammen mit seiner Mutter untergetaucht war: „Dann krachte es wieder“, schrieb Degen in Kindheit in Berlin: „Der ganze Ku´damm schien zu wackeln. Ein paar Blockwarte rannten wie aufgescheuchtes Geflügel herum. Wir standen ganz allein und schauten. Es krachte, knisterte, ballerte, und wir sahen zu, ohne Angst, mit einer ganz tiefen Befriedigung.“

Degen, einer der großen deutschen Theaterschauspieler, er hat unter anderem mit Brecht, Bergman, Tabori und Zadek gearbeitet, erinnerte eine weitere Szene, die deutlich macht, was es bedeutet, befreit zu werden: Mit seiner Mutter ist er auf der Flucht aus Berlin-Mitte Richtung Mahlsdorf, als die Sirenen schrillen, ein tiefes Brummen, schon fallen die Bomben. Sie werfen sich auf die Straße und seine Mutter sich über ihn, sie schützt ihn mit ihrem Körper:

„Dabei betete und fluchte sie gleichzeitig. Sie betete auf hebräisch und fluchte auf deutsch.“

Anders war Befreiung nicht zu haben. Es dauerte eine Ewigkeit, bis auch die restliche Bevölkerung dies begriffen hatte. „Der Durchschnittsdeutsche“, schrieb Hannah Arendt, als sie das Land, aus dem sie 1933 emigrieren musste, 1950 erstmals wieder bereiste, „sucht die Ursachen des letzten Krieges nicht in den Taten des Naziregimes, sondern in den Ereignissen, die zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies geführt haben.“

Eine Bemerkung, die heute wie auf Judith Butler gemünzt scheint: Butler hat sich, ganz Stimmgabel eines postkolonialen Milieus, eine Woche nach der Hamas-Barbarei ein paar Gedanken gemacht über „Terror der Hamas und die Geschichte der Gewalt“ und hat die „Schrecken der letzten Tage“ in die eine Waagschale geworfen und die „Schrecken der letzten siebzig Jahre“ in die andere, und simsalabim neigt sich die Waage den notleidenden Palästinensern zu, das sind alle, die Butler von Hamas repräsentiert sehen möchte. Es ist ein dümmlicher Trick, den die Vordenkerin vorführt: Sie ruft das Gewicht der „Geschichte“ auf und schlägt es allein Hamas zu, reduziert es dann beiläufig auf 70 Jahre und landet bei „Ereignissen“, die zur Vertreibung aus einem Paradies geführt haben sollen, das sie als „palästinensisch“ phantasiert  … Butlers Gedankengang ist so simpel gestrickt, dass er an jene Durchschnittsdeutschen erinnert, die Arendt in den 50ern an jeder Ecke antraf. Hier Bochum, dort Gaza.

Was an diesem Vergleich konsterniert: wie lange es gebraucht hat in Bochum und in Deutschland insgesamt, bis halbwegs zu Bewusstsein kam, dass das Nazi-Paradies keines war, sondern Glück und viel Segen, aus ihm vertrieben worden zu sein. 40 Jahre hat es gedauert, bis Richard v. Weizsäcker das Wort „Befreiung“ in den Mund genommen hat, 40 Jahre. Die Exodus-Erfahrung. In ihr liegt heute die „besondere deutsche Verantwortung“, die es gegenüber den Palästinensern gibt: „Angst vor einer zweiten großen Vertreibung“? Betet sie herbei. Betet islamisch und verflucht die Hamas.

 

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Wolfram Obermanns
Wolfram Obermanns
1 Jahr zuvor

Ein Blick in die Haager Landkriegsordnung und in den Clausewitz, das sind weniger subjektive Ansätze, hilft regelorientiert die Lage einzuschätzen.
Laut Landkriegsordnung sind Angriffe auf zivile Einrichtungen erlaubt, wenn diese kriegsrelevant sind, Bsp. Rüstungsindustrie.
Strikt verboten sind Angriffe auf z.B, Krankenhäuser. Hierbei und in ähnlichen Fällen sind aber durchaus Ausnahmen formuliert. Wird eine Schutzzone als Deckung für militärische Zwecke genutzt, fällt diese Zone nicht mehr unter den Schutz der Ordnung. Das Kriegsverbrechen besteht nunmehr darin, in der Schutzzone Deckung gesucht zu haben.
Bis hierhin ist praktisch alles zur Taktik der Hamas gesagt.

Es ist überflüssig mit ethisch fragwürdigen Erklärungsmustern den gezielten Terror von Butcher Harris gegen die deutsche Zivilbevölkerung zu rechtfertigen. Bislang ist nach Nachrichtenlage außerdem davon auszugehen, das die israelischen Streitkräfte sich eben nicht vergleichbarer Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben oder auch nur beabsichtigt in solcher Weise vorzugehen.
Etwas vollmundig wurde auch in diesem Blog verkündet, dergleichen würde das israelische Militär auch niemals tun. Laut Clausewitz ist hingegen davon auszugehen, daß im Nebel des Gefechts sehr wohl auch eingentlich geschützte Einrichtungen getroffen werden. Außerdem wird der Minister, der über einen Nuklearschlag fantasierte, auch Wähler beim Militär haben. Es steht zu erwarten, daß einzelne gezielte Kriegsverbrechen begangen werden.
Der Unterschied von Hamas und Harris zum heutigen Krieg in Gaza ist hierbei die i.A. fehlende Absicht.
Der Unterschied von Beeri und Butscha zu Mỹ Lai besteht darin, wer anschließend vor das Kriegsgericht muß und wer einen Orden bekommt.
Von der Argumentation in diesem Artikel halte ich darum nicht sehr viel, sie stützt einerseits eine weitere ideelle Annäherung von Rechtsextremen an die Hamas, andererseits ist so kaum trennscharf von einer Argumentation, „aber nun sterben unschuldige Kinder in Gaza“, zu unterscheiden. Betroffenheiten helfen selten bei der Urteilsfindung.

Den Demonstranten, die die Strategie der Hamas auf deutschen Straßen verteidigen, kann mit einigem Recht eine Mitschuld an den toten Zivilisten in Gaza zugeschrieben werden. Einer der vielen Feinde der Palästinenser ist der Islamist. Auch deutschlands Linke hat aus Dusseligkeit, oder weil sie in Wirklichkeit doch eher neubraun ist, beide, Israelis und Palästinenser verraten.

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