Vor gut zwei Jahren endete das Jahr der Kulturhauptstadt. Das Still-Leben auf der A40, die 311 SchachtZeichen an ehemaligen Zechenstandorten oder der Day of Song werden vielen Menschen im Gedächtnis bleiben. Andere – weit weniger publikumswirksame – Aktionen haben es geschafft, nachhaltig etwas zu bewegen. So wie die „Ausstellung“ 2-3 Straßen und der daraus gegründete Verein Borsig11. Von unserem Gastautor Mirko Kussin.
Das Projekt 2-3 Straßen von Jochen Gerz war die zeitlich längste Aktion der Kulturhauptstadt. Zwischen dem 1. Januar und dem 31.Dezember 2010 lebten 78 Teilnehmer aus allen Teilen der Welt in Sozialwohnungen in „schwierigen“ Quartieren der Städte Dortmund, Duisburg und Mülheim. Sie lebten dort, sie kamen in Kontakt mit dem multikulturellen Leben, sie agierten mit ihren Nachbarn. Sie brachten Kunst in den Alltag. Oder machten den Alltag zur Kunst. Ziel sollte es sein, das Leben der Menschen am Borsigplatz, in Duisburg Hochfeld und in einem Hochhaus am Hans-Böckler-Platz in Mülheim zu verändern. Die Teilnehmer sollten eine Art Tagebuch führen. Heraus kam ein Textmoloch von 3.000 Seiten, ohne Absätze, ohne Überschriften. Ein Text der Vielen, deren Stimmen ineinanderfließen.
Kunst
Die Aktion von Jochen Gerz war von Diskussionen begleitet. Sowohl aufseiten der Teilnehmer, als auch aus der Öffentlichkeit kam es zu kritischen Stimmen. „2-3 Straßen“ sei zu unklar in der Ausrichtung, Gerz könne seine Ideen nicht vermitteln, einige Teilnehmer empfanden sich lediglich als Werkzeug des Künstlers. Und wollten doch selbst Kunst machen oder sein. Ein Spannungsfeld entstand: Kreativität als individuelle Ausdrucksform auf der einen Seite, Kreativität als Produktion von allen, für alle, auf der anderen.
Kommunikation
Volker Pohlüke war ebenfalls Teilnehmer von 2-3 Straßen, zog aus dem beschaulichen Gütersloh an den lauten Borsigplatz. Und blieb. „Schon nach den ersten Monaten war uns klar, dass es weiterlaufen muss“, sagt der48-Jährige, dessen Biografie anders ist als die meisten in der Nordstadt: Er ist Berater im Bereich Nanotechnologie, war neun Jahre lang Geschäftsführer eines Technologieunternehmens. Mit „uns“ meint er unter anderem Guido Meincke. Gemeinsam mit dem 39-Jährigen bildet er den Vorstand von Borsig11 – der Machbarschaft, dem Verein, der die Impulse von 2-3 Straßen in der Nordstadt weitertragen und ausbauen soll.
„Wir wollen das Leben im Quartier verändern“, sagt Pohlüke. „Und den Bewohnern die Ressourcen, die sie haben, sichtbar machen.“ Das geschieht nicht durch große Gesten, sondern durch kleine Projekte, die immer einen konkreten Mehrwert für alle Beteiligten haben. Eine Weltbücherei, bereits zur Kulturhauptstadt gegründet, befindet sich in den Räumen des Vereins am Borsigplatz 9. Anwohner können kostenlos Bücher mitnehmen, sie behalten, sie zurückgeben, sie gegen ein anderes Buch austauschen. Dass die Werke in dieser Bibliothek international sind, versteht sich in der Nordstadt von selbst. Viele Ideen kommen aus dem Quartier. André Körnig ist ebenfalls Mitglied der Machbarschaft, war ebenfalls von Anfang an dabei. „Die steigenden Strompreise sind hier ein gewaltiges Problem. Zahlreiche Wohnungen werden noch mit alten Nachtspeicheröfen beheizt. Aber wenn man diese richtig einsetzt und bedient, kann man auch sparen. Warum also nicht mal einen Workshop anbieten?“ Von Mietern für Mieter. Darum geht es immer wieder bei der Machbarschaft.
Miteinander
Ist das nun Kunst? Ist das Stadtentwicklung? Sozialarbeit? „Borsig11 ist ein Labor“, sagen die Macher. „Wir können hier sehr viel ausprobieren. Manches gelingt auf Anhieb, andere Ideen brauchen mehr Zeit, bis sie bei den Menschen ankommen und das Leben im Quartier verändern können“, erläutert Pohlüke. Und Meincke ergänzt: „Das Streetsoccer-Turnier für die Jugendlichen ist ein riesiger Erfolg. Die Kids haben Spaß, können sich auspowern und tun gleichzeitig etwas gemeinsam, lernen, sich selbst zu organisieren.“ Andere Aktionen, wie etwa der Nachbarschaftsgarten in einem Hinterhof, haben es schwerer. Hausbewohner können ihr eigenes, kleines Beet von 2×2 m anlegen. Pflanzen, jäten, ernten. „Dort stockt es noch. Das liegt aber weniger an den Bewohnern als an den Begleitumständen. Der versiegelte Boden muss aufgerissen und für diese Aktion nutzbar gemacht werden. Und jetzt ist Herbst. Im nächsten Frühling nehmen wir einen neuen Anlauf.“ 36 Mitglieder hat Borsig11 inzwischen. Tendenz steigend. Das Vereinsbüro ist gleichzeitig ein sogenannter Coworking-Space. Der große Besprechungsraum kann von allen Mitgliedern genutzt werden. Jung-unternehmer können hier Geschäftstreffen abhalten, Freiberufler Büroarbeiten erledigen. Die nötige Infrastruktur mit WLAN-Netzwerk, Druckern und Kopierern ist vorhanden. Auch Yogakurse und Filmabende wurden dort bereits veranstaltet.
Obwohl viele Ideen der Borsig11-Macher auf sehr kleinteilige Art und Weise umgesetzt werden, gibt es auch die großen Visionen und Pläne. „Langfris-tig würden wir gerne eine Art Stadtteilwährung rund um den Borsigplatz etablieren. Sodass ein Anreiz entsteht, das Geld, das vorhanden ist, hier im Quartier zirkulieren zu lassen. Denn nur so kommt es auch den Menschen wieder zugute“, sagt Pohlüke. Aber auf dem Weg zu dieser Währung gibt es noch viel zu tun „Die Nahversorgung wird immer schlechter. EDEKA, Schlecker und Deutsche Bank haben sich nach und nach vom Borsigplatz verabschiedet. Zurück bleiben Leerstände.“ Aber auch zu diesem Thema sind in dem Labor Borsig11 bereits Ideen entwickelt worden: Ein Nachbarschaftsladen, von Bewohnern für Bewohner, könnte mittelfristig diese Versorgungslücke schließen.
Die Kulturhauptstadt Ruhr.2010 wirkt auch zwei Jahre später noch nach. Macht aus Kunst Kommunikation, aus Kommunikation ein Miteinander, und dadurch letztendlich einen lebenswerteren Alltag. Mehr kann man von Kunst nicht erwarten. (mik/ra)
Der Artikel erschien bereits im MieterForum, der Mitgliederzeitschrift des Mietervereins Dortmund.