Cajón, Cabaça & Conga – warum bis Ipanema fliegen, wenn ich mitten im kölschen Sommerloch zum „Samba de Verao“ die Schultern shaken kann? Ü80-Sunny Boy des Bossa Nova, Marcos Valle, beweist im CBE: die Leichtigkeit des jazzigen Seins hält jung und er swingt die Hütte, als ob nimma wieder Schneeflocken in Ehrenfeld fallen.
Sonntagabend im gentrif***ten Ihrefeld zwischen Kebapland-Röstaroma und Upcycling-Designbuden kommt der ewige Surfer Dude auf die Bühne, setzt sich ans Electric Piano und strahlt wie frisch von der heiligen Jungfrau angespült. Eiswürfel strudeln in Caipi-Gläsern und die Senhoras in Birkenstock schmelzen bei Marcos Valles Augenaufschlag schon jetzt dahin. Alle warten auf Hits wie „Os Grilos (Crickets Sing For Ana Maria)” – hallo, na klar, bestimmt nur für mich persönlich 1967 komponiert – und natürlich „Estrelar“, dem absoluten Bahia-Boogie-Megaerfolg der 80er. Wie in einer cheezigen Regenbogenpostkarte groovt der Goldschopf von der Copacabana mit uns in den Sonnenuntergang und animiert zu Rum und Rumba oder Rumba und Rum.
Als sich Bossa Nova Ende der 50er Jahre in Brasilien entwickelte, ging die warm weiche Viertelnotenfusion aus Samba und Jazz in die gute Laune-DNA am Fuße des Corcovado ein. Marcos Valle verfeinerte seitdem das musikalische Erbe von João Gilberto. Kaum jemand hätte geahnt, dass der blonde Prototyp eines Carioca mittlerweile sein sechzigjähriges Bühnenjubiläum feiert. Und das tut er – dem Tamburin sei Dank – mitten in ming Kölle am Rhein (und eben nicht in Berlin, bäh). Denn wenn das Rheinland irgendwas mit Rio gemeinsam hat, dann den Klang von Trommeln, reichlich Buntem und lecker Mädsche.
Marcos Valles Lebenswerk, eine universale Sprache über Jazz zu finden, genießt höchstes Ansehen in der Musikszene. Seine Bossa Nova-Akkorde erzeugen sinnliche Farbklänge: Ich schmecke veredelt mit Limettentropfen den süß-säuerlichen Geschmack der Pitanga. Ich rieche die Prise Zimt auf flockigen Tapiokas. Ich höre rosa Süßwasserdelfine pfeifen. Ich spüre die Feuchte exotischer Tropen im Atem. Ich sehe von Sonne geküsste Haut in Speedos den Zuckerhut entlang cruisen.
Der Tropicalismo im Bossa Nova mag unpolitisch erscheinen und der alle Sorgen weglächelnde Lockenschopf unbekümmert – und das heißt Bossa Nova übersetzt – die „Neue Welle“ reiten. Historisch betrachtet sind Valles biografische Stationen hingegen Marker gesellschaftlicher Umbrüche, vom Militärputsch 1964 in Brasilien bis zum Vietnamkrieg in den USA, wo er immer wieder fernab staatlicher Zensur nach Freiheit suchte. Fahrstuhl-Feeling ist dieser Tage viel wert im abendlichen Entertainment, frei von aktionistischen Stuss-Parolen.
In der Jazzcommunity wurde sein Summer Samba von Dizzy Gillespie, Duke Ellington oder Diana Krall gecovert. Weltstar mag in Bezug auf Valle für manche, die lieber in der Kölner Philharmonie flanieren, übertrieben klingen. Wenn man sich nur auf die Repertoireanteile in der Segmentverteilung am Umsatz des Deutschen Musikmarkts 2023 stützt, taucht eventuell Bossa Nova unter Sonstige in der Marktübersicht 2023 vom Bundesverband der Musikindustrie auf, in dem sich eine unbestimmte Anzahl an Musikrichtungen mit 5,2% versammelt. Jazz hat den zweitgeringsten Anteil am Kuchen mit 1,5%. Aber gerade Impulse im Crossover in den Hip Hop hinein sind es, die durch Bossa Nova nicht zu unterschätzen sind. Hip Hop wiederum war 2023 neben Pop mit 19,9% am umsatzstärksten. Rapper der ersten Riege zollen Marcos Valles Kompositionen bis heute Tribut. Valles konstant fließender Grundpuls mit synkopischer Rhythmik zwischen Swing und Off beat erzeugt das umarmende Easy listening feeling, zu der seine melancholische Kopfstimme ansetzt. Der Musikproduzent und DJ Kaytranada griff schon vor gut zehn Jahren Samples aus Marcos Valles Arrangements auf, um Common in „Da Corner“ drüber rappen zu lassen.
Und als ich dachte, ich sei schon ein ziemlich penetranter Music Head mit „Hast Du Töne?!“-Beats Library in meinem Besserwisserschädel, da entdecke ich dank Shazam die Kollaboration von Marcos Valle mit Leon Ware. Valle hatte wiederholt mit dem US-amerikanischen Soul- und R&B-Songwriter zusammengearbeitet, der 2017 verstarb und den man von seinen Songs für Marvin Gaye oder Michael Jackson aus Motown-Zeiten kennt. Gefühlvoller Soul des Komponistenduos in „Rockin’ You Eternally“ von 1981 sättigt mein vestibuläres Grundbedürfnis. Damals war ich gerade 3 Jahre alt. Heute bin ich froh, dass ich alle Oldies but Goldies von Sergio Mendes über Herbie Hancock und jetzt ja, bis Marcos Valle gesehen habe. Ich frage die von erfüllender Dankbarkeit strahlende Erscheinung, warum das CBE heute so voll von Menschen war, obwohl sie noch gar nicht geboren waren, als seine Songs veröffentlicht wurden. Marcos Valle zuckt mit den Achseln und mutmaßt: „Vielleicht ist es das Spirituelle in meiner Musik.“ An diesem Abend im Club Bahnhof Ehrenfeld steht für mich fest: Mit ein bisschen Brazilectro im Ohr fühlen sich meine Forties plötzlich wie zuckerrohrsüße Thirties an; und im Fall von Marcos Valle gilt: Eighties are the golden Twenties.
Wer nun Lust auf zeitlosen Retro-Latin flavor der engelsgleichen Lockenpracht bekommen hat, muss heute schnell in den Norden nach Hamburg zu Marcos Valles weiteren Konzert in Deutschland eilen. Oder man nimmt die Sprache des Weltjazz zum Anlass, einen Ausflug in das berühmte Jazz Café in London – ooooops schon ausverkauft – nach Tallinn oder Cella Monte, in die USA oder nach Kanada zu machen. Simply Braziliance!