Siebzig Jahre ist unser Grundgesetz kürzlich geworden. Es ist ein gutes, ein sehr gutes Grundgesetz. Aber es ist Zeit für eine grundsätzliche Reform.
Die Bundesrepublik hat eine der besten Verfassungen der Welt, ganz bestimmt die beste der deutschen Geschichte. Trotzdem fühlen immer mehr Menschen, dass unser politisches System an Leistungsfähigkeit eingebüßt hat, dass politische Entscheidungen unbefriedigend sind, sich nur an kurzfristigen Vorteilen der einen oder anderen kleinteiligen Interessengruppe orientieren, dass das Große und Ganze aus dem Blick verschwunden ist. Kurzum, dass irgendwo, irgendwie der Wurm drinsteckt.
Gefangen im Alltagsstreit
Vor allem strategisch notwendige Weichenstellungen für das langfristige Gedeihen unseres Gemeinwesens kommen für viele zu kurz und führen zu frustrierendem Abwenden vom politischen System. Unsere Demokratie scheint in immer kürzere und heftigere alltags- und parteipolitische Streitigkeiten gefangen zu sein.
Gemeinwohl vs. Partikularinteressen
Der Gedanke des Gemeinwohls wird zwischen offensiv vorgetragenen Partikularinteressen einerseits und frustriertem Desinteresse andererseits zerrieben. Zukunftsweisende Entscheidungen jenseits der Tagespolitik scheinen kaum noch möglich zu sein, obwohl sie angesichts der tektonischen Veränderungen unserer Zeit dringender notwendig sind denn je. So erodiert immer mehr die Grundlage unserer res publica, unserer öffentlichen, gemeinsamen Sache. Die zunehmende Zahl der Nichtwähler ist dessen klarer Ausdruck.
Langfristigkeit von Tagespolitik entkoppeln
Was tun? Hier ein Debattenvorschlag grundsätzlicher Natur:
Wir müssen langfristig bedeutsamen Fragen mehr Raum und Geltung in unserem politischen Entscheidungssystem verschaffen. Dies geht nur über eine Entkoppelung von kurzfristigen Gruppeninteressen und langfristigen Notwendigkeiten für das Ganze. Wir müssen tagespolitische Entscheidungen von strategischen Weichenstellungen trennen.
Vier Jahre sind zu wenig
Hierfür spielt die Zeitdimension eine entscheidende Rolle. Parlamente und Regierungen, die für nur vier kurze Jahre gewählt werden, können kaum über die Legislaturperiode hinaus handeln. Jeder Abgeordnete, jeder Minister denkt bei jeder seiner Entscheidungen auch an sich und seine Karriere, die oft auch seine wirtschaftliche Existenzgrundlage ist. Die nächste Wahl entscheidet auch über das eigene Portemonnaie, über die eigene Altersversorgung und die eigene gesellschaftliche Stellung. Daher kommt es darauf an, die nächste Wahl zu gewinnen, komme was wolle. Das ist sehr menschlich. Aber für das Große und Ganze, für das Langfristige ist es selten gut.
Bundestag und Bundeskongress
Daher sollten wir ein Zwei-Kammer-System einführen. Ein Parlament für das Tagesgeschäft und ein Parlament für langfristige Entscheidungen. Ebenso ein Kabinett für das Tagesgeschäft und ein Kabinett für langfristige Entscheidungen. Nennen wir mal das eine Bundestag wie bisher und das andere, das neue, Bundeskongress. Analog dazu dann auch zwei Kabinette, das bisherige Bundeskabinett und den neuen Bundessenat.
Kurz- und Langfristige Politik
Bundestag und Bundeskabinett sollten weiterhin eine vierjährige Legislaturperiode haben. In ihren Händen sollte das demokratische Alltagsgeschäft liegen. Bundeskongress und Bundessenat sollten für zwölf Jahre gewählt werden und für langfristige Fragen zuständig sein. An ihrer Spitze sollten Bundeskanzler beziehungsweise Bundespräsident stehen, beide von den jeweiligen Kammern gewählt. Die bisherige Bundesversammlung braucht heute schon kein Mensch, sie kann ersatzlos wegfallen.
Richtschnur Zeitachse
Der Knackpunkt wird die Definition von kurz- und langfristiger Entscheidungskompetenz sein. Dies wird nicht einfach zu bestimmen sein, ist aber machbar. Richtschnur hierfür müsste die Auswirkung politischer Entscheidungen auf der Zeitachse sein. So sollten Bundeskongress und Bundessenat für Aussen-, Bündnis- und Verteidigungspolitik, für Menschen- und Bürgerrechte, für übergeordnete Infrastruktur- und Wirtschaftspolitik und für Generationenpolitik inklusive Klimapolitik zuständig sein. Sie sollten die großen Leitlinien festlegen für die kurzfristigen Entscheidungen des Bundestages und des Bundeskabinetts. Dafür legen sie die Leitplanken der Steuer- und Haushaltspolitik fest und geben hierfür Ober- und Untergrenzen vor. Im Rahmen dieser Grenzen beschließt der Bundestag die tagespolitischen Notwendigkeiten und die Bundesregierung setzt sie um.
Für die unweigerlichen Streitfälle bleibt es beim herkömmlichen Bundesverfassungsgericht und für die Repräsentanz der Länderinteressen bleibt es beim Bundesrat, dessen Mitwirkung allerdings streng auf das Subsidiaritätsprinzip begrenzt wird.
Zwei Kammern – ein Volk
Beide Kammern werden vom Volk gewählt, wie bisher in allgemeiner und direkter Wahl. Den Bundeskanzler und den Bundespräsidenten bestimmen die jeweiligen Kammern. Für die Außenvertretung sind Bundespräsident und Bundessenat zuständig, fallweise in Abstimmung mit dem Bundeskabinett.
Der Teufel einer solchen Verfassungsreform steckt – natürlich – im Detail. Aber auch den Teufel können wir in den Griff kriegen. Und wenn wir uns dabei geschickt anstellen, dann müsste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn uns das nicht gelingen sollte.
"Bundeskongress und Bundessenat sollten für zwölf Jahre gewählt werden…"
D.h. die würden heute die politischen Realitäten aus dem Jahr 2007 abbilden. Das wäre de facto eine weitgehende Entmachtung der Wähler und ein Freibrief an die Politik besagte Wähler bei Entscheidungen noch mehr zu ignorieren als jetzt. Das würde gewissen Kreisen sicher gefallen, so losgelöst von Verantwortung zu agieren.
Ja, das könnte passieren. Aber auch das Gegenteil ist möglich, und ich denke, das ist wahrscheinlicher: Entscheider würden von den parteipolitischen Zwängen befreit und könnten tatsächlich ihrem Gewissen entsprechend für das langfristige Wohl des Landes entscheiden. Würde die Dauer der Legislaturperiode von Bundeskongress und Bundessenat auf zwölf lange Jahre festgelegt und zudem eine Wiederwahl nicht möglich sein, so wären Politiker weit weniger von Lobbisten, Seilschaften, Parteispenden zu Wahlkampfzeiten und dem Wohlwollen ihrer Parteifunktionäre abhängig. Sie bräuchten nicht mehr darauf hinzuarbeiten, sich bei allen lieb Kind zu machen, um bei der nächsten Kandidatenaufstellung dabei zu sein. Die Freiheitsgrade der Langfrist-Parlamentarier würden erheblich erweitert. Abgeordente würden sich tendenziell in Richtung auf das Ideal des Art. 38 GG hinentwickeln, nämlich freie "Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" zu sein.
Interessanter Gedanke.
Neben den schon angesprochenen praktischen Umsetzungsproblemen und vor allem der fehlenden Verantwortbarkeit denke ich, dass noch weitere Komplexität und eine Schaffung neuer politischer Posten das Letze ist, was das staatliche System in Deutschland benötigt. Dieses System ist bereits deutlich zu kompliziert und aufgebläht, angefangen bei der Anzahl der Sitze im Bundestag.
Eine Möglichkeit den grundsätzlichen Gedanken umzusetzen, ohne das System an sich komplexer zu machen, wäre z.B. die Hälfte der Sitze im Bundestag auf 6 Jahre zu wählen und die andere Hälfte auf 2 Jahre. Das würde zum einen eine gewisse Langfristigkeit einbringen und zum anderen das System dynamischer gestalten, ohne dass Abgeordnete sich langfristig aus ihrer Verantwortung entziehen und es sich auf Versorgungsposten gemütlich machen können.
Auch die gezielte Abwahl einzelner Abgeordneter durch ein qualifiziertes Misstrauensvotum der Wähler müsste bei langfristig gewählten Sitzen ermöglicht werden.
Wir leben in einer schnelllebigen Welt der Globalisierung und Digitalisierung.
Unternehmen werden nach kürzeren Zeiträumen bewertet. Ich kann nicht erkennen, dass hier eine längere Periode Vorteile bringen sollte.
Wir haben schon genug Beamte, und einen zu großen Bundestag. Wir brauchen jetzt keine Monarchie bei den Abgeordneten.