Update: Bundesinnenministerium untersagt Vertrieb einer BPB-Publikation

Screenshot von der BPB-Homepage: "vergiffen".
Screenshot von der BPB-Homepage: „vergiffen“.

Das Bundesministerium des Inneren (BMI) hat ein vorläufiges Vertriebsverbot gegen den Sammelband „Ökonomie und Gesellschaft“ aus der Reihe „Themen und Materialien“ der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) erlassen. Offenbar handelte das BMI auf Initiative der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Anstoß an den enthaltenen Vorschlägen für die Vermittlung ökonomischen Wissens an Schüler genommen hatte. Der von Prof. Dr. Bettina Zurstrassen (Universität Bielefeld) herausgegebene Band geht der Frage nach, wie neuere Perspektiven in der Wirtschaftswissenschaft, die sich nicht mehr allein am neoklassischen Modell des homo oecomicus orientieren, für den Unterricht aufbereitet werden können. Von unserer Gastautorin Patricia Pielage.

Update am Ende des Artikels.

Deutsche Gesellschaft für Soziologie: Eingriff in die Freiheit der Wissenschaft
Auf der Seite der BPB ist die Publikation als „vergriffen“ gekennzeichnet. Hier deutet nichts darauf hin, dass das Heft vorerst nicht weiter vertrieben werden darf. Der Vorgang wurde jedoch breiter bekannt, als die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) am Freitag eine Stellungnahme veröffentlichte, in der sie „den massiven Eingriff des Ministeriums in die Freiheit der Wissenschaft“ scharf kritisiert. Ausdrücklich wendet die DGS sich in der Erklärung gegen den „politischen Vorstoß der BDA“ und erhebt den Vorwurf, die BDA habe die Autor_innen des Sammelbands falsch zitiert: „In skandalisierender Absicht hat die BDA den Autor/innen Zitate zugeschrieben, die nicht von ihnen stammen, Zitate verkürzend aus dem Kontext gerissen und Zitate durch nicht markierte Auslassungen verfälschend dargestellt. Zum Teil werden als Beleg für die Kritik auch Zitate aufgeführt, die aus Zeitungsartikeln entnommen wurden, die in den Unterrichtsmaterialien abgedruckt sind.“

Verstoß gegen Beutelsbacher Konsens?

Nach Angaben der DGS beruft die BGA sich in ihrer Beschwerde über den Sammelband auf den sogenannten Beutelsbacher Konsens. Der Beutelsbacher Konsens entstand 1976 bei einer Tagung der baden-württembergischen Landeszentrale für politische Bildung und bildet bis heute die Grundlage für die Arbeit der BPB. Er beinhaltet drei Grundsätze für die politische Bildung: Erstens, das „Überwältigungsverbot“, bzw. das Verbot der Indoktrination. Lehrer in einer demokratischen Gesellschaft sollen Schüler nicht im Sinne erwünschter Meinungen erziehen und so an der Gewinnung eines eigenständigen Urteils hindern. Zweitens soll im Unterricht alles als kontrovers präsentiert werden, was auch in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert wird. Drittens soll politische Bildung die Schüler befähigen, eine politische Situation und die eigene Interessenlage zu analysieren. Die beanstandete Publikation verstoße gegen die ersten beiden dieser Prinzipien. Der wissenschaftliche Beirat der BPB, der mit der Prüfung der Vorwürfe beauftragt wurde, sei hingegen zu der Auffassung gelangt, dass der Vertrieb der Publikation unproblematisch sei.

Herausgeberin: „Kafkaeske Situation“

Auch die Herausgeberin des Bandes, Prof. Dr. Bettina Zurstrassen (Uni Bielefeld), ist irritiert über das vorläufige Vertriebsverbot. Sie beklagt im Gespräch mit den Ruhrbaronen, dass sie und die anderen Autoren nicht um eine Stellungnahme zu den Vorwürfen gebeten wurden. Es sei eine „kafkaeske Situation“. Auch nachdem der wissenschaftliche Beirat der BPB die Publikation als unbedenklich eingestuft habe, bleibe das BMI beim Vertriebsverbot – ohne Gründe dafür zu nennen. Einen Verstoß gegen den Beutelsbacher Konsens sieht sie nicht, sondern betont im Gegenteil, dass das Anliegen des Bandes ist, unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze im Unterricht aufzugreifen: „homo oeconomicus ist ein Ansatz unter vielen. Wir möchten, dass auch andere Modelle im Unterricht berücksichtigt werden. Es geht um wirtschaftstheoretischen, politischen und sozialen Pluralismus. Und unser Konzept ist schülerorientiert.“

IG Metall: Lobbyismus

Auch „wap.ig-metall.de“, das Berufsbildungsportal der IG Metall, beschäftigt sich mit dem Vorgang. Die Gewerkschafter sehen in dem Vorstoß der BDA einen „Skandal“ und einen „selten in dieser Offenheit zu beobachtende[n] Fall von Lobbyismus“. Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied der IG Metall und dort verantwortlich für Bildungspolitik kritisiert: „Es darf nicht sein, dass Arbeitgeberverbände mit ihrer Lobbymacht unbequeme wirtschaftliche Theorien aus schulischer Bildung, Lehrerfortbildung und Unterrichtsmaterialien verbannen.“

Längere Kontroverse um Ausrichtung ökonomischer Bildung

Die jetzige Auseinandersetzung kann als Fortsetzung einer länger andauernden Kontroverse um die Ausrichtung von Bildungsangeboten im Themenfeld Wirtschaft betrachtet werden. Während Wirtschaftsverbände versuchen, Lobbyarbeit für ihre Auslegung ökonomischer Bildung zu machen, setzen sich Organisationen wie die „Initiative für bessere ökonomische Bildung“ (iböb) für einen pluralistischeren Zugang zu ökonomischen Themen ein. Bereits 2011 verfasste Prof. Dr. Bettina Zurstrassen, die auch in der „Initiative für bessere ökonomische Bildung“ aktiv ist, zusammen mit Kollegen einen Beitrag, in dem sie einen Vorstoß des Gemeinschaftsausschusses der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft (GGW) für ein neues Unterrichtsfach „Ökonomie“ kritisierte. Die Autoren wandten sich damals gegen ein Unterrichtsfach Ökonomie, das wirtschaftliches Handeln alleine aus der Perspektive eines nutzenmaximierenden, kühl kalkulierenden homo oeconomicus betrachtet und diese als einzig mögliche Perspektive präsentiert. Demgegenüber treten die Autoren für eine ökonomische Bildung ein, „die ökonomische Fragen in gesellschaftliche, politische und kulturelle Zusammenhänge einbettet und sich nachdrücklich auf die Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler bezieht.“ (Zitat aus dem Beitrag)

Dass nun aus Sicht der BDA ausgerechnet der Versuch, Perspektiven jenseits des neoklassischen wirtschaftswissenschaftlichen Standardmodells in den Unterricht zu Wirtschaftsthemen zu integrieren, einseitig und ein Verstoß gegen den Grundsatz der Kontroversität sein soll, erstaunt – geht es doch gerade darum, Diskussionen im Unterricht abzubilden, die auch in der Wirtschaftswissenschaft selbst kontrovers geführt werden.

Das Bundesministerium des Inneren wurde um eine Stellungnahme gebeten. Wir berichten nach.

Update:
In einer Stellungnahme erklärt das Bundesinnenministerium, es habe „als Fachaufsicht“ die BPB aufgefordert, die Publikation „einstweilig bis zum Abschluss der erforderlichen fachlichen Prüfung“ nicht weiter zu vertreiben. Da der Band „Fragen hinsichtlich der Pluralität seiner Beiträge“ aufwerfe, habe das Ministerium die BPB „um Stellungnahme unter Einbindung des Wissenschaftlichen Beirats gebeten“. Die Beschwerde der BDA sei nur der Anlass, aber nicht der Grund für die Überprüfung der Publikation gewesen: „Die Prüfungsbitte des BMI war ausdrücklich weiter und auf die fachlichen Aspekte sowohl der Darstellung der wirtschaftswissenschaftlichen Fragen wie auch der Grundsatzfrage der politischen Bildung, Einhaltung des ‚Beutelsbacher Konsenses‘, gerichtet.“ Das Ministerium komme mit der Überprüfung seiner Aufgabe als Fachaufsichtsbehörde nach. Ganz allgemein gehe das BMI „Beschwerden aus allen gesellschaftlichen oder politischen Bereichen und auch von Einzelpersonen“ nach.

Die Sitzung des wissenschaftlichen Beirates habe am 16.10. stattgefunden. „Unter Berücksichtigung der Ergebnisse dieser Beratungen wird BMI zeitnah über den weiteren Vertrieb dieser Publikation entscheiden.“

Dies deutet darauf hin, dass das Ministerium in dieser Frage zurückrudert. Es bleibt abzuwarten, ob das Ministerium sich dem Ergebnis der wissenschaftlichen Überprüfung der Publikation – der Beirat der BPB hatte die Publikation als unbedenklich eingestuft – anschließt oder sich darüber hinwegsetzt. Für ein weiteres Vertriebsverbot bräuchte es gewichtige Gründe.

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Hermes
Hermes
9 Jahre zuvor

Nur eine Mutmaßung, aber könnte es sein, dass die BPB mit ein paar Ökonomen gesprochen hat, die Bedenken geäußert haben, dass jemand aus einer anderen Disziplin, nämlich der Soziologie, die Aufgabe übernehmen will, ihre Disziplin zu erklären?

Man sollte auch davon ansehen, einen Heilpraktiker zu engagieren, der über "Vor- und Nachteile der Schulmedizin" referiert.

Hermes
Hermes
9 Jahre zuvor

Vielleicht hilft auch dieser Link weiter: http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=18020
Eine Erwiderung auf die Fundamentalkritik des kleinen, aber laut auftretenden "Netzwerks Plurale Ökonomie", dem Frau Zurstrassen angehört.

Rainer Möller
Rainer Möller
9 Jahre zuvor

Zu den Hintergründen kann ich nichts sagen, nur zu diesem Artikel.
Ich halte die Kritik am homo oeconomicus für irreführend. Es geht in der Wirtschaftswissenschaft ja nicht darum, dass sich alle Menschen ständig nutzenmaximierend verhalten würden – das tun sie offenkundig nicht. Es geht darum, dass einem Menschen, der sich nicht nutzenmaximierend verhält, eben auch ein Nutzen entgeht oder ein Schaden entsteht – und es geht darum, den entgangenen Nutzen oder den Schaden zu berechnen. Z.B. geht es auch darum: Wieweit können wir uns nicht nutzenmaximierendes Verhalten erlauben, ohne uns wesentlich zu schaden?

Das ist wie bei der Statik: Wie weit können wir einen Boden im Obergeschoss belasten, ohne dass er einbricht? Bei der Statik beschäftigen wie uns auch nicht mit allen möglichen Motiven, aus denen Menschen ihren Boden belasten – sondern nur mit einem, allerdings sehr wichtigen Gesichtspunkt.

Robert
Robert
9 Jahre zuvor

Der Vergleich mit dem Heilpraktiker ist schlichtweg Nonsens. Soziologen arbeiten im Schnitt genauso wissenschaftlich wie Ökonomen. Es zeugt ebenso von fundamentaler Unkenntnis der Geschichte des Faches Ökonomie und schlicht von unwissenschaftlicher Denke, die willkürlich etablierte Abgrenzung der "reinen" Ökonomie von anderen Sozialwissenschaften jetzt als Grenze der Nichteinmischung durch andere und damit das Terrain des "wahren Glaubens" feststecken zu wollen.
Die ökonomische Soziologie ist seit den 80er Jahren (wieder) eine etablierte Subdisziplin der Sozialwissenschaften. Sie bemüht sich, wie andere auch, genau jene Erklärungsdefizite aufzugreifen, die von der neoklassichen Ökonomie regelmäßig produziert werden und welche vor allem darauf beruhen, dass dort seit Walras keine wesentlichen ontologischen Fortschritte mehr gemacht wurden. Die Ökonomie sagt uns damit regelmäßig das voraus, was unter den Voraussetzungen von gesamtwirtschaftlichem Gleichgewicht und Vollbeschäftigung sein sollte, sieht aber ansonsten weitgehend davon ab das zu erklären, was wirklich ist. Die Ökonomie verkommt von einer Wissenschaft immer mehr zu einem arkanen Ritus. Eine Intervention von "Außen" ist also dringend geboten.

Arnold Voss
9 Jahre zuvor

Ja, es gibt den sogenannten "Terror der Ökonomie", aber er ist nichts anderes als der Zwang auch dann Kosten und Nutzen abzuwägen, wenn einem partout nicht danach ist. Im Ernstfall hängt nämlich das eigene und das Überleben anderer davon ab. Nicht einmal in einer Überflussgesellschaft kann auf die ökonomische Denk- und Handlungsweise verzichtet werden, wenn man diese zu Gunsten aller erhalten möchte.

Trotzdem ist zu konstatieren, dass die Ausrichtung dieser Wissenschaft sich an den Hochschulen und auch in der Öffentlichkeit in den letzen Jahrzehnten mehr in Richtung Marktglauben als in Richtung Marktrealität begwegt hat. Die empirische Erforschung der realen Marktprozesse ist der reinen Markttheorie und ihrer immer komplexeren mathematischen Logik gewichen.

Vor allem die Tatsache, das Marktteilnehmer ab einer bestimmten Marktmacht (Oligopol) diese dazu nutzen, die Gesetze des Marktes systematisch außer Kraft zu setzen, also die Theorie des sich selbst regulierenden Marktes an sich auszuhebeln, ist systematisch vernachlässsigt worden. Der enge Zusammenhang von Markt und Macht und damit von Ökonomie, Politik und Soziologie wurde damit bewusst ausgeblendet.

Das riesige Aktionsfeld der systematischen und absichtlichen Marktmanipulation ist völlig unterbelichtet. Ebenso der enge Zusammenhang von Betriebs- und Volkswirtschaft. Er wird bei der betriebswirtschaftlichen Ausbildung geradezu vermieden. Das führt zu einer fast völlig getrennten Theorie und Praxis Entwicklung zum Schaden einer gesamtökonomischen Sichtweise.

Sebastian Bartoschek
Admin
9 Jahre zuvor

Wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht verstanden, welche "neuen" Positionen da inhaltilch positiv vertreten werden, die dem BMI unlieb sind. Kann mir das jemand kurz erklären?

Hermes
Hermes
9 Jahre zuvor

:
Inzwischen habe ich zumindest mal das Inhaltsverzeichnis gelesen und denke nun, dass der Vergleich mit den Heilpraktikern bestens passt.

Das Buch führt nicht in Grundlagen und Begriffe der Wirtschaftswissenschaften ein.
Man könnte z.B. fragen:
Welche Akteure nehmen am Wirtschaftsgeschehen teil?
Welchen Einfluss nehmen sie durch ihr Handeln?
Welche Prozesse gehören zum "Wirtschafskreislauf"?
Was sind Märkte?
Was ist Konsum?
Was sind Unternehmen?
Wie erfolgt Preisbildung?
Wie können wir uns die Produktion von Gütern und Dienstleistungen vorstellen?
Was ist das Bruttoinlandsprodukt und wie setzt es sich zusammen?
Was sind Steuern, wozu sind sie gut und wie wirken sie?
Was ist Außenhandel und was sind Zölle?
und tausende weiterer Fragen.

Alle diese Fragen könnte man ideologiefrei diskutieren oder unterschiedliche Sichtweisen dazu beleuchten. Sollte bereits die Auswahl der Fragen zu "neoliberal" sein, so könnte man auch einfach mit der Ideengeschichte der Wirtschaftswissenschaften beginnen und von dort bis zum Status quo kommen. Dann könnte man sogar noch ein Kapitel anhängen, in dem man darlegt, warum die Ökonomen der letzten 300 Jahre alles nicht durchschaut haben und sich lieber mal von Soziologen aus Bielefeld erklären lassen sollten, wie Wirtschaft funktioniert.

Tatsächlich ist es aber so, dass die Schüler aus dem Buch ab der ersten Seite lernen werden, dass die böse "Mainstream-Ökonomie", was auch immer das sein soll, für alles Übel dieser Welt verantwortlich ist. Das ist keine ernst zu nehmende Kritik mehr, das ist nur noch Ideologie.

Patricia Pielage
Patricia Pielage
9 Jahre zuvor

@Hermes: Vielen Dank für den Hinweis auf den interessanten Beitrag von Mathias Erlei (http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=18020)! Das ist sehr interessant – und liest sich deutlich differenzierter als der Vergleich von Soziologen mit Heilpraktikern… 😉

Zu der Diskussion um das neoklassische Standardmodell (homo oeconomicus) und die Zuständigkeit von Wirtschaftswissenschaften oder Soziologie/Sozialwissenschaft in der sozioökonomischen Bildung:

Wirtschaftssoziologen kritisieren den 'neoklassischen Mainstream' der Wirtschaftswissenschaft schon seit langer Zeit für die Prämissen ihrer Theorie. Anhänger des sogenannten 'neoklassischen Mainstreams' gehen davon aus, dass Menschen als homo oeconomicus bestrebt sind, ihren eigenen Nutzen zu maximieren. Ihr Ausgangspunkt ist der methodologische Individualismus, d.h. sie betrachten das ökonomische Verhalten einzelner, ohne deren soziale Einbettung zu berücksichtigen. Gleichzeitig gehen sie davon aus, dass ein vollständiger Markt existiert: Auf diesem Markt gibt es vollständige Information aller Marktteilnehmer. Es handelt sich um einen 'atomistischen Markt' mit vielen verschiedenen Marktteilnehmern und vollständiger Konkurrenz, Marktmacht ist vollständig abwesend, etc. Demgegenüber weisen Wirtschaftssoziologen darauf hin, dass Menschen in soziale Zusammenhänge eingebettet sind und deshalb bisweilen anders als nutzenmaximierend handeln – auch wenn es um wirtschaftliches Handeln geht. Sie berücksichtigen den Effekt von Routinen. Sie beziehen Institutionen, Gesetze und Normen in ihre Analyse mit ein. Und sie analysieren, wie Macht wirtschaftliches Handeln beeinflusst. Das heißt nicht, dass der neoklassische Ansatz unbrauchbar ist, im Gegenteil lassen sich viele Phänomene gut damit erklären. Und für die Phänomene, die sich damit nicht gut erklären lassen, sind die Ergänzungen aus der Wirtschaftssoziologie sicherlich hilfreich.

Hier ist wenig Platz, um das auszuführen. Eine gut lesbare Einführung in diese Debatte, nebst einem historischen Überblick findet sich in diesem Aufsatz von Smelser/Swedberg 2005:

http://press.princeton.edu/chapters/s7994.pdf

Die Auseinandersetzung zwischen neoklassischen und soziologischen Ansätzen geht bis zu Max Weber und Emil Durkheim zurück. Selbstverständlich haben die Wirtschaftswissenschaften inzwischen viele Impulse aus der Soziologie aufgenommen. Insofern scheint mir die Frage falsch gestellt, ob Wirtschaftswissenschaftler oder Wirtschaftssoziologen das Recht haben sollten, sich zu ökonomischen Themen zu äußern. Beide haben dazu etwas zu sagen – allerdings unterscheiden sich ihre Fragen an ihren Forschungsgegenstand. Und diese unterschiedlichen Perspektiven sollten sich auch in didaktischen Materialien zur sozioökonomischen Bildung wiederfinden.

Die Diskussion, die hier entstanden ist, zeigt in jedem Fall, dass es sich um eine wissenschaftliche Debatte handelt – und die sollte mit Argumenten und nicht mit Ministeriumserlassen geführt werden.

FS01
FS01
9 Jahre zuvor

"Anhänger des sogenannten ’neoklassischen Mainstreams‘ gehen davon aus, dass Menschen als homo oeconomicus bestrebt sind, ihren eigenen Nutzen zu maximieren. Ihr Ausgangspunkt ist der methodologische Individualismus, d.h. sie betrachten das ökonomische Verhalten einzelner, ohne deren soziale Einbettung zu berücksichtigen. Gleichzeitig gehen sie davon aus, dass ein vollständiger Markt existiert: Auf diesem Markt gibt es vollständige Information aller Marktteilnehmer. Es handelt sich um einen ‚atomistischen Markt‘ mit vielen verschiedenen Marktteilnehmern und vollständiger Konkurrenz, Marktmacht ist vollständig abwesend, etc. "

Diesen Eindruck mag man vielleicht gewinnen, wenn man als Soziologe mal eine Pflichtvorlesung VWL im ganzen Studium macht. Der Eindruck ist aber grundfalsch. Vielmehr ist das oben Beschriebene ein Referenzpunkt, und der Untersuchungsgegenstand der VWL letztlich Abweichungen davon.

Christian
Christian
9 Jahre zuvor

@Hermes Ihren Hinweis auf den Artikel mit der kritischen Stimme, fand ich gut. Der Aspekt der Analyse und der Gegenüberstellung von Glauben an den Markt bedenkenswert (wobei aus soziologischer Perspektive von Glauben gesprochen werden kann, selbst wenn es für Ökonom*innen eine Analyse ist, da hier ein anderer Begriff vorliegt). Dennoch ist das Verhältnis von Soziologie und Wirtschaft ein anderes als das von Heilpraxis und Schulmedizin (beide Medizin i.w.S.). Soziologie erklärt die Wirtschaft als gesellschaftliches Phänomen und nicht als Ökonomisches und verwendet notwendigerweise andere Begriffe.

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[…] Bundesinnenministerium untersagt Vertrieb einer BPB-Publikation “Das Bundesministerium des Inneren (BMI) hat ein vorläufiges Vertriebsverbot gegen den Sammelband „Ökonomie und Gesellschaft“ aus der Reihe „Themen und Materialien“ der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) erlassen. Offenbar handelte das BMI auf Initiative der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Anstoß an den enthaltenen Vorschlägen für die Vermittlung ökonomischen Wissens an Schüler genommen hatte. Der von Prof. Dr. Bettina Zurstrassen (Universität Bielefeld) herausgegebene Band geht der Frage nach, wie neuere Perspektiven in der Wirtschaftswissenschaft, die sich nicht mehr allein am neoklassischen Modell des homo oecomicus orientieren, für den Unterricht aufbereitet werden können…” Artikel von Patricia Pielage vom 26. Oktober 2015 bei den Ruhrbaronen […]

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