Schon immer legte der Adel darauf, in einer Welt zu leben, in der die Herkunft und nicht die Leistung zählt. Ein Beispiel dafür ist das eingestellte Jagen, dass Tim Blanning in seinem Buch „Der Aufbruch Europas“ beschreibt: „Eine Reihe von Treibern drängte eine große Menge Wild in einen speziell dafür vorbereiteten Bereich, wo man es aus kurzer Entfernung abschoss. Besonders beliebt war es, den eingezäunten Bereich rund um einen See oder einen Fluss zu erstellen, so dass die Tiere von Booten aus getötet werden konnten. Diese Form der Jagd hatte den Vorteil, dass sie vonseiten des »Jägers« keinerlei körperliche Anstrengung verlangte, sieht man einmal vom Betätigen des Gewehrs ab, und dass sie, ungemein wichtiger, vorhersehbar war.“ Ging der Bauer bei der Wilderei nicht nur das Risiko ein, von den Häschern des Adels gefasst und anschließend bestraft zu werden, sondern musste auch große Mühe und Geschick aufwenden, um an das dringend für die Ernährung benötigte Fleisch zu kommen, genehmigte sich der Adel auch hier, was er am meisten schätzte: Ein leistungsloses Einkommen.
Das mit der Leistung ist nicht einfach: Auf der einen Seite betonen auch die höhergestellten Schichten, wie wichtig sie ihnen ist, auf der anderen Seite tun sie alles dafür, nicht nach Leistungskriterien beurteilt zu werden. Der Pöbel soll gefälligst zeigen, was er kann, man selbst ist, was man ist, und das muss ja wohl reichen. Leistung, das ist eine Belästigung.
Es ist kein Zufall, dass es heute der grüne Adel ist, der am lautesten jubelt, dass sein Nachwuchs künftig beim Sport keine Leistung mehr zeigen muss. Die Zeit fragt ihre Leser aus diesem Anlass „Und wie schlimm war es bei Ihnen?“ und Eiken Bruhn weiß in der taz „…als wären Zahlen und Vergleiche in irgendeiner Weise geeignet, Menschen für etwas zu begeistern.“
Was sollte sie denn sonst begeistern? Fußball spiele Kinder nicht, weil sie es nett finden, gegen einen Ball zu treten, sondern um die andere Mannschaft zu schlagen. Ähnlich sieht das auch Michael Fahlenbock vom Sportlehrerverband. Fahlenbock sagte dem Deutschlandfunk: „Wenn man die Kinder heranwachsen sieht, wenn sie sich draußen beim freien Spiel bewegen, suchen sie eigentlich immer den Wettbewerb. Sie können ja auf den Schulhof gehen und gucken: Die Kinder spielen Fußball um die Wette oder machen Hüpfekästchen. Und wer kommt beim Hüpfekästchen am weitesten? Wer kann beim Seilchenspringen am meisten Umdrehungen hinkriegen? Es sind ja eigentlich immer Vergleiche, also immer kleine Wettbewerbe, die sich Kinder und Jugendliche selbst aussuchen.“
Die Bundesjugendspiele, erst seit 1979 ist die Teilnahme an ihnen Pflicht, wird es in der bisherigen Form an Grundschulen nicht mehr geben. Die Kinder werden künftig bis zu vierten Klasse nicht mehr für ihr sportlichen Leistungen Siegerurkunden erhalten, wenn sie gut waren, sondern nur noch weitgehend bedeutungslose Teilnahmebescheinigungen. Bis zu vierten Klasse soll es nur noch um den Spaß gehen.
Die Grundschule zeichnet sich allerdings nicht nur dadurch aus, dass ihre Schüler besonders jung sind. Sie ist auch die Schulform, in der die Kinder aus verschiedenen Klassen eher nebeneinandersitzen als das später der Fall ist. Hier kann der Sohn des Zahnarztes noch neben dem des Facharbeiters sitzen, die Tochter der Putzfrau neben der der Ingenieurin. Spätestens wenn die Kinder auf weiterführende Schulen gehen, ist es damit vorbei: Der grüne Adel schickt seine Kinder wie alle Angehörigen der höheren Stände aufs Gymnasium oder, wenn sie nicht die hellsten Kerzen auf der veganen Möhrentorte sind, auf die Waldorfschule. Der Rest tummelt sich auf Gesamtschulen oder, wo es sie noch gibt, Hauptschulen.
Die Grundschule ist damit der einzige Ort, wo die Chance am größten ist, dass die Tochter eines türkischen Bauarbeiters über die Tochter eines Professors triumphiert. Vielleicht nicht in Deutsch, weil bei ihr Zuhause weniger gelesen wird und vielleicht auch nicht in Mathe, weil die Eltern kein Geld für teuren Nachhilfeunterricht haben, aber wenigstens im Sport: Aysche bekommt die Siegerurkunde, Liselotte weint in ihre Nanchen-Puppe.
In der FAZ erinnert sich Matthias Heinrich an Mitschüler aus einem SOS-Kinderdorf, die an den Bundesjugendspielen teilnahmen: „Sie fuhren in den Ferien nicht in den Urlaub. Sie lernten kein Instrument. Niemand empörte sich darüber, dass ihre Noten in Musik deshalb nicht so gut waren die ihrer Mitschüler mit Klavierunterricht. Eine Sieger- oder eine Ehrenurkunde war für diese Kinder eine der wenigen Möglichkeiten für eine Anerkennung. Ein „Das hast du gut gemacht“ in Schriftform, das sie sich an die Wand hängen und auf das sie stolz sein konnten.“
Das soll künftig nicht mehr passieren können, denn, so sagte es Christine Finke, auf deren Initiative hin es zum Aus für die Bundesjugendspiele in der bisherigen Form kam, dem Spiegel schon 2015: „…die Demütigungen bei den Bundesjugendspielen sind besonders schlimm, weil es da ganz elementar um den eigenen Körper geht, um einen selbst. Es gibt schon genug Druck in der Schule, der sollte durch Sport nicht noch verstärkt werden.“
Ob es nicht genau so demütigend ist, schlecht lesen zu können, bei Mathe an der Tafel zu versagen oder auch einfach nur derjenige mit der billigsten Jeans in der Klasse zu sein?
Einer Petition von Finke schlossen sich über 21.200 Menschen an. Sie setzte damit eine Debatte in Gang, die schließlich zu einer Reform der Bundesjugendspiele führte. Bei den Bundesjugendspielen, schreibt in diesem Jahr der Deutsche Turnerbund, „geht es insbesondere darum, sich zu bewegen, Freude zu haben und sein Bestes zu geben. Vor allem aber geht es auch um Fairness, Respekt, Teamfähigkeit und soziale Kompetenzen.“ All das kann man auch in Wettbewerben lernen, dafür braucht es keine Komfortzone.
Wenn es darum geht, Leistung zu beurteilen, spielt die Herkunft der Beteiligten eine wichtige Rolle: Wer das Spiel mit den feinen Unterschieden nicht beherrscht, wird von den zumeist aus der Mittelschicht stammenden Lehrern schlechter beurteilt. „Ein Kind aus einem bildungsnahen Milieu“, schreibt Ewald Terhart für bpb.de, „hat eine vierfach so hohe Chance, eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten, wie ein Kind aus einem bildungsfernen Milieu – bei (durch Tests gemessenen) gleichen kognitiven Voraussetzungen! Die Chance steigt noch auf das Viereinhalbfache, wenn man auf die tatsächlich vollzogenen Übergänge zum Gymnasium schaut.“
Oft geht es nicht ums Wissen, sondern darum, wie es präsentiert wird, bringt es Punkte, den Lehrern mit der Sicherheit und dem Selbstbewusstsein entgegenzutreten, dass die oberen Schichten ihrem Nachwuchs mitgeben. Dieser Logik kann sich kein Teilnehmer an Sportwettkämpfen entziehen.
Viele Kinder aus den besseren Verhältnissen werden künftig ohne die Erfahrung aufwachsen, zumindest einmal gegen Kids aus der Unterschicht verloren zu haben. Das wird ihnen nicht nur ein paar Enttäuschungen ersparen, sondern auch ihr Gefühl stärken, etwas Besonderes zu sein.
Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Jungle World