Stacey* war Lohnbuchhalterin in San Francisco, ich war dort Fahrradkurier. Der Dispatcher hatte mich zu einer falschen Adresse geschickt, dort saß sie zufällig hinterm Tresen, weil sie für eine kranke Kollegin eingesprungen war, und strahlte mich an. „Schicksal“, sagten wir später immer, wenn Freunde uns fragten, wie wir uns kennengelernt hätten. Ein Beitrag von Ralf Grauel.
Illustration: David Latz, nonstopnerds
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Zu unserem ersten Date trafen wir uns an einem Sonntagabend in Berkeley, dort war sie geboren und aufgewachsen, dort wohnten auch noch ihre Mutter und ihre dreizehnjährige Tochter. Als wir uns kennenlernten war ich 24 Jahre alt, sie war 26. Am Montag nach unserem Date holte ich sie aus ihrem Büro im Financial District ab und nahm sie mit in mein Hotel. Wir gingen in mein Zimmer, zwölf Quadratmeter groß, draußen unter dem Fenster gab einen rot blinkenden Neonschriftzug, der erst um zwei Uhr nachts ausgeschaltet wurde, Stacey blieb über Nacht, holte am nächste Tag Kleidung nach und zog sofort bei mir ein. Ich fand das romantisch.
Das Hotel lag in der Ellis Street, Ecke Mason Street. Gegenüber von meinem Hostel war das Hilton, auf meiner Straßenseite aber begann das Downtown-Ghetto von San Francisco, Tenderloin genannt. Ein paar Schritte die Straße runter lag die Glide Memorial Church, dort standen ab 16.00 Uhr die Obdachlosen der Stadt für eine warme Mahlzeit und ein Bett an, die Schlange ging um den ganzen Block. Der Park gegenüber der Kirche war dann schon verseucht mit Dealern und mit Crackheads.
Es dauerte zwei Wochen, bis ich merkte, dass sie Crack-süchtig war. Wiederum eine Woche später verprügelte sie aus Eifersucht eine Frau, die ebenfalls in dem Hostel wohnte und wir mussten ausziehen. Ich besorgte uns ein kleines kaputtes Motorboot, das am Pier 39 im Hafen von San Francisco lag, dort wohnten wir die nächsten anderthalb Jahre. Nachts konnten wir Alcatraz und die Bay Bridge sehen. „Wenn wir uns hier streiten“, dachte ich, „landen meine Klamotten im Wasser.“ Es kam schlimmer.
Stacey war eine auffällig schöne schwarze Frau. Wenn wir im Bus irgendwo hinfuhren und uns in die letzte Reihe setzten, gab es oft böse Blicke von „homeboys“, die sich demonstrativ uns gegenüber setzten und mich, den „white boy“, oder sie anstarrten. Wenn ich darauf reagierte, zog mich Stacey aus dem Bus, schimpfte mich aus, weil ich wohl die Waffe im Hosenbund einer der Jungs nicht gesehen hatte. Ich lachte, sie solle mich mit dem Ghettokram in Ruhe lassen.
Stacey war impulsiv, lebendig und sie war sehr süchtig. Unter der Woche ging sie ins Büro, trug teure Kostüme, sie hatte sogar eines von Chanel. Alle zwei Wochen, wenn sie ihren Paycheck hatte, kam sie Freitags nach Hause, zog sich, noch bevor ich von der Arbeit kam, um. Sie hatte eine bestimmte Kappe, die sie aufsetzte und bestimmte Kleidungsstücke, die sie anzog, bevor sie in irgendein Crackhaus in irgendeinen Ghetto ging, und ihr Geld und später unsere Ersparnisse verrauchte. Meistens kam sie am Sonntag nach Hause, manchmal aber auch erst Dienstag oder Mittwoch. Ihre Kleidung war dann völlig verdreckt, sie stank, war ausgezehrt und sah furchtbar traurig aus und verloren. Stacey hat diese Kleidungsstücke nie weggeschmissen. Sie hat sie ein paar Tage später gewaschen und zu den anderen Sachen gelegt.
Natürlich haben wir immer wieder versucht, gegen ihre Sucht anzukämpfen. Noch bevor wir auf das Boot zogen, habe ich ihr gesagt, dass sie sich entscheiden soll. Die Drogen oder ich. Sie hat mir nach jedem Exzess versprochen, aufzuhören. Sie ging auch irgendwann zu Cocaine Anonymous. Die Selbsthilfegruppen fanden mehrmals in der Woche statt, sie kam dann abends spät nach Hause, mit dem Bus, müde und abgekämpft. Ein Auto hatten wir nicht, wir hatten ja nie Geld. Einmal war sie acht Wochen am Stück sauber. Der Absturz danach war umso schlimmer, ihre Schuld umso größer.
Anfangs war ich froh wenn sie wieder nach Hause kam, dann war ich traurig, dann wütend. Natürlich verstärken solche Dramen auch die Liebe, man verwechselt das ständige Leid mit Leidenschaft. Aber wie bei einem fallenden Börsenkurs geht dieses Auf und Ab der Gefühle kontinuierlich nach unten. Irgendwann fühlt man nichts mehr. Danach geht es ins Negative, mit Gefühlen, die man nicht empfinden möchte, schon gar nicht für einen Menschen, den man eigentlich liebt: Abscheu, Verachtung, Hass.
Es wäre falsch zu sagen, Staceys Sucht habe alles zerstört. Richtig ist: Die Sucht verhinderte, dass irgendetwas auch nur entstand. Sucht zehrt alles aus. Geist, Körper, Seele, die Liebe. Aus der Hoffnung, die so wichtig ist, damit ein Süchtiger heilt, aus den vielen Versprechen, die man macht, werden beim Süchtigen Lügen, mit denen er sein kaputtes Leben tarnt. Bei dem Partner eines Süchtigen aber vertrocknet alles. Pläne und Zuversicht verdorren, übrig bleibt Zynismus.
Wenn man mit jemanden zusammenlebt, der süchtig ist, kann man nicht planen, träumen, nichts entwickeln. Man kann auch nicht streiten oder, wenn man sauer ist, kurz mal um den Block laufen, wie man das in einer normalen Beziehung machen würde. All das geht nicht, weil man bei jeder Unwägbarkeit Angst hat, dass der andere konsumiert. Also geht man auf Vollkontakt, passt ständig auf. Außerdem, und das fiel mir erst Jahre später auf, hat immer der andere Schuld, der Süchtige, egal was passiert. Dieses Ungleichgewicht hält niemand aus.
Anfangs log ich noch für sie, vor Freunden, vor ihrer Familie, um ihr den Weg zurück ins normale Leben nicht zu versperren. Der Freundeskreis schrumpft. Sie wollte mit mir nach Deutschland fliehen. Aber da gibt es doch auch Drogen, antwortete ich. In Wirklichkeit glaubte ich nicht mehr, dass sie es schaffen würde.
Jede Droge macht anders süchtig. Crack produziert eine fatale körperliche Abhängigkeit. Ich wusste das, weil ich es selbst ausprobiert hatte. Als ich herausfand, dass sie Crack rauchte – ein Mitbewohner hatte mich drauf aufmerksam gemacht, kurz darauf kam ich früher von der Arbeit, fand sie high im Zimmer – stellte ich sie zur Rede. Wir stritten, ich sagte, sie müsse sich zwischen mir und der Droge entscheiden. Sie sagte, es sei nicht so schlimm, ich wüsste doch gar nicht, worüber ich rede. Wir gingen in den Park, sie besorgte die Droge und gingen wieder aufs Zimmer.
Crack wird aus Kokain hergestellt, das mit Backpulver vermischt und aufgebacken wird, so dass es zu kleinen kristallinen Bröckchen verklumpt. Wenn man das in der Pfeife raucht, knistert es, und es stinkt nach Plastik. Ich war sofort high, redete in einem fort, fühlte mich großartig, interessiert und inspiriert, als hätte jemand in meinen Kopf das Licht angeknipst. Stacey saß still auf der Bettkante, sah aus wie eine Süchtige die sich einen Schuss gesetzt hatte, wach, traurig.
Fünf oder zehn Minuten später verschwand das Hochgefühl, wurde zu einem Krampf, erst im Bauch dann kriecht es den Rücken hoch, krallt sich im Hinterkopf fest, ein Ziehen im Stammhirn, eine mächtige, körperliche Mischung aus Gier und Angst, die sich nur durch mehr Crack beenden lässt.
Ich hatte zweihundert Dollar in der Tasche, in dieser Nacht gaben wir alles Geld aus, das ich besaß. Als es im Park nichts mehr gab, fuhren wir mit dem Bart (Bay Area Rapid Transit) nach Oakland gingen dort in ein Housing Project besorgten uns mehr, saßen bei einem anderen Süchtigen im Haus, rauchten und suchten, als wir nichts mehr hatten, den Teppich nach kleinen Klümpchen ab.
Am nächsten Tag erinnerte ich mich an jeden Moment dieser Nacht. Die Gier, die Trostlosigkeit, der Stumpfsinn und diese unglaublich starke, körperliche Macht, mit der diese Substanz über meine Persönlichkeit verfügen konnte. Ich stellte Stacey vor die Wahl und natürlich schwor sie, aufzuhören.
Wenn ihr Verlangen Tage oder Wochen später mächtiger wurde, und sie merkte, dass sie konsumieren musste, auch als wir schon auf dem Boot wohnten, flehte sie mich an, zu Hause rauchen zu dürfen, damit sie nicht an diese schlimmen Orte musste, in diese verseuchten Crackhäuser voller Huren, Kranker und Aussätziger. Ich konnte das nicht. Ich wollte nicht dabei sein, wenn sie zerstört, was ich liebte. Sie zu sehen, wenn sie high war, war ein Anblick ohne Hoffnung, ohne Licht, der traurigste Anblick, den es gibt.
Als ich sie nach einem Jahr das erste Mal verließ, flehte sie mich an, zurückzukommen, also ging ich zurück, bis zum nächsten Rückfall. So ging das hin und her. Sie verlor Ihre Jobs, fing sich, erlebte einen Rückfall, verlor den nächsten Job und ich die Hoffnung. Als ihr Flehen nichts mehr half, drohte sie, meinen Freunden zu schaden, wenn ich nicht zurückkehren würde. Sie würde Leute kennen, die für sehr wenig Geld, bösen Dinge tun würden. Das musste ich ernst nehmen.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits heimlich Geld beiseite geschafft, ich hatte mir eine Ausrüstung gekauft, Zelt und Rucksack, um die Stadt für eine Weile zu verlassen und sie in dem Glauben zu lassen, ich wäre nach Hause geflogen. Tatsächlich aber reichte mein Geld für ein Ticket nach Deutschland noch nicht.
An einem Wochenende, wir hatten ein Auto gemietet, um zu einer Familienfeier zu fahren und uns auf dem Weh dorthin fürchterlich gestritten, ließ ich sie mit dem Auto stehen, fuhr mit der Bahn nach Hause und packte meine Sachen. Ich rief ihre Mutter an und erzählte ihr, dass ihre Tochter süchtig sei, und sagte ihr, Stacey würde bald ihre Hilfe brauchen. Dann fuhr ich für zwei Wochen in die Berge und zog anschließend in eine andere Gegend der Stadt und arbeitete so lange, bis ich das Geld für die Heimreise zusammen hatte.
Später, als ich in Deutschland gemeldet war, bekam ich Post von einer Inkassokanzlei aus London. Der Mietwagen, mit dem ich Stacey damals zurückgelassen hatte, wurde nie abgegeben, sondern er wurde erst Wochen später am Rande des Freeway zwischen Oakland und Berkeley gefunden, mit zerschlagenen Scheiben, von Kugeln durchlöchert, mit dem Auto soll vorher ein Drive-by-Shooting begangen worden sein. Ich rief bei der Kanzlei an, worauf die sich nie wieder bei mir meldete. Das war für mich das Ende der Geschichte.
Stacey hatte wohl den Wagen verkauft und sich mit dem Geld über die ersten Wochen gerettet. Meinen Freunden hat sie nie etwas getan. Ihre Mutter reagierte, wie sie schlimmer nicht hätte reagieren können, sie verstieß ihre Tochter. Stacey blieb auf unserem Boot wohnen, verlor ihren Job, fing irgendwann an, ihren Körper für Drogen zu verkaufen. Das erzählen mir Freunde, die auch auf dem Pier wohnten.
Ein, zwei Jahre später kam sie langsam zu sich. Sie lernte einen Zahnarzt kennen, und bekam mit ihm einen Sohn. Mit diesem Sohn lebt sie heute in Walnut Creek, allein. Ich weiß das, weil ich sie neulich im Internet gefunden habe. Ich glaube, sie raucht immer noch.
*Name geändert