Elend de luxe – Heime in den 70-er Jahren

Kinderheim Foto: Herrmann/Bonifatiuswerk

In Schulzeiten ärgerte mich mein Geburtstag, so kurz vor Silvester. Nicht, weil ich nie in den Genuss der üblichen Hausaufgabenbefreiung kam – weil ich sportlich untalentiert war, aber für diese Siegerurkunde bei den Bundesjugendspielen immer ein paar Zentimeter weiter springen und ein paar Sekunden schneller laufen sollte als mein Banknachbar, knapp 14 Tage jünger als ich. Als Versager baut man sich seine Ausreden zurecht.

Als gestern der Runde Tisch Heimerziehung seine Ergebnisse vorstellte, freute ich mich fast. Wäre ich nur zwei Jahre früher ins Heim gekommen, könnte ich mich jetzt in die Schlange stellen, um die jämmerliche Rente oder Entschädigung zu kassieren. Aber der 31.12.1975 ist Stichtag für Ansprüche aus Misshandlungen in staatlicher und kirchlicher Obhut. Ganz ehrlich, ich fühle mich nicht benachteiligt. Ich kam 1977 ins Heim, ich wurde nicht geschlagen, in Keller gesperrt, vom Bauern in der Nachbarschaft als Zwangsarbeiter missbraucht, und einen Erzieherschwanz habe ich auch nie in der Hand gehabt. Was man Kindern in den 70-er Jahren in Heimen antat, war nicht böse oder individuellem Fehlverhalten des Personals geschuldet, war kaum sichtbar und tat nicht weh. Es war systembedingt, zwangsläufig, Ergebnis  ordentlicher Verwaltungsakte.

Unser Heim, eine städtische Einrichtung am Rande des Ruhrgebiets,  hatte nichts zu tun mit den pädagogischen Strafanstalten der 50-er und 60-er Jahre, deren Insassen vor allem eines vorgeworfen werden konnte: Sie hatten sich zur falschen Zeit die falschen Eltern ausgesucht.  Auch wenn solche Einrichtungen nicht im düsteren Gewölbe des gesellschaftlich Verdrängten existieren, sondern immer auch den Common Sense vertreten, waren sie besonders perfide. Kein Kind war freiwillig dort, war aber dem Staat oder seinen subsidiären Einrichtungen schutzlos ausgeliefert. Wie man seit den Horrorgeschichten aus dem Dortmunder Vinzenzheim nicht mehr leugnen kann, war es damit auch vollkommen recht- und würdelos.

Ich ertrage die Erzählungen kaum. Vor zwei Jahren, nachts im Winter auf einer Heimfahrt, lief im Radio der Bericht eines ehemaligen Heimkindes. Das Mädchen bot als Zwölfjährige dem Heimpfarrer an, er könne doch sie missbrauchen, wenn er im Gegenzug dafür von ihrem fünfjährigen Bruder abließe. Ich kam an dem Abend eine halbe Stunde später nach Hause.

Das moderne, demokratische Heim der 70-er Jahre war dagegen ein lichtdurchfluteter Freizeitpark. Im schmalen Bücherschrank neben dem prächtigen Aquarium (Hobby des Sozialpädagogen) standen Werke wie „Studien zur politischen Ökonomie“ und „Fürsorgeerziehung im Kapitalismus“. Die 68-er mussten also hier schon durchgegangen sein. Als ich das erste Mal ein Buch ausleihen wollte, musste der Erzieher erst eine Viertelstunde nach dem Schlüssel für den Schrank suchen.

Der Röttgershof war ein reines Jungenwohnheim, die nie mehr als 20 Bewohner waren zwischen 15 und 19 Jahre alt, hatten die übliche Karriere hinter sich. Man kann die Elemente beliebig zusammensetzen. Desaströses Elternhaus, runtergekommenes Kinderheim, Pflegefamilie, kurzzeitige Rückkehr zu den Eltern, Jugendknast, Psychiatrie, Sonderschule, Bahnhofstrich, BTM, abgebrochene Ausbildung. Wie es sich für solche Einrichtungen gehörte, war das Heim am Rande der Stadt versteckt, nur mühselig zu erreichen. Nebenbei betrieb man dort eine Jugendbildungsstätte, die für uns aber  im Mittelpunkt stand. Die Gäste bekamen alles, das bessere Essen, wenn es eng wurde, auch einmal unseren Fernsehraum und jeden Wunsch erfüllt. Die Seminarteilnehmer brachten Auslastung, Belegzahlen, Erfolge, die man im Jugendamt wohlig schnurrend zur Kenntnis nahm.

Das Elend des Heims war luxuriös. Wir hatten ein Fotolabor mit zehn Leitz Focomaten, mein Zimmer wurde zweimal die Woche gereinigt, alle drei Monate kam sogar der Fensterputzer, die Wäsche musste nur noch sauber, gebügelt und notfalls geflickt aus dem Keller geholt werden. Wenn wir mal Lust hatten auf ein Zappa-Konzert in der Westfalenhalle, organisierte ein Erzieher Eintrittskarten und Bulli. Nebenbei fand er Zappa auch klasse und konnte sich den Auftritt bei freiem Eintritt während der Arbeitszeit angucken. Nach 22 Uhr bekam er dafür sogar noch Nachtzuschlag.

Die Rundumversorgung führte dazu, dass der Laden reibungslos lief, die später Entlassenen aber unfähig waren, mehr als eine Dose Ravioli zu erwärmen. Mein Vorschlag, einen Kochkurs einzurichten, scheiterte im Ansatz. Wozu kochen, wenn es doch dafür Personal gab? Die Frauen in der Küche, auf der untersten Lohnstufe des öffentlichen Dienstes angesiedelt, sahen aus wie Beschäftigte in der LPG Schweinemast und benahmen sich angemessen. Sie bekamen täglich eine außertarifliche Leistung. Sie durften herabsehen auf die männlichen Jugendlichen und sie entsprechend behandeln. Mittags gab es fünf Mal die Woche Bratkartoffeln, zubereitet in einer quadratmetergroßen Industriepfanne. Ließ mal dieses Mahl nur einige Minuten stehen, setzen sich Öllachen auf dem Teller ab, man hätte BP im Golf von Mexiko spielen können. Maden in den seltener gereichten Nudeln gab es nicht, die wurden beim Kochen mit der Kelle abgeschöpft.

Kaffee stand nicht im Bedarfsplan. Eine große elektrische Thermoskanne, sieben Tage rund um die Uhr im Betrieb, nahm die Reste der Gäste auf. Am Wochenende wurde sie gereinigt. Schüttetest du Milch in den Kaffee, verfärbte sich er sich nicht goldbraun, sondern trüb grau. Viele der Jungs schütteten regelmäßig Maaloxan in sich hinein. Andere Sachen, die auch nicht auf dem Plan standen, wurden von den Küchenfrauen in prallen Plastiktüten nach Hause geschleppt. Es gehörte zu den Pflichtübungen, in unregelmäßigen Abständen nachts in die Küche einzubrechen.

Ansonsten kümmerte man sich um die Bewohner so liebevoll, wie es der Dienstvertrag vorsah. Nachdem ich etwa ein Jahr interveniert hatte, bekam jedes Geburtstagskind einen Marmorkuchen, in Folie verschweißt, vermutlich aus der Metro, immer genau den gleichen Kuchen. Die Geburtstage wurden manchmal vergessen, dann musstest du um das Gebäck betteln. Gesungen hat niemand, gratuliert eher aus Versehen.

Man war besorgt. Einmal kam mittags ein Anruf eines Religionslehrers, mein Zimmernachbar Georg habe einen Suizid angekündigt, ob man mal nachschauen könne. Man schaute und teilte dem Anrufer mit, Georg schliefe. Am Abend erschien der Lehrer persönlich, Georg schlief immer noch, war aber mittlerweile blau angelaufen. Ihm wurde der Magen ausgepumpt, über die Angelegenheit nie wieder gesprochen.

Auch mich traf die fürsorgliche Betreuung. Regelmäßig erhielt mein Amtsvormund, den ich nie persönlich zu Gesicht bekam, Entwicklungsberichte. „Martins Grob- und Feinmotorik ist normal ausgeprägt“ stand da drin, „er hält sein Zimmer und seine persönlichen Sachen in Ordnung.“ Da fühlt man sich in seiner Persönlichkeit hinreichend gewürdigt. Mein angestrebtes Abitur wurde in die Erfolgsstatistik aufgenommen, obwohl das Heim weniger dazu beigetragen hat als der Fahrer des Linienbusses, der mich morgens meist pünktlich zur Schule brachte.

Versuche, der Institution zu entkommen, wurden nicht verhindert, sondern ungläubig zur Kenntnis  genommen. Der Pflegesatz betrug rund 2000 Mark pro Monat. Mein pragmatischer Vorschlag: „Gebt mir die Hälfte, und ich ziehe morgen aus!“, passte nicht ins Konzept. Es ging nicht um die Selbständigkeit der Betreuten, sondern um die Existenz der Einrichtung. Die lebte nicht für die Wünsche der Jugendlichen, sondern von einer guten Belegungsquote. Als das Heim schließlich ein Jahr vor meinem Abitur dicht gemacht wurde, erfuhren wir das gerüchteweise aus dem Erzieherbüro, ansonsten aus der Tageszeitung.

Auch der Versuch, der Armut zu entkommen, war schon lange vor Hartz IV verdächtig. Als ich einmal einen Ferienjob annahm, um für das Leben nach dem Heim etwas beiseite zu legen, wollte das Jugendamt den Erlös nahezu komplett kassieren. 50 Mark hätten mir zugestanden, für die Busfahrkarte, ein toller Überschuss, da ich morgens mit dem Fahrrad zur Zeche fuhr, in deren Eisenlager ich schuftete, na ja, tätig war. Die Erzieher waren in diesem Fall top und sorgten dafür, dass ich der Arbeit bezahlt nachgehen durfte.

Meine anschließende Lohnsteuerrückzahlung habe ich jedoch nie gesehen. Die brachte der Postbote. Was ich erst mit einem Nachforschungsauftrag beweisen musste. Die Mitarbeiterin der Verwaltung, die zuvor schon durch hübsche Pelzjacken aufgefallen war, kam dann irgendwann nicht mehr zur Arbeit. Das Geld bekam ich trotzdem nicht, auch vor Gericht musste ich nicht aussagen. Offensichtlich hatte man sich skandalvermeidend gütlich getrennt, die Frau hatte sich ja nicht wirklich was zu Schulden kommen lassen. Dafür erhielt mein Kumpel Thorsten fortan kleine Geldsendungen seines schwulen väterlichen Freundes, ohne dass die Umschläge aufgerissen waren.

Den anderen Jungs wurde Eigenverantwortung systematisch abtrainiert. Wer Glück hatte, bekam eine Lehrstelle als Anstreicher oder Bäcker, meist bei einem Handwerker, der mit der Stadt auch ansonsten gute Geschäfte machte. Wer die Lehre abschloss, galt als König oder Schleimer. Den kurzfristig Denkenden erschloss sich nicht der Sinn des regelmäßigen Frühaufstehens. Wer liegen blieb, wurde dreimal geweckt und anschließend vom Erzieher zur Arbeit gefahren. Wer sich auch dem verweigerte, hatte fünfzig Mark für die Monatskarte weniger, aber ansonsten ein bequemes Leben.

Niemand von uns erwartet neine Entschädigung, es ist ja nichts passiert. Da sind einfach zwei Systeme aufeinander gestoßen. Hier die Sozialverwaltung, die einen reibungslosen Ablauf liebt, da Heranwachsende, die anerkannt werden wollen, respektiert oder geliebt. Das passt halt nicht.

Nach dem Heim hat man sich eingerichtet oder versucht klarzukommen mit dem Gefühl, nie dazu zu gehören.  Man sieht sich kaum. Thorsten hat den Job verloren und trinkt. Er schlägt seine Freundin nicht mehr, seit sie ausgezogen ist. Frank hat den Wechsel von Sozialhilfe auf Hartz IV in einem niedersächsischen Kurort verkraftet, wo er sich ein bisschen was dazu verdient und jedes zweite Wochenende seine Töchter sieht. Peter traf ich mal völlig desorientiert an einem Samstag in der Fußgängerzone, unansprechbar. Am Montag darauf erfuhr ich dann, dass er zu diesem Zeitpunkt schon seine Freundin erwürgt hatte, als sie ihn verlassen wollte. Jahre nach der Haft wurde er in Thailand getötet. Udo hatte im Heim den Sozialpädagogensprech gelernt, pendelte jahrelang erfolgreich zwischen Drogen-, Bewährungs- und Obdachlosenhilfe, ehe er an einer Überdosis starb.

Neulich bei einem putzigen Heimkindertreffen unterhielten wir uns entspannt über dies und das, auch über Bücher. Jugenderinnerungen von Frank Goosen oder Sven Regener versteht keiner so recht. Markus fehlte. Er hatte wegen irgendeiner Streitigkeit ein Haus angezündet, anschließend gesessen und schämte sich wohl. Da ich etwas später kam, verpasste ich Stefan. Man berichtete mir von ihm: „Arme Sau, der ist nach ´nem Unfall im Gesicht total entstellt. Hat aber Schwein gehabt, er sieht es nicht. Er ist ja auch blind seitdem.“  Man versucht halt, irgendwie zurecht zu kommen.

*Namen der Beteiligten geändert

1980 – Die vergessene Rebellion

Klar, die 68er hatten die bessere Presse. Aber das ist kein Grund, nicht an das Jahr 1980 zu erinnern. Dem Jahr der letzten Jugendrevolte.

Die Ausgabe des Stern erschien im April. Auf dem Titel war ein Jugendlicher zu sehen, und im Inneren des Heftes machte man sich daran, den Lesern die Jugend zu erklären: Sie sei fragmentiert, es gäbe dutzende verschiedene Grüppchen: Popper, Punker, Grufties, Alternative und noch viel mehr. Die meisten hätten allerdings eines gemeinsam: Sie seien weitgehend unpolitisch. Von Rebellion keine Spur. Mehr oder weniger gut gestylte Individualisten.

Wie sehr der Stern mit seiner Beurteilung der damaligen Jugend daneben lag, sollte schon wenige Wochen später klar werden. 1980 – das war der Beginn von Jugendunruhen, von militanten Demonstrationen, die sich bis in die Mitte der achtziger Jahre ziehen sollten.

Hausbesetzungen standen im Zentrum des Protestes. Bei vielen dieser Besetzungen ging es um den Erhalt preiswerten Wohnraums – allein in Berlin waren zeitweilig über 100 Häuser besetzt. Aber etliche Besetzungen hatten auch das Ziel, autonome Zentren zu schaffen.  Ob die Besetzungen der Siesmayerstraße und des ehemaligen Bundesbahngeländes Nied in Frankfurt, die Auseinandersetzungen um das Dreisameck in Freiburg, die Bo-Fabrik in Bochum, das Stollwerk in Köln: Viele der Jugendlichen, die damals auf die Straße  gingen, wollten Orte, an denen sie selbst bestimmen konnten, was passiert: Räume zum Arbeiten, Räume für Kultur und Räume zum leben.

Oft folgten den Räumungen der besetzten Häuser gewalttätige Auseinandersetzungen. Das, was sich Anfang der 80er Jahre bei Demonstrationen abspielte, ging an Härte weit über das hinaus, was ein gutes Jahrzehnt vorher Ende der 60er Jahre passierte: Die Jugendrevolte von 1980 war auch durch Militanz geprägt und erweiterte das linke Spektrum um eine neue, extrem heterogene Gruppierung: Die Autonomen. Als sich am 1. Mai 1980 der erste „Schwarze Block“ am Merianplatz in Frankfurt zusammenfand, um als Anarchisten-Block neben den Blöcken von ÖTV, IG-Metall oder SPD an den offiziellen 1. Mai Demos teilzunehmen – und später versuchen sollte ein Haus zu besetzen – gewann eine bis heute anhaltende Eigendynamik: Der Schwarze Block, damals noch in Anführungszeichen geschrieben und durchaus ironisch bezeichnet, wurde zum Synonym für Militanz.

Doch die Auseinandersetzungen um die Häuser und Zentren waren nicht die einzigen Protestgründe: Am 6. Mai kam es beim Rekrutengelöbnis in Bremen zu schweren Straßenschlachten. Sven Regener hat die Atmosphäre der damaligen Zeit in seinem Bremen-Roman „Neue Vahr Süd“ beschrieben. Als am 4. Juni die „Republik Freies Wendland“ in Gorleben geräumt wurde, kam es zu Protesten in ganz Deutschland. Brockdorf, die Startbahn West, Wackersdorf und Kalkar – Anfang der 80er Jahre gab es viele Anlässe, auf die Straße zu gehen.

Die Jugendproteste der frühen 80er waren kein deutsches Phänomen: Hausbesetzungen hab es auch in England und Holland. Der Soundtrack zur Krönungszeremonie von Beatrix am 30. April 1980 war der Lärm der vor der Kirche tobenden Straßenschlacht. Zürich war ein weiteres Zentrum des Protests. „Züri brännt“ ein Slogan, den damals jeder kannte.

Der Spiegel beschrieb 1980 die Bewegung recht treffend:

„Im Akt der Verneinung erleben sie alle, was sie als Freiheit empfinden: einen neuen, alternativ zu gestaltenden Handlungsspielraum, wobei „alternativ“ mal die Gegengewalt zur Staatsmacht miteinschließt, ein andermal nur die Verweigerung gegenüber Bürokratie und Institutionen meint — oder aber zweideutig bleibt nach Art des subversiv denkenden Mescalero, der zum Niedergang der Instanzen nur soviel äußert: klammheimliche Freude.“

Doch warum kam es soweit? Wieso entlud sich Jugendgewalt Anfang der 80er Jahre nahezu eruptiv? In den späten 70er Jahre herrschet in Deutschland eine nahezu paranoide Stimmung: Polizisten kontrollierten Autos mit der Maschinenpistole im Anschlag. Eine Folge des RAF-Terrors. Ebenso wie der immer weiter ausgebaute Überwachungsstaat. Dazu kamen der wirtschaftlicher Niedergang und die zunehmende Angst vor der Atomkraft, die damals noch massiv ausgebaut wurde. Diese paranoide und bedrückende Stimmung entlud   sich den Auseinandersetzungen ab 1980. Die Militanz wurde von vielen als die Rückeroberung persönlicher Freiräume gesehen. Heute erscheint das merkwürdig, damals entsprach es dem Lebensgefühl vieler Jugendlicher.

Die Unruhen zogen sich lange hin: 1983 wurde in Krefeld die Wagenkolonne des damaligen US-Vizepräsidenten Georg Bush angriffen. Die Hälfte aller an der Aktion Beteiligten verbrachte den Abend wahlweise in Haft oder im Krankenhaus. Und natürlich die bereits kurz erwähnte Startbahn West bei Frankfurt: Jede Woche entzündete sich der Protest am Bauzaun und legte sich erst, nachdem die Startbahn 1984 in Betrieb ging.

Es gäbe noch viele Geschichten zu erzählen: Die vom Heusnerviertel in Bochum, die vom Frankfurter CDU-OB Walter Wallmann, der während seiner ganzen Amtszeit immer auf eine Politik der harten Hand gegen Hausbesetzer setzte – und sie von verschiedenen sozialdemokratischen Polizeipräsidenten exekutieren lies. Oder die eines heutigen Linkspartei-Bundestagsabgeordneten, der verhindern wollte, dass  am 16. Juni bei Rock gegen Rechts in Frankfurt Hausbesetzer einen Solidaritätsaufruf verlasen. Er konnte überzeugt werden, das lieber zu lassen.

Heute ist die Jugendrevolte der frühen 80er Jahre fast vergessen. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Ihre Mitglieder waren nicht so publikationsfreudig wie die 68er. Bücher wie „Kursbuch 65 – der große Bruch – Revolte 81“ blieben eine Ausnahme. Und dann war da noch die bald an Bedeutung gewinnende Friedensbewegung: Die Macht der großen Zahl, die Millionen auf den Latschdemos, der betroffenen Böll und BAP prägen bis heute das Bild dieser Zeit. Ihr Protest überlagert die Wahrnehmung auf diese Jugendbewegung. Diese Jugendbewegung war zutiefst antiautoritär, hatte keine Idole und keine Führer. Nichts, was sich medial präsentieren konnte. Sicher auch ein Grund, warum sich kaum jemand an sie erinnert.

Was blieb? In ganz Deutschland gibt es bis heute zahlreiche soziokulturelle Zentren, die ihren Ursprung in diesen Jahren hatten. Im Ruhrgebiet zum Beispiel der Bahnhof Langendreer und in Berlin die 1979 besetzte UFA-Fabrik. Auch die Hafenstraße in Hamburg hat in dieser Zeit ihre Wurzeln.

Was auch in dieser Phase begraben wurde, waren die K-Gruppen, die noch in den späten 70er Jahren das Bild der  Linken in Deutschland prägten. Punk Attitude traf auf Politik und begrub das linke Spießertum der 70er.   Die Autonomen entstanden, das Vermummungsverbot kam, und für ein paar Jahre gehörte die schwarze Lederjacke zur Demo-Ausstattung. Man kaufte sie damals in Amsterdam auf dem Flohmarkt , und die meisten der Jacken hatten schon Patina angesetzt. Es sollte lange dauern, bis sie durch Jack-Wolfskin Jacken ersetzt wurden. Nicht unbedingt ein ästhetischer Fortschritt.

Die unglaubliche Geschichte der Neda Soltani – vom Versagen der Medien und der „Social Networks“

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Mir gegenüber sitzt die Todgesagte. Sie redet, sie lacht, manchmal merke ich, dass sie Angst hat. Neda Soltani musste flüchten, sie hat ihre Heimat verlassen. Sie sagt, hier in diesem Kaff bei Frankfurt am Main sei alles anders. Schnee, Frost, Regen und kalte Straßen mit kalten Gesichtern. Ein fremdes Land für die jungen Frau.

Das Bild von Neda Soltani kennt fast jeder auf dieser Welt. Es kam über die Sender, das Internet und die Zeitung in so gut wie jedes Haus als das Bild einer Toten. Dieses bekannte Portrait zeigt eine junge, vorsichtig geschminkte Frau mit braunen Augen. Der im Iran gesetzlich vorgeschriebenen Schleier ist eine Handbreit zurückgeschoben. Man sieht den Ansatz ihres kräftigen Haares. Sie lächelt, ein wenig weich, ein wenig unschuldig, freundlich.

Hier und jetzt, in einem Cafe irgendwo in der Nähe von Frankfurt ist das Gesicht von Neda Soltani härter geworden. Sie trägt keinen Schleier mehr. Man sieht graue Strähnen, die größer werden an ihrer Stirn. Es war nur ein Missverständnis, sagt sie. Ein Fehler. Ein Irrtum mit schrecklichen Folgen. Neda Soltani geriet in den Tumulten nach den gefälschten Wahlen im Iran zwischen die Fronten, wurde gehetzt, gejagt und musste flüchten. Ihr altes Leben zerbrach wie ein Spiegel. Ihr Foto, das Bild mit dem weichen Lächeln das um die Welt ging, wurde ihr entrissen.

Bis vor einem halben Jahr hat Neda Soltani in Teheran gelebt. Sie unterrichtete dort englische Literatur. Sie kann sich in der fremden Sprache fließend ausdrücken, gewählt und intelligent. Im Sommer erst hatte sie eine Arbeit über die weibliche Symbolik im Werk von Joseph Conrad abgeschlossen. An den Protesten im Iran konnte sie deswegen nicht teilnehmen. Sie musste im Juni Korrektur lesen. „Mein Ziel war es, irgendwann eine Professur anzustreben, wenn ich gut genug dafür gewesen wäre.“

Ihre Eltern gehören der iranischen Mittelschicht an. Wo genau sie herkommt und was ihre Familie macht, will sie nicht sagen. Sie hat Angst. Sie erkennt Probleme. Sie weiß, dass nicht alles richtig läuft. Aber sie war vor allem fleißig, wenn es darum ging, zu lernen. Eine Akademikerin. „Ich habe über zehn Jahre hart gearbeitet, um mir die Position als Dozentin an der Universität zu sichern. Ich habe Geld verdient, ich bin mit Freunden ausgegangen und ich habe Spaß gehabt.“ Heute hat sie davon nichts mehr. Keine Arbeit, kein Geld und keine Freunde zum Ausgehen. Neda Soltani ist jetzt 32 Jahre alt.

Die Geschichte ihres Fotos beginnt am 20. Juni 2009. Damals wurde in der Nähe der Kargar Avenue in Teheran gegen 19:00 Uhr Ortszeit eine junge Frau niedergeschossen. Sie fiel auf den Rücken, aus ihrem Mund lief Blut. Dabei starrte sie in eine Handykamera, verletzt, voller Angst, wehrlos. Sie starb wenig später auf dem Weg ins Hospital. Die Bilder der sterbenden Frau wurden auf Youtube hochgeladen.

Alarmiert durch Blogger und Twitter stoßen bald große Sender auf das Sterben der Frau. Redakteure versuchen sie zu identifizieren. In Zeitnot suchen sie Bilder der Toten. Ihr Vorname, Neda, war im Video zu hören. Schnell kommt über das Netz ein Nachname: Soltan, Studentin der Islamic Azad Universität in Teheran. Irgendwer sucht mit diesen Daten bei Facebook.

Hier unterhält auch Neda Soltani eine Seite. Öffentlich zugänglich ist hier nicht viel. Neda Soltani hat ihre Inhalte allein für Freunde freigegeben. In ihrem Profil stand allerdings ein Foto, das damals jeder sehen konnte.

Wer als erster auf ihre Seite im internationalen Portal für Studenten, Manager und Hausfrauen stieß, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Genauso wenig ist klar, wer den Fehler machte und die ermordete Neda Soltan (auf dem Foto links) mit Neda Soltani (auf dem Foto rechts) verwechselte.


Auf jeden Fall kopiert irgendwer das Foto der Lebenden in der Nacht auf den 21. Juni 2009 aus deren Facebook-Profil. Es wird über die sozialen Netzwerke, über Blogs und Portale gestreut. Dann wird es über CNN, BBC, CBS, ZDF, ARD und fast jeden anderen denkbaren Sender gesendet. Es wird gedruckt in den Zeitungen und Magazinen dutzender Länder. Es passiert gleichzeitig, es passiert weltweit.

Das Foto der jungen Frau wurde so zum Symbol des Freiheitskampfes am persischen Golf. Auf Demonstrationen trugen die wütenden Menschen das Abbild der vermeidlichen Märtyrerin vor sich her. Sie trugen es auf ihren T-Shirts und bauten ihm Altäre. Sie riefen: „Engel des Iran“.

Wie konnte es zu dem verwechselten Foto kommen? Soltani ist ein gewöhnlicher Name im Iran. Wie Meyer oder Müller vielleicht. Auch Neda ist nicht ungewöhnlich. Man könnte ihn mit Sonja oder Sandra vergleichen. Die Ermordete studierte an der privaten Islamic Azad Universität, die lebende Neda Soltani war dort Dozentin. Doch hätten die Medien nicht besser prüfen müssen, wessen Foto sie benutzen, anstatt es einfach von einer Facebook-Seite zu kopieren und weltweit zu verbreiten? Es gab Zeitdruck, das ja, aber es gab zumindest eine Sache, die hätte stutzig machen müssen. Die Tote hieß mit vollem Namen Neda Agha-Soltan. Die Lebende wird einfach Neda Soltani genannt.

Am Morgen des 21. Juni 2009, einen Tag nach dem Todesschuss, wunderte sich Neda Soltani. Immer mehr Menschen wollten sich auf ihrer Facebook-Seite registrieren, als angebliche Freunde. Hunderte waren das, aus aller Welt. Es hörte nicht auf. Es kamen Anrufe. Ein befreundeter Professor brach in Tränen aus, als er ihre Stimme hörte.

Zunächst ein schlechter Witz, dachte Neda Soltani. Etwas, das mit zwei, drei Anrufen aus der Welt zu schaffen ist. Ein Fehler halt, wie er nicht passieren darf, aber passieren kann. Sie fing an zu schreiben. Sie schrieb, dass sie leben würde. Sie schrieb an den im Iran populären Sender Voice of America. Sie schrieb, dass es ein Irrtum sei. Dass sie das falsche Foto hätten. Als Beweis schickte Neda Soltani ein weiteres Foto von sich. Und schrieb: Die Redaktion könne ja vergleichen. Das sei auch sie. Neda Soltani hat nicht damit gerechnet, was dann passierte.

Voice of America verbreitete nun dieses zweite Foto als neues Bild der verstorbenen Neda und CBS griff es auf. Neda Soltani bekam Angst. Alles was sie tat, um ihr Bild zurück zu gewinnen, schien nutzlos.

Sie löschte das Foto auf ihrer Facebook-Seite. Damit es niemand mehr runterladen kann. Der nächste Stein kam ins Rollen. Zensur wähnend, wurde ihr Foto kopiert, dutzende, hunderte Facebook-Seiten auf aller Welt spiegelten ihr Bild. Es wurde in Blogs fixiert und bei Twitter versandt.

Es war, als sei ihre eigene Identität aus dem Foto gelöscht und stattdessen mit den Sehnsüchten tausender Menschen aufgeladen. Das lächelnde Gesicht der Tod Geglaubten gerann zur Ikone eines unschuldigen Opfers im Freiheitskampf.

Es half auch nichts, dass spätestens seit dem 23. Juni 2009 authentische Fotos der toten Neda Agha-Soltan frei und für jeden verfügbar waren, deren Eltern hatten sie herausgegeben. Das Bild von Neda Soltani wurde trotzdem weiter verbreitet.

Freunde von Neda Soltani versuchten, in Foren den Fehler richtig zu stellen. Eine Vertraute wurde deswegen beschimpft. „Du Bastard, Du wirst uns den Engel des Iran nicht nehmen.“ Es ist, als könne der einmal geglaubte Irrtum nicht mehr berichtigt werden.

Die Geschichte ist nicht nur die Geschichte des Versagens der traditionellen Redaktionen in hektischen Nachrichtenzeiten. Diese Geschichte beschreibt auch das Versagen der sozialen Medien. Die Masse hat im Netz nicht nur die Macht, Lügen zu entlarven. Die Masse kann auch eigene Wahrheiten erschaffen und verteidigen. Egal wie falsch die sind. Nur sehr wenige Blogs berichteten über den Fehler. Keiner wurde so ernst genommen, dass er die Macht gehabt hätte, den Irrtum zu korrigieren.

Irgendwann wurde Neda Soltani klar, dass etwas gewaltig aus dem Ruder läuft. Nur wenige Journalisten schrieben sie über ihre Facebook-Seite an und fragten nach ihrer Identität. Keiner von ihnen konnte oder wollte die Welle stoppen.

Neda Soltani geriet im Iran unter Druck. Sie wurde bedroht. Sie hat Angst um ihre Familie, deswegen kann und will sie nicht sagen, was genau vorgefallen ist. Nur soviel ist klar: Der Fehler mit ihrem Foto sollte gegen die Opposition gewandt, die Menschen auf der Straße als Instrumente westlicher Fälscher entlarvt werden – mit aller Gewalt. Es kamen schlimme Vorwürfe, die den Tod bringen können. Neda Soltani wurde krank. Panikattacken und hilflose Angst.

Sie konnte nicht mehr bleiben. Sie musste aus dem Iran verschwinden. Ohne von ihren Eltern Abschied zu nehmen, floh sie am 2. Juli 2009 in den Westen. Ihre Ersparnisse bekamen Fluchthelfer. Mit nichts in den Händen als einem Rucksack, einem kleinen Rucksack, ging sie los. Sie floh über Griechenland nach Deutschland. Hier hat sie einen Cousin. In Bochum. Der ist jetzt Ihre Familie.

Am 3. Juli 2009 brachte endlich BBC Online eine Nachricht über die falsche Identität in einer Internet-Wochenschau über soziale Netzwerke. Direkt hinter den Verschwörungstheorien zum Tod von Michael Jackson. BBC Online kommentierte: „Dieser Fall ist ein herausragendes Beispiel für die Gefahren, wenn Massenmedien Bilder aus sozialen Netzwerken im Internet verbreiten.“

Man hätte nun erwarten können, dass es damit ein Ende findet. „Meine Freunde haben mir gesagt, warte noch einen Tag. Dann wird alles gut. Doch es vergingen die Tage und nichts wurde gut“, sagt Neda Soltani.

Das Asylverfahren in Deutschland läuft nun seit Monaten. Neda sagt, sie wollte nie auswandern. Sie war auch noch nie im Westen. Sie sagt, sie hat Heimweh. Sie bekommt vom Deutschen Staat etwa 180 Euro im Monat als Hilfe. Das reicht kaum, um sich von Salaten, Früchten und Broten zu ernähren, so wie sie es gewohnt ist. Sie lebt irgendwo in einem Heim für Flüchtlinge. Ihr Zimmer mit der Nummer 11 ist schmal, zwei Betten, ein Regal. Hier will sie niemanden hineinlassen. Sie sagt, sie will die Monate „im Lager“ so schnell wie möglich vergessen. Sobald sie raus ist, soll sie nichts mehr an das hier erinnern. Die Beschläge der Türen sind mit Gips geflickt. Die Küche für einen ganzen Flur mit zwei dutzend Menschen hat kein Fenster, der Ausguss wackelt auf einem Brettergestell. Auf einem Balkon zum Hof ist eine Satellitenschüssel auf eine abgebrochene Metallstange gespießt. Die Stange steckt in einem vergammelten Sauerkrauteimer mit Sand und Steinen. Improvisiertes Flickwerk für eine Verbindung zur Heimat.

Obwohl das Foto der toten Neda seit Monaten bekannt ist, taucht noch immer das Bild der falschen bei Spiegel-Online auf, in der New York Times oder in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung. Selbst ein Bild der Nachrichtenagentur AFP zirkuliert noch durch die Archive.

Eines ist allen diesen Bildern gemein: Es sind meist Aufnahmen von Fotos. Sie zeigen Menschen, die eine Ikone in die Kamera strecken. Bilder eines falschen Bildes.

Neda Soltani hat lange dazu geschwiegen. Sie hat Boden unter den Füssen gesucht, sich gesammelt.

Als CNN im November einen Bericht zum Iran brachte, war der wieder mit dem Foto von Neda Soltani illustriert. Sie schrieb den Sender an und bat darum, ihr Bild zu löschen.

Als Antwort erhielt sie eine automatische Email, die um Verständnis bat, dass nicht alle Hinweise persönlich beantwortet werden könnten. Unterzeichnet war das Schreiben mit „CNN, The Most Trusted Name In News“.

Das Bild gehört nicht mehr ihr. Es gehört CNN und den anderen.

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Diese Geschichte erschien auch im SZ-Magazin.