In Schulzeiten ärgerte mich mein Geburtstag, so kurz vor Silvester. Nicht, weil ich nie in den Genuss der üblichen Hausaufgabenbefreiung kam – weil ich sportlich untalentiert war, aber für diese Siegerurkunde bei den Bundesjugendspielen immer ein paar Zentimeter weiter springen und ein paar Sekunden schneller laufen sollte als mein Banknachbar, knapp 14 Tage jünger als ich. Als Versager baut man sich seine Ausreden zurecht.
Als gestern der Runde Tisch Heimerziehung seine Ergebnisse vorstellte, freute ich mich fast. Wäre ich nur zwei Jahre früher ins Heim gekommen, könnte ich mich jetzt in die Schlange stellen, um die jämmerliche Rente oder Entschädigung zu kassieren. Aber der 31.12.1975 ist Stichtag für Ansprüche aus Misshandlungen in staatlicher und kirchlicher Obhut. Ganz ehrlich, ich fühle mich nicht benachteiligt. Ich kam 1977 ins Heim, ich wurde nicht geschlagen, in Keller gesperrt, vom Bauern in der Nachbarschaft als Zwangsarbeiter missbraucht, und einen Erzieherschwanz habe ich auch nie in der Hand gehabt. Was man Kindern in den 70-er Jahren in Heimen antat, war nicht böse oder individuellem Fehlverhalten des Personals geschuldet, war kaum sichtbar und tat nicht weh. Es war systembedingt, zwangsläufig, Ergebnis ordentlicher Verwaltungsakte.
Unser Heim, eine städtische Einrichtung am Rande des Ruhrgebiets, hatte nichts zu tun mit den pädagogischen Strafanstalten der 50-er und 60-er Jahre, deren Insassen vor allem eines vorgeworfen werden konnte: Sie hatten sich zur falschen Zeit die falschen Eltern ausgesucht. Auch wenn solche Einrichtungen nicht im düsteren Gewölbe des gesellschaftlich Verdrängten existieren, sondern immer auch den Common Sense vertreten, waren sie besonders perfide. Kein Kind war freiwillig dort, war aber dem Staat oder seinen subsidiären Einrichtungen schutzlos ausgeliefert. Wie man seit den Horrorgeschichten aus dem Dortmunder Vinzenzheim nicht mehr leugnen kann, war es damit auch vollkommen recht- und würdelos.
Ich ertrage die Erzählungen kaum. Vor zwei Jahren, nachts im Winter auf einer Heimfahrt, lief im Radio der Bericht eines ehemaligen Heimkindes. Das Mädchen bot als Zwölfjährige dem Heimpfarrer an, er könne doch sie missbrauchen, wenn er im Gegenzug dafür von ihrem fünfjährigen Bruder abließe. Ich kam an dem Abend eine halbe Stunde später nach Hause.
Das moderne, demokratische Heim der 70-er Jahre war dagegen ein lichtdurchfluteter Freizeitpark. Im schmalen Bücherschrank neben dem prächtigen Aquarium (Hobby des Sozialpädagogen) standen Werke wie „Studien zur politischen Ökonomie“ und „Fürsorgeerziehung im Kapitalismus“. Die 68-er mussten also hier schon durchgegangen sein. Als ich das erste Mal ein Buch ausleihen wollte, musste der Erzieher erst eine Viertelstunde nach dem Schlüssel für den Schrank suchen.
Der Röttgershof war ein reines Jungenwohnheim, die nie mehr als 20 Bewohner waren zwischen 15 und 19 Jahre alt, hatten die übliche Karriere hinter sich. Man kann die Elemente beliebig zusammensetzen. Desaströses Elternhaus, runtergekommenes Kinderheim, Pflegefamilie, kurzzeitige Rückkehr zu den Eltern, Jugendknast, Psychiatrie, Sonderschule, Bahnhofstrich, BTM, abgebrochene Ausbildung. Wie es sich für solche Einrichtungen gehörte, war das Heim am Rande der Stadt versteckt, nur mühselig zu erreichen. Nebenbei betrieb man dort eine Jugendbildungsstätte, die für uns aber im Mittelpunkt stand. Die Gäste bekamen alles, das bessere Essen, wenn es eng wurde, auch einmal unseren Fernsehraum und jeden Wunsch erfüllt. Die Seminarteilnehmer brachten Auslastung, Belegzahlen, Erfolge, die man im Jugendamt wohlig schnurrend zur Kenntnis nahm.
Das Elend des Heims war luxuriös. Wir hatten ein Fotolabor mit zehn Leitz Focomaten, mein Zimmer wurde zweimal die Woche gereinigt, alle drei Monate kam sogar der Fensterputzer, die Wäsche musste nur noch sauber, gebügelt und notfalls geflickt aus dem Keller geholt werden. Wenn wir mal Lust hatten auf ein Zappa-Konzert in der Westfalenhalle, organisierte ein Erzieher Eintrittskarten und Bulli. Nebenbei fand er Zappa auch klasse und konnte sich den Auftritt bei freiem Eintritt während der Arbeitszeit angucken. Nach 22 Uhr bekam er dafür sogar noch Nachtzuschlag.
Die Rundumversorgung führte dazu, dass der Laden reibungslos lief, die später Entlassenen aber unfähig waren, mehr als eine Dose Ravioli zu erwärmen. Mein Vorschlag, einen Kochkurs einzurichten, scheiterte im Ansatz. Wozu kochen, wenn es doch dafür Personal gab? Die Frauen in der Küche, auf der untersten Lohnstufe des öffentlichen Dienstes angesiedelt, sahen aus wie Beschäftigte in der LPG Schweinemast und benahmen sich angemessen. Sie bekamen täglich eine außertarifliche Leistung. Sie durften herabsehen auf die männlichen Jugendlichen und sie entsprechend behandeln. Mittags gab es fünf Mal die Woche Bratkartoffeln, zubereitet in einer quadratmetergroßen Industriepfanne. Ließ mal dieses Mahl nur einige Minuten stehen, setzen sich Öllachen auf dem Teller ab, man hätte BP im Golf von Mexiko spielen können. Maden in den seltener gereichten Nudeln gab es nicht, die wurden beim Kochen mit der Kelle abgeschöpft.
Kaffee stand nicht im Bedarfsplan. Eine große elektrische Thermoskanne, sieben Tage rund um die Uhr im Betrieb, nahm die Reste der Gäste auf. Am Wochenende wurde sie gereinigt. Schüttetest du Milch in den Kaffee, verfärbte sich er sich nicht goldbraun, sondern trüb grau. Viele der Jungs schütteten regelmäßig Maaloxan in sich hinein. Andere Sachen, die auch nicht auf dem Plan standen, wurden von den Küchenfrauen in prallen Plastiktüten nach Hause geschleppt. Es gehörte zu den Pflichtübungen, in unregelmäßigen Abständen nachts in die Küche einzubrechen.
Ansonsten kümmerte man sich um die Bewohner so liebevoll, wie es der Dienstvertrag vorsah. Nachdem ich etwa ein Jahr interveniert hatte, bekam jedes Geburtstagskind einen Marmorkuchen, in Folie verschweißt, vermutlich aus der Metro, immer genau den gleichen Kuchen. Die Geburtstage wurden manchmal vergessen, dann musstest du um das Gebäck betteln. Gesungen hat niemand, gratuliert eher aus Versehen.
Man war besorgt. Einmal kam mittags ein Anruf eines Religionslehrers, mein Zimmernachbar Georg habe einen Suizid angekündigt, ob man mal nachschauen könne. Man schaute und teilte dem Anrufer mit, Georg schliefe. Am Abend erschien der Lehrer persönlich, Georg schlief immer noch, war aber mittlerweile blau angelaufen. Ihm wurde der Magen ausgepumpt, über die Angelegenheit nie wieder gesprochen.
Auch mich traf die fürsorgliche Betreuung. Regelmäßig erhielt mein Amtsvormund, den ich nie persönlich zu Gesicht bekam, Entwicklungsberichte. „Martins Grob- und Feinmotorik ist normal ausgeprägt“ stand da drin, „er hält sein Zimmer und seine persönlichen Sachen in Ordnung.“ Da fühlt man sich in seiner Persönlichkeit hinreichend gewürdigt. Mein angestrebtes Abitur wurde in die Erfolgsstatistik aufgenommen, obwohl das Heim weniger dazu beigetragen hat als der Fahrer des Linienbusses, der mich morgens meist pünktlich zur Schule brachte.
Versuche, der Institution zu entkommen, wurden nicht verhindert, sondern ungläubig zur Kenntnis genommen. Der Pflegesatz betrug rund 2000 Mark pro Monat. Mein pragmatischer Vorschlag: „Gebt mir die Hälfte, und ich ziehe morgen aus!“, passte nicht ins Konzept. Es ging nicht um die Selbständigkeit der Betreuten, sondern um die Existenz der Einrichtung. Die lebte nicht für die Wünsche der Jugendlichen, sondern von einer guten Belegungsquote. Als das Heim schließlich ein Jahr vor meinem Abitur dicht gemacht wurde, erfuhren wir das gerüchteweise aus dem Erzieherbüro, ansonsten aus der Tageszeitung.
Auch der Versuch, der Armut zu entkommen, war schon lange vor Hartz IV verdächtig. Als ich einmal einen Ferienjob annahm, um für das Leben nach dem Heim etwas beiseite zu legen, wollte das Jugendamt den Erlös nahezu komplett kassieren. 50 Mark hätten mir zugestanden, für die Busfahrkarte, ein toller Überschuss, da ich morgens mit dem Fahrrad zur Zeche fuhr, in deren Eisenlager ich schuftete, na ja, tätig war. Die Erzieher waren in diesem Fall top und sorgten dafür, dass ich der Arbeit bezahlt nachgehen durfte.
Meine anschließende Lohnsteuerrückzahlung habe ich jedoch nie gesehen. Die brachte der Postbote. Was ich erst mit einem Nachforschungsauftrag beweisen musste. Die Mitarbeiterin der Verwaltung, die zuvor schon durch hübsche Pelzjacken aufgefallen war, kam dann irgendwann nicht mehr zur Arbeit. Das Geld bekam ich trotzdem nicht, auch vor Gericht musste ich nicht aussagen. Offensichtlich hatte man sich skandalvermeidend gütlich getrennt, die Frau hatte sich ja nicht wirklich was zu Schulden kommen lassen. Dafür erhielt mein Kumpel Thorsten fortan kleine Geldsendungen seines schwulen väterlichen Freundes, ohne dass die Umschläge aufgerissen waren.
Den anderen Jungs wurde Eigenverantwortung systematisch abtrainiert. Wer Glück hatte, bekam eine Lehrstelle als Anstreicher oder Bäcker, meist bei einem Handwerker, der mit der Stadt auch ansonsten gute Geschäfte machte. Wer die Lehre abschloss, galt als König oder Schleimer. Den kurzfristig Denkenden erschloss sich nicht der Sinn des regelmäßigen Frühaufstehens. Wer liegen blieb, wurde dreimal geweckt und anschließend vom Erzieher zur Arbeit gefahren. Wer sich auch dem verweigerte, hatte fünfzig Mark für die Monatskarte weniger, aber ansonsten ein bequemes Leben.
Niemand von uns erwartet neine Entschädigung, es ist ja nichts passiert. Da sind einfach zwei Systeme aufeinander gestoßen. Hier die Sozialverwaltung, die einen reibungslosen Ablauf liebt, da Heranwachsende, die anerkannt werden wollen, respektiert oder geliebt. Das passt halt nicht.
Nach dem Heim hat man sich eingerichtet oder versucht klarzukommen mit dem Gefühl, nie dazu zu gehören. Man sieht sich kaum. Thorsten hat den Job verloren und trinkt. Er schlägt seine Freundin nicht mehr, seit sie ausgezogen ist. Frank hat den Wechsel von Sozialhilfe auf Hartz IV in einem niedersächsischen Kurort verkraftet, wo er sich ein bisschen was dazu verdient und jedes zweite Wochenende seine Töchter sieht. Peter traf ich mal völlig desorientiert an einem Samstag in der Fußgängerzone, unansprechbar. Am Montag darauf erfuhr ich dann, dass er zu diesem Zeitpunkt schon seine Freundin erwürgt hatte, als sie ihn verlassen wollte. Jahre nach der Haft wurde er in Thailand getötet. Udo hatte im Heim den Sozialpädagogensprech gelernt, pendelte jahrelang erfolgreich zwischen Drogen-, Bewährungs- und Obdachlosenhilfe, ehe er an einer Überdosis starb.
Neulich bei einem putzigen Heimkindertreffen unterhielten wir uns entspannt über dies und das, auch über Bücher. Jugenderinnerungen von Frank Goosen oder Sven Regener versteht keiner so recht. Markus fehlte. Er hatte wegen irgendeiner Streitigkeit ein Haus angezündet, anschließend gesessen und schämte sich wohl. Da ich etwas später kam, verpasste ich Stefan. Man berichtete mir von ihm: „Arme Sau, der ist nach ´nem Unfall im Gesicht total entstellt. Hat aber Schwein gehabt, er sieht es nicht. Er ist ja auch blind seitdem.“ Man versucht halt, irgendwie zurecht zu kommen.
*Namen der Beteiligten geändert