Was sich seit dem Wochenende abspielt, ist für mich ein Lehrstück darüber, wie Meinung gemacht werden kann, wenn man geschickt genug ist. Wie stark Vorurteile und vorgefasste Meinungen sein können, wie sie wirken. Und es zeigt auch, wie Journalismus teilweise funktioniert, wie er zumindest heutzutage funktioniert…
Ich habe hier kommentiert, daß ich das Verhalten der Polizisten für "übertrieben hart" emfunden habe, weil mir "Blauhemd" als sprichwörtlich schmales solches vorgekommen ist. Trotzdem hatte ich schon gestern ein ungutes Gefühl darüber, ob ich vielleicht nicht alles "gesehen" habe, was zu der Situation geführt hat. Heute müsste ich vielleicht sagen, daß ich ein ungutes Gefühl damit habe, daß mir nicht alles gezeigt worden ist.
Gestern kannte ich "Blauhemd" noch nicht, ich lernte ihn im ersten Video als stillen Menschen, Radfahrer, kennen, der unvermittelt und ziemlich rüde von der Polizei angegangen, vermöbelt und festgenommen wird. Heute sind mir insgesammt vier Videos bekannt, die sich mit "Blauhemd" befassen und mein Eindruck ist zumindest der, daß er vieles ist, aber bestimmt nicht still.
Der erste Videonachtrag kam in Form eines Beitrages, den ich im Forum den SPON gefunden hatte (ich muß gestehen, ich lese die Kommentare zu den Artikel dort, meistens jedenfalls…). Dort verlinkte ein Kommentator auf den "Berliner Kurier". Mir ist diese Zeitung absolut unbekannt, komisch fand ich nur, daß sich der nächste Kommentar nicht auf das Video bezog, sondern auf das "standing", welches diese Zeitung zu genießen scheint, aufgrund der Quelle sollte das Material unglaubwürdig sein. Ich erlaube mir darüber kein Urteil. Egal. Ich habe mir das Video angesehen, wartete auf den time-code und sah einen Menschen, diesmal im grauen Hemd, der, bei einer Tempelhof-Demonstration, sein Rad ziemlich offensiv schieben kann, jedemfalls dann, wenn sein Gegenüber eine Frau ist. Egal ob sie Protektoren trägt, hauptsache die Gewichtsklasse stimmt einigermaßen. Unabhängig davon, wie das standing des Berliner Kuriers sein mag, auch in diesem Fall sind die
Bilder eindeutig: "Grauhemd" passiert nicht viel, er wird nach "hinten durchgereicht", die Geschichte für ihn ist durch, aber "Grauhemd" spricht, ruft sogar um Hilfe, bekommt eine Stimme.
Kommentatoren stellten die Frage, ob es sich bei beiden Menschen um ein und dieselbe Person handeln würde, handeln könnte. Ne, das sei jemand anderes, das Alter würde nicht hinkommen und auch nicht die Frisur. Kann alles sein. Mir ging aber die Stimme nicht aus dem Kopf, die ich gehört habe. Merkwürdig fand ich ja schon die Ähnlichkeit von Rucksack und Fahrrad. Zuggeben, ich wohne und lebe ebenfalls in einer Metropole mit ein paar Millionen Einwohnern und der damit einhergehenden Wahrscheinlichkeit, daß es unterschiedliche Menschen gibt, die sowohl die gleiche Frisur tragen, als auch den gleichen Rucksack und auch ein ähnliches Fahrrad fahren, solche Zufälle gibt es immer wieder. Kann alles sein! Ich habe Sattelformen, Rahmenfarben und die Position der Fahrradschelle am Lenker verglichen… ziemlich ähnlich, aber irgendwie kein "Beweis"… blieb die Stimme…
Der zweite Videonachtrag bestand im "zweiten Blickwinkel" der "Angst-Demo-Situation" (irgendwie erinnert dieses episodenhafte langsam an Tarrantino). Man hört plötzlich "Blauhemd" sprechen, rufen, vielleicht sogar brüllen, was auch immer, Fahrrad, Frisur oder Rucksack mögen Zufälle sein… die Stimme nicht!
Blaukraut bleibt Blaukraut und Grauhemd ist Blauhemd!
Dann kam Videonachtrag Nummer vier. Diesmal von SPON aufgenommen (oder zumindest in deren Archiv zu finden), am Rande einer Demonstration in Berlin… Nach wenigen Sekunden hüpft eine Person ins Bild, zwar ohne Fahrrad, aber mit, jedenfalls für mich, unverkennbarer Stimme… alles andere als ruhig, alles andere als defensiv, alles andere als hilflos…
Die sehr lange Vorrede hat einen verdammt kurzen Sinn:
Ursprünglich war "Blauhemd" ein stiller, junger Mann, der ziemlich derbe von der Polizei auf’s Maul bekommt, worüber die Wellen der Empörung hoch schlagen. Prinzipiell sogar zu recht, sollte die Gewalt nicht gerechtfertigt gewesen sein. Im Nachhinein erscheint er zumindest als jemand, der doch vielleicht nicht so hilflos ist… und ich frage mich… ich frage mich, ob die Empörung diese Wellen geschlagen hätte, wären die anderen Videos vorher bekannt gewesen.
Um es klarzustellen, die Wellen wären sicherlich gerechtfertigt gewesen, aber die Höhe wäre vielleicht, wahrscheinlich, eine andere gewesen. Ist es zu Übergriffen gekommen, dann gehören die Beteiligten auf allen Seiten bestraft!