Eine Couch für alle Fälle

Die Idee ist eigentlich ganz einfach. Reiselustige Menschen aus der ganzen Welt vernetzen sich über das Internet und bieten ihr heimisches Sofa kostenlos zum Übernachten an. Im Gegenzug dürfen sie selbst weltweit auf die Couch. „Empfehlen würde ich es jedem und ich habe die besten Reiseerfahrungen damit gemacht. Ich glaube dass die Menschen, die da mitmachen, von Grund auf vertrauenswürdig und offen sind“, sagt Daniela Michalzik. „Es waren auf jeden Fall sehr interessante Leute, die ich da kennengelernt habe“. Die kleine Wohnung der Studentin der Sozialen Arbeit liegt an einer Hauptverkehrsstraße nicht weit von der Bochumer Innenstadt entfernt. Es ist nicht viel Platz zwischen ihrem Schreibtisch und der Küchenzeile, aber die Couch wird für Besucher immer frei gehalten.

Die 23jährige ist seit einem Jahr bei dem Portal angemeldet. Bisher haben Menschen aus Deutschland und Ungarn ihre Couch für ein paar Tage genutzt. Angemeldet hat sie sich wegen einer zweiwöchigen Reise nach Wales mit vier Freundinnen. „Ich habe vorher noch von Deutschland aus ganz viele Leute angeschrieben. Von manchen Orten habe ich dann positive Rückmeldungen bekommen“, erklärt Daniela Michalzik. „Ich habe mit den Leuten dann telefoniert, Treffpunkte ausgemacht und Adressen ausgetauscht“. Die Erfahrungen der Reisegruppe waren in der Regel gut, auch wenn die Gastgeber manchmal etwas seltsame Vorstellungen hatten. In einem Luxusappartment in der Londoner Innenstadt mussten die Damen ihre Ausweise hinterlegen, weil die Couchbesitzer Angst um ihre kostspielige Einrichtung hatten.

Gastgeber-Communities wie Hospitalityclub, Bewelcome oder Couchsurfing verzeichnen beständig ansteigende Teilnehmerzahlen. Der älteste Dienst Hospitality aus dem Jahr 2000 kommt auf etwa 400 000 Nutzer. Couchsurfing ist derzeit der beliebteste Anbieter und hat nach eigenen Angaben weltweit mehr als 900 000 Mitglieder. Jede Woche kommen bis zu 8000 Neuanmeldungen dazu. Der Weg zur Übernachtung erfordert zunächst eine Registrierung auf der entsprechenden Seite. Dort kann man in einer Art Steckbrief ein paar Daten zur eigenen Person eingeben. Hier wird das Alter, das Geschlecht, die Ausbildung und etwas über die eigene Herkunft mitgeteilt. Man sollte sich mit ein paar Worten selbst beschreiben und die eigenen Interessen vorstellen. Ein paar Worte zur Lage der Wohnung, der Verkehrsanbindung und der Umgebung helfen ebenfalls bei der Auswahl. Die meisten Mitglieder veröffentlichen ein paar Fotos auf dem Portal. So gibt es viele Informationen und man kann sich jemanden aussuchen, der gut zu einem passt. In der Regel gibt es auch ein Bild der Couch, so dass die Surfer eine Vorstellung von ihrem Schlafplatz haben.

Die meisten Übernachtungen werden in Deutschland in Berlin und in Hamburg angeboten. In der Hauptstadt gibt es 6600 Schlafplätze und an der Alster immerhin noch 2400. In Nordrhein Westfalen liegen Köln und Bochum mit jeweils 301 freien Schlafplätzen bei den Angeboten ganz vorne. In Gelsenkirchen gibt es 61 Plätze und in Korschenbroich finden sich noch sieben Couchsurfer. Für viele Nutzer der Portale geht es nicht nur um eine Schlafstelle für ein paar Nächte. Sie sehen in dieser Form der weltweiten Mobilität eine andere Lebensart. Ein Vorteil dieser Art zu Reisen ist auf jeden Fall, dass man sofort Anschluss bekommt. „Es ist komplett etwas anderes, denn es ist kein Urlaub sondern eher eine besondere Einstellung“, sagt Ania aus Essen, die gerade an ihrer Doktorarbeit in Biologie arbeitet. „Man taucht in den Alltag der Menschen ein und ich fand es besonders toll auf den kanarischen Inseln. Wir sind mit dem Gastgeber an den Strand gegangen und haben seine Freunde kennengelernt“. Die 28jährige war bisher in Belgien, Deutschland, Großbritannien, Polen und in Spanien als Couchsurfer unterwegs. Die meisten Teilnehmer sind nicht älter als 35 Jahre. Es gibt aber auch die Möglichkeit sich mit Kindern und Familie auf die Reise zu begeben. Der Betreiber des Portals gibt hierfür ausführliche Tipps und Empfehlungen.

Ob privat oder geschäftlich, immer mehr Menschen pflegen ihre Kontakte mit Hilfe von Internetplattformen, in denen sie Persönlichkeitsprofile anlegen. Diese Social-Networking-Plattformen verlangen von ihren Nutzern bei der Registrierung viele private Daten, bieten aber nur wenige Möglichkeiten, diese persönlichen Informationen vor ungewollten Zugriffen zu schützen. Die Wissenschaftler vom Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie in Darmstadt raten beim Anlegen von Profilen an den Schutz der eigenen Daten zu denken. „Die Plattform Couchsurfing bietet immerhin die Möglichkeit ihren Namen und die Adresse zu verstecken. Wenn Sie sich erstmal um Sympathien im Netz bemühen, dann brauchen sie diese Daten erstmal nicht“, erklärt der Wissenschaftler Andreas Poller. „Die Nutzer können diese Angaben deaktivieren und haben die Privatsphäre schon gut geschützt“. In der Regel schreiben die meisten Mitglieder ihren Gastgebern immerhin Kommentare ins Profil. So haben sie im Prinzip die Möglichkeit, andere zu warnen, aber meistens wird hier nur ausgiebig gelobt. Vor etwa einem Jahr machte ein krimineller Couchsurfer die Runde, der bei seinen Gastgebern regelmäßig Wertsachen entwendete. Nach einiger Zeit ging ein Sicherheitshinweis mit einem Bild an die Nutzer des Portals und beendete die diebische Karriere.

Die Reisenden sollten ihre Gastgeber ein bis vier Wochen vor ihrer Ankunft kontaktieren. Die Gemeinschaft fungiert als Kontrolle und wenn sich wirklich mal Gäste danebenbenehmen, dann spricht es sich schnell herum. Wer mal abspült und den Kühlschrank fühlt, der hat gute Chancen auch in Zukunft eine passende Couch in der ganzen Welt zu finden.

Portale für Couchsurfer
www.couchsurfing.com
www.bewelcome.org
www.hospitalityclub.org
www.usservas.org
www.globalfreeloaders.com
www.yowtrip.com

Studie zu Sozialen Netzwerken und dem Schutz der Privatsphäre:
www.sit.fraunhofer.de

Völker hört die Signale, auf zum anderen Geschlecht!

Feuer ist Erneuerung. Die Welt muss brennen. Wirtschaftsimperien zerbrechen, Milliarden verpuffen, Ängste zerfressen das Volk. Wo schlägt das Herz der Rebellion? Tanzt es nicht auf dem Trümmerfeld des Kapitals? Erhebt Euch, ihr Massen! Auf zur Revolution! Lodernde Villen, barbusige Frauen, Sex, Gewalt und Freudenfeste. Doch halt: Manch Revoluzzer versucht den Umsturz auch gesitteter – beim Klammerblues im Schmusetakt. Glauben Sie uns. Wir haben es erlebt – im Wochenend-Camp der Sozialistischen Deutschen Abeiterjugend (SDAJ). Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

Kleine Fachwerkhäuschen, grüne Fensterläden, Begonien in den Blumenkästen. Wenn Sie irgendwo Frieden finden – dann in Leichlingen, der "Blütenstadt". Rund 27 000 Einwohner fasst das idyllische Dorf im Rheinland. Seit Jahren SPD-Hochburg. Auf den Straßen grüßt man sich.

Schlange und Joswig irren durch eine malerische Fachwerk-Siedlung auf der Suche nach der Revolution. Die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) campiert am Stadtrand, auf der Wiese des Naturfreundehauses Leichlingen. Eine kleine, romantische Pension – die perfekte Tarnung. Umsturz im Spießertum, Terrorzellen unterm Pavillion, brennende Gartenstühle und lodernde Sonnenschirme. Niemand vermutet das Inferno im Paradies.

Einmarsch der Freizeit-Revoluzzer

"Wacht auf, Verdammte dieser Erde,

die stets man noch zum Hungern zwingt."

(Aus: Die Internationale)

Die Revolution schläft noch. Es ist Samstagmorgen 9 Uhr. Als die zwei Reporter von einem Grüppchen Rocker, die wie die SDAJ bei den Naturfreunden zelten, an einigen Harleys vorbei zum Sozialisten-Camp geschickt werden, liegt der Umsturz noch in den Federn. Totenstille auf dem Campingplatz. Kein Sozialist im Anmeldezelt, kein Funktionär beim Kaffeekochen, kein Rock’n’Roll, kein FKK und keine freie Liebe.

Joswig trottet geknickt über den Platz, Schlange schleppt sich, das Igluzelt und seinen Schlafsack hinterher. Es ist heiß, die zwei haben bereits Schlagseite und Tränensäcke. Vier Stunden Schlaf und drei Bier im Zug fordern ihren Tribut.

Zelt aufbauen – Schlange im Feinripp, Joswig am Boden. Erste revolutionäre Zellen formieren sich am Küchenzelt und begaffen die Neuankömmlinge.

Joswig: „Ich brauch n Kaffee.“

Schlange: „Ich nehm n Müsli.“

Die beiden Wochenend-Revoluzzer schmeißen ihre Klamotten ins Zelt und steuern zur Essensausgabe. Ein rundlicher Genosse mit blondem Pferdeschwanz und flauschigem Kinnbart schaut die zwei Unbekannten kritisch an.

Joswig: „Kaffee.“

Schlange: „Och, ich würd mich schon mit nem Müsli zufrieden geben.“

Der Kamerad: „Wo sind eure Festival-Bändchen?“

Joswig fasst sich an den Kopf: „Oh Mann, ich will doch nur n Kaffee. Stell dich nicht so an.“

Der Kamerad verschränkt die Arme und hebt sein Kinn empor. „Ohne Bändchen gibt’s keinen Kaffee.“

Blöder Diktator. Bevor Joswig was sagen kann, beschwichtigt Schlange: „Alter, im Ordnerzelt sitzt noch keiner. Komm, wir haben grad aufgebaut. Meinst du wir wollen dir deinen Kaffee klauen und wieder verschwinden?“

Der Bursche verzieht keine Miene. „Kennt ihr denn jemanden, der für euch bürgen kann?“

„Waaas?“ Joswig taumelt. „Bürgen?“

Schlange: „Wir holen uns gleich n Bändchen. Das kann doch nicht dein Ernst sein. An dieser albernen Bürokratie ist schon die DDR gescheitert.“

Genervt und mit leerem Magen drehen sich die zwei um und schlurfen zurück zum Zelt.

„Wartet kurz. Ich frag ma eben nach.“ Der Frühstücksbürokrat schiebt sich an einer Schüssel Obst und drei Paletten Joghurt vorbei, läuft zu einem Essenstisch und berät sich mit seinem Vorgesetzten. Dann winkt er die zwei heran.

Der stattliche Vorgesetzte, Marke behaarte Ska-Type, dreht sich um und mustert die neuen Genossen.

Ihr Festival-Outfit: ein Punk-T-Shirt mit amerikafeindlichem Motiv und eine 30 Jahre alte Jeans (Joswig), eine verschlissene Schlaghose mit Band-Aufnähern und eine geflickte Gürteltasche (Schlange), dazu ein entschlossener Gesichtsausdruck (beide).

Der Vorgesetzte: „Jungs, ihr seht so geil abgewranzt aus – wie die Sixpack Lovers.“

Joswig guckt sich Schlanges Plauze im Feinripp an. „Bitte? Die Sixpack Brothers?“

„Nein, Lovers, ne ziemlich schlechte Punkband“

„Ach so. Nö, kennen wir nicht. Gibt’s Kaffee?“

Lässig lehnt sich der Ska-Typ zurück und mustert die Neuankömmlinge. „Schon okay. Eure Gesichter kann ich mir merken. Wenn ihr heute Abend kein Bändchen habt, fackel ich euer Zelt ab.“ Wie reaktionär.

Das gesamte Camp fasst vielleicht 40 Zelte, davon ein Küchen-, ein Anmelde-, ein Infozelt und die große Veranstaltungsjurte. Die zwei Reporter lassen den Mann stehen und besorgen sich Frühstück. Der Kommunismus hat gesiegt – Kaffee für alle.

„Wir sind nicht aktiv.“

Kaffee treibt. Um halb sechs heute Morgen hieß es für die beiden Freizeit-Revoluzzer aufstehen, keine Zeit für Toilettengang. Also nach dem Essen Sanitäranlagen checken. Auf einem Familiencamp wie diesem muss es vernünftige Klos geben.

Hinter dem Essenszelt an einer Feuerstelle und einem idyllischem Kinderspielplatz vorbei erreichen die zwei ein kleines Häuschen. Groß stehen dort die Worte Duschen und Klos auf einem Pappschild. Joswig geht vor. Die zwei haben nur ein Paar Flip-Flops dabei, Schlange bleibt barfüßig am Eingang zurück.

Im ersten Raum des weiß-gekachelten Ganges fällt Joswigs Blick auf drei nackte Bolschewisten, die sich vor den Spülbecken trocken rubbeln. Im nächsten findet er die Klos. Zwei Kabinen ohne eine einzige Brille. Er stöhnt: „Oh, Mann. Zustände wie aufm Festival.“ Ein Paar Flip-Flops und keine einzige Kohle-Tablette gegen den Stuhlgang. Miserable Vorbereitung von den zwei Haudegen.

Schlappentausch am Eingang, auch Schlange wird nur Bier wegbringen. Der Kommunismus ist verinnerlicht, Scheiße wird unterdrückt.

Während Joswig wartet, kommt ein kleiner dicker Südländer zum Toilettenhäuschen und versucht in dem Wasserbottich an der Hauswand sein Frühstücksgeschirr zu spülen. Joswig: „Cooles T-Shirt, Genosse.“ Der Mann grinst. „Antifascista“ steht quer über seiner Brust. Er heißt Niko.

Niko ist Grieche, Fotograf und Kommunist aus tiefster Überzeugung. Während er seine Teller abwischt, schwadroniert er über die faulen und unfähigen Genossen aus Deutschland und über die lange und glorreiche Tradition seiner Heimat.

Schlange kommt zurück und unterstützt seinen Zeltgenossen. Die zwei nicken, bestätigen und befürworten jedes Statement des reaktionären Griechen. Selten scheint er Funktionäre auf Augenhöhe zu treffen und redet sich immer mehr in Rage. Soll das für ihn echte Völkerverständigung sein?

"Brüder in eins nun die Hände

Brüder das Sterben verlacht

Ewig der Sklaverei Ende

Heilig die letzte Schlacht."

(Aus: Brüder zur Sonne zur Freiheit)

Genug Polit-Propaganda, zurück zum Zelt. Es ist Viertel nach zehn. Schlange verzieht sich ins Iglu und zückt zwei Plastikbecher aus seiner Tasche. Ein roter mit einem Froschkönig, ein himmelblauer mit einem Entchen – clever gekauft bei KiK. Schlange füllt die erste Mischung Wodka-Grapefruit ein. Frosch und Ente werden an diesem Tag Joswigs und Schlanges treue Begleiter sein.

Über Megaphon kündigt ein schmächtiger Bursche mit mächtiger Afro-Frisur den ersten Programmpunkt des Tages an: Kennenlernrunde der engagierten Schüler im Veranstaltungszelt und Erfahrungsaustausch der Gewerkschaftler bei den Frühstücksbänken unterm Verdi-Schirm. Schüler wären sicherlich interessanter, doch Gewerkschaftler mehr alterskonform. Schlange macht noch einmal die Becher voll und schlurft mit dem roten Frosch, Joswig und dem blauen Entchen zu den Gewerkschaftskämpfern.

Illustere Runde – Aktive aus der gesamten Region. Wache Augen, geballte Fäuste, Wohlstandsspeck und Themenshirts. Die verschiedenen Gesellschaftsgruppen haben zu Tisch gebeten: zwei Jugendbetreuer, eine Journalistin, ein Arbeitsloser, ein Maurer und als Gesprächsleiter Thomas, ein zierlicher Schlosser und Campwart an diesem Wochenende.

Fürs Kennenlernen stellt ein Genosse einen Kasten Billig-Bier auf den Tisch. Felskrone. Auf den zwanzig Pilsflaschen sind zehn Vita Malz gestapelt. „Aber nur für die Vorstellungsrunde“, sagt er. Die Malzbiere gehen weg wie warme Semmeln. Schlange und Joswig greifen als Einzige zum Pils. Ganz die Sixpack Lovers.

Joswig gibt den Langzeitstudenten und Verdi-Mann: „Ich hab versucht bei Verdi aktiv zu werden. Mich wollte aber niemand wählen.“

Schlosser-Thommy hakt nach: „Ach, und was waren die Probleme bei euch?“

„Joah.“ Joswig holt tief Luft. Schlange beobachtet ihn amüsiert. Bereits 90 Minuten nach Ankunft in die Ecke gedrängt. Joswig weiter: „Ähm, Ihr kennt das doch. Es sind immer dieselben Probleme. Die da oben, wir da unten et cetera pp….“ Dreieinhalb Minuten biergeschwängertes Schwadronieren ohne Ecken und Kanten. Geschafft. Die Genossen sind zufrieden, wahrscheinlich auch nichts anderes gewohnt.

Dann ist die Journalistin an der Reihe. Voller Leidenschaft spricht sie vom Leid der Freiberufler, von den Kürzungen und Kündigungen, von schlechten Bedingungen und frustrierten Verlagen. Selbstverliebt wischt sie sich eine blonde Strähne aus der Stirn, räuspert sich demonstrativ und beendet ihren Vortrag mit: „Und darum hoffe ich auf Verdi.“ Sie schenkt der Runde ein Lächeln.

Anerkennend nickt ihr Schlange zu. Er ist der nächste: „Ach, zu 80 Prozent kann ich mich meiner Kollegin anschließen. Einziger Unterschied: Ich bin nicht aktiv und nur bei Verdi gelandet, weil man dort den günstigsten Presseausweis bekommt.“ Die Genossen lächeln müde, die Journalistin guckt entrüstet.

Vorstellung beendet, die Fronten sind geklärt, die zwei bekennenden Freizeit-Revolutionäre schnappen sich die nächsten Biere.

Der alte Mann und die DDR

Das Mittagessen ruft. Es gibt Nudeln und Tomatensoße mit Zwiebeln. Dazu Salat aus Wäschekörben ohne Dressing. So schmeckt also der Aufbruch – fad.

"Und weil der Mensch ein Mensch ist

Drum braucht er was zum essen, bitte sehr!

Es macht ihn kein Geschwätz nicht satt,

Das schafft kein Essen her."

(Aus: Das Einheitsfrontlied)

Die zwei Reporter schlingen sich eine Grundlage runter. Gleich geht das Trinken weiter. In 30 Minuten steht Geschichtsstunde mit Rolf Priemer an, Ex-Chefredakteur der linken Zeitschrift Elan, Mitbegründer der SDAJ und ehemaliger Vizevorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Thema des Vortrages: Kurras – Die ganze Wahrheit.

Zurück am Zelt: Wieder füllen Schlange und Joswig ihren Frosch- und Enten-Becher. Für die Kurras-Debatte müssen sie gewappnet sein. Mit dem tödlichen Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg hatte der West-Berliner Polizist Heinz Kurras bei den Studentenunruhen am 2. Juni 1967 das Fass zum Überlaufen gebracht, eine ganze Nation gespalten. Die Studenten radikalisierten sich. Die zweite Welle der RAF rechtfertigte als "Bewegung 2. Juni" seine Gewalt mit dem Tod Ohnesorgs. Die Geschichtsschreibung der BRD fußt auf diesen vermeintlich faschistoiden Polizisten, der einen wehrlosen Studenten erschoss. Nun kam ans Licht: Karl-Heinz Kurras war SED-Mitglied und Stasispitzel. Die Grundfesten der gesamten 68er-Bewegung geraten ins Wanken. Für echte Sozialisten müsste ein Weltbild zusammenbrechen.

Die Holzbänke in der großen Veranstaltungsjurte sind im Rondell aufgestellt. Schlange und Joswig kommen zu spät, der Vortrag läuft bereits. Sie stellen Entchen und Frosch beiseite, schleppen eine Holzbank ins Zelt und setzen sich direkt hinter den DKP-Veteranen Priemer.

Die meisten Gesichter in der Runde sind noch mit Pickeln übersät. Fünf ergraute Altkommunisten haben sich zwischen den Zwölf- bis Zwanzigjährigen verteilt – bereit ihnen die Welt zu erklären. Joswig schnippt zwei Kippen aus seiner Schachtel und reicht eine an Schlange weiter. Nervennahrung.

Die erste halbe Stunde liest Priemer mit monotoner Stimme Zeitungsartikel aus dem Jahre 67 vor. Joswig gähnt. Von einem derart „hohen“ Tier wie Priemer hätten sich die zwei mehr Feuer erwartet. Um die Flamme nicht ganz erlöschen zu lassen, steht Joswig auf, um an der kleinen Bar in der hinteren Ecke der Jurte Bier zu holen. Zwei Tapeziertische, ein Sandwichmaker, ein Kühlschrank – beeindruckend.

Ein Mädchen mit Dreads und drei Piercings im Gesicht lächelt ihn verlegen an: „Bier gibt’s erst ab drei.“

„Was!?“ Joswig schnappt nach Luft.

„Sorry, da kann ich echt nichts machen.“

Gefrustet nimmt er wieder Platz. Während Priemer mit leiernder Stimme Zitat für Zitat runterbetet, verschwinden Schlange, Frosch und Entchen zu ihrem Zelt. Joswig hält die Stellung.

Als die drei zurückkehren, ist die Diskussionsrunde bereits eröffnet. Hilfesuchend blickt Joswig seinen Mitstreiter an. „Boar, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so n Scheiß gehört habe.“

Eine Verbindung zwischen Kurras Tätgkeit als inoffizieller Mitarbeiter (IM) der DDR und dem tödlichen Schuss wird angezweifelt. Priemer erklärt, dass Kurras unter gigantischem Druck stand, der Schuss eine reine Affekthandlung war. Schlange versteht das Leid seines Kameraden und reicht ihm einen Becher mit frischem Grapefruitsaft. „Hier, das hilft.“

Immer mehr Kinder melden sich zu Wort. Ein Fünfzehnjähriger mit Sommersprossen, Metal-Shirt, und dreiundzwanzig Festivalbändchen am Arm stimmt Priemer zu. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, das die SED je gegen uns gearbeitet hat.“ Der Satz verhallt unter anerkennendem Nicken der Alt-Kommunisten. Schlange und Joswig beißen in ihre Becher. Das kann doch nicht wahr sein.

Echte Revolutionäre denken im großen Maßstab. Sie führen Kriege, um die Welt zu verändern. Echte Revolutionäre opfern sogar ihr eigenes Leben für die Idee. Fragt die Mauer-Toten. DDR-Kuschelromantik gab es – wenn überhaupt – bei den Nackedeis an den FKK-Stränden der Ostsee.

Joswig räuspert sich. „Was ist nun…“ Er gestikuliert. „die Konsequenz aus der Tatsache, dass Kurras Stasi war und kein verhasster Faschist?“

Eisige Stille.

Er setzt hastig nach: „Also für uns als SDAJ-ler.“

Priemers Ehefrau, eine marxgraue, Eminenz mit strengen Gesichtszügen, greift ein. Sie hatte während der gesamten Diskussion die beiden Wochendend-Kommunisten misstrauisch beobachtet. „Ob Kurras wirklich als IM tätig war, sei mal dahingestellt. Außerdem musst du das einfach im Kontext der damaligen Zeit sehen.“ Prima. Und die Objektivität der Birthler-Behörde wird von ihr ebenfalls angezweifelt.

Ein weiterer Alt-Kommunist fügt väterlich hinzu: „Ihr müsst außerdem verstehen, die Aufgabe der heutigen Massenmedien ist, die Demokratie des Westens zu verherrlichen. Alternativen werden nicht zugelassen.“

Schlange steckt eine neue Kippe an und krallt sich an seinen Becher. Der einzige Auftrag der Massenmedien ist es Geld zu verdienen, um am Kacken zu bleiben, seniler Sack.

Nach 60 Minuten Märchenstunde versuchen die zwei Undercover-Journalisten Rolf Priemer abzufangen und an brisanten Punkten nachzuhaken. Der DKP-Veteran wird sich doch noch besser um Kopf und Kragen reden können. Bevor man ins Gespräch kommt, funkt die Ehefrau dazwischen. Verächtlich blickt sie Schlange und Joswig an: „Der Rolf muss jetzt zu unserem Bücherstand.“

Schlange und Joswig fühlen sich durchschaut. Antiautoritäre Keimzellen im sozialistischem Nährboden des Ausbildungslagers. Die Frau wusste von Anfang an Bescheid. Jetzt gilt es für sie wenigstens die bolschewistische Bastion und ihren gutmütigen Ehemann zu schützen.

"Und wenn ich mal groß bin,

damit ihr es wisst, dann werde ich auch so ein Volkspolizist.

Ich helfe den Menschen, ich bin mit dabei,

beschütze die Heimat als Volkspolizei!"

(Aus: Der Volkspolizist)

Sommersprossen, Trägertop und Titten

Seele baumeln lassen. Zeit für Festival. Sonne, Kippen, Alkohol. Herrlich. Nur volljährige Frauen fehlen. Joswig liegt unter dem Vorzelt des Iglus, Schlange spannt einen Knirps-Schirm auf und stellt ihn als Sonnenschutz übers Gesicht.

Links von den beiden öffnet sich ein Zelteingang. Niko, the Greeco, kommt zum Vorschein. Er grinst. „Man was hab ich denn hier für Nachbarn. Das geht ja gar nicht.“

Schlange schiebt seinen Kopf unter dem Schirm hervor. „Was solln wir denn sagen. Wir wohnen direkt neben so’m Ausländer.“ Niko lacht, schießt ein paar Fotos von den angetrunkenen Sonnenanbetern und verschwindet.

Zwischen den Zelten spielen Jugendliche mit Diabolos. Frisbees sausen durch den Himmel. Elfmeter werden geschossen. Rumtollen und Kinderlachen. Süße kleine Mädchen huschen an den Party-Revoluzzern vorbei. Joswig zieht interessiert die Brauen hoch, Schlange schmeißt ihm eine leere Zigarettenschachtel an den Kopf. „Lass das! Bei 90 Prozent hier machst du dich nur strafbar.“

Das Lockenköpfchen vom Frühstück hat sein Megaphon zur Seite gelegt und spannt mit einem Genossen bunte Party-Lichterketten über den Platz. Schrebergartenromantik beim Widerstand.

Joswig brüllt ihm zu: „Ey, geiles Shirt.“

Schlange zu Joswig: „Was stand drauf?“

Er: „Keine Ahnung.“

Der Afro freut sich trotzdem. Die beiden Reporter lehnen sich zufrieden zurück. Freude schenken kann so einfach sein. Frischgeduschte Frauen in Frottee-Handtüchern laufen über den Platz. Leider ausnahmslos fett wie Haufen. Hier verzichten die Jungs aufs Freudeschenken.

Beinahe ist Schlange weggenickt, als er eine Frauenstimme hört. Im selbstbewusstem Tonfall: „Jungs, ihr seht mir aus, als ob ihr Grillen könntet. Habt ihr Lust heute Abend noch eine Schicht zu übernehmen.“

Joswig: „Joah, naja also…“

Genervt klappt Schlange den Schirm zusammen, schmeißt ihn ins Zelt und erblickt eine wahre Kupfergöttin, die neben seinen Beinen kniet. Wie lodernde Flammen glühen ihre roten Haare im Sonnenlicht. Sommersprossen, Trägertop und Titten.

Er stemmt sich auf die Ellenbogen. „Von wie viel Uhr heute Abend redest du denn?“

„Zwischen halb zehn und halb elf fehlt uns noch die Grill-Aufsicht.“

Joswig prustet los. „Glaub mir, du wirst uns um diese Zeit nicht mehr in die Nähe von Feuer haben wollen.“ Dann nimmt er einen Schluck Grapefruit plus X und lächelt die rote Zora an.

Lydia heißt der Rotschopf. Sie hat das diesjährige SDAJ-Lager organisiert, entstammt einer Kommunisten-Familie. Ihre Mutter leitet das Camp in Kiel. Ein schweres Los. Wer wünscht sich schon als Erbe, die Welt in einen Arbeiter-und Bauernstaat zu wandeln.

„Meine Mama hat mich vorhin angerufen. In Kiel steht gerade mal das Küchenzelt. Guckt euch im Gegenzug unser Camp an. Alles fertig!“

„Gut gemacht.“ Schlange und Joswig nicken anerkennend. Die rote Zora hat bereits zehn Jahre Kommunisten-Camp auf dem zarten Buckel – immer aktiv dabei gewesen. Lydia ist 22.

Joswig grinst Schlange an: „Mit zwölf hab ich dir noch deine Legosteine geklaut.“

„Stimmt.“ Schlange klettert ins Zelt und füllt die Becher nach.

Dekollete und feurige Mähne sind leider nicht alles. Die schnuckelige Lydia hält zähe, ellenlange Monologe über ihre Zeit in Cuba. Bereits drei Mal war sie dort. Immer politische Reisen mit Abgesandten der Partei. Nach einer zähen halben Stunde steht der Rotschopf auf und verschwindet zum Info-Zelt. Joswig und Schlange versuchen zu schlafen. Propaganda macht verdammt müde.

"Der rote Stern an der Jacke, im schwarzen Bart die Zigarre.

Jesus Christus mit der Knarre – so führt dein Bild uns zur Attacke."

(Aus: Commandante Che Guevara)

Mehr Geld für alle – eine Podiumsdiskussion

„In fünf Minuten beginnt die Podiumsdiskussion Was tun in der Krise.“ Die zwei schrecken aus ihrem Dämmerschlaf. Das Lockenköpfchen hat seine Flüstertüte wiedergefunden und läuft proklamierend über den Platz. „Macht euch fertig Genossen für die Lösungen aus der Finanzmisere.“

Der erste Nachmittagskater hämmert hinter ihren Schläfen. Joswig zückt Froschkönig und Entenküken, und die beiden Sixpack Lovers schlurfen schwankend zwischen den Zelten hindurch zur Podiumsdiskussion. Es ist halb drei.

Die beiden Bänke in vorderster Front sind frei. Der Sitzkreis ist aufgelöst. Schlange und Joswig setzen sich in zweiter Reihe vor dem Podium und stecken zwei Kippen an.

Hinter dem Rednerpult warten: ein Kuschelsozi mit Brille und fuseligem Kinnbart (Vertreter der SDAJ), die Moderatorin (Schlange und Joswig waren ihre undefinierten Kurven aufgefallen, als sie vom Duschen kam), ein Bursche mit Dreadlocks (Vertreter von solid, der Jugendorganisation der Linken) und ein Mensch mit Migrationshintergrund (vermutlich ein Vertreter irgendeines Studentenbundes, Notizen hierzu unleserlich).

In der großen Veranstaltungsjurte hat sich das gesamte Camp versammelt, die Kids der Märchenstunde, die Gewerkschaftler, die alten Trotzkisten, ein paar Gasthörer und Verirrte. Alles interessierte Zuhörer beim Hauptevent.

Die globale Finanzkrise ist dabei schnell erklärt: Schuld sind natürlich die USA und der verdammte Kapitalismus. Das US-Immobiliendebakel entstand nur aus der Gier irgendwelcher Bänker. Der Ursprung der Finanzkrise ist viel grundsätzlicher. Die Wogen, die derzeit die Wirtschaft erschüttern, müssen als Symptom gesehen werden – vergleichbar mit Fieber. Ein Symptom für die eigentliche Krankheit, an dem die Gesellschaft seit Jahrzehnten leidet – dem Kapitalismus. Seit über dreißig Jahren wird Geld in gigantische Spekulations-Blasen gestopft. Solche Blasen müssen – wie der Name impliziert – irgendwann platzen. Plopp. Darum die Panik an der Börse, die Panik bei den Reichen, darum Massenentlassungen und Insolvenzen. Von den horrenden Managergehältern gar nicht zu sprechen. Auf die Rettungsversuche von Seiten der Politik kann man nicht setzen: „Wenn die irgendwas reparieren, dann nicht in unserem Sinne.“

Die jungen Burschen auf der Bühne stammeln, sind unsicher und kriegen sich gegenseitig in die Haare. Coole Kampfreden sehen anders aus. Goebbels hätte hier die Krise bekommen. Schlange zu Joswig: „Was wäre wohl gewesen, wenn Hitler gestottert hätte?“ Joswig fängt an zu glucksen.

Unbeeindruckt von den Unruhen in der zweiten Reihe erteilt die Moderatorin Schlosser-Thommy das Wort. Er hat sich wie ein amerikanischer Marineoffizier in der letzten Reihe aufgebaut und die Arme hinter seinem Rücken verschränkt. „Wir müssen uns doch fragen, wer hat das Geld? Die wirklichen Verantwortlichen sitzen in der Karibik und fahren Wasserski.“ Thommy plustert seine Brust auf. „So kann das doch alles nicht weitergehen. Man muss den Staat zwingen, diesen Leuten das Geld wegzunehmen.“

Zustimmendes Raunen frisst sich durch das Stoffzelt. Entstehen so totalitäre Regime? Joswig prustet los. Das war eine Phrase zu viel. Tränen laufen ihm über die Wangen. Schlange schickt ihn raus. Hinter dem Zeltstoff hört man den Querulanten kichern.

Es geht weiter mit den revolutionären Forderungen. Arbeiterlöhne müssen gnadenlos erhöht werden, Arbeitslose kriegen saftige Pauschalen. Geld für alle, damit wieder Kaufkraft auf den Märkten existiert. Ob Staat und Unternehmen pleite sind, ist völlig nebensächlich.

Währenddessen vor dem Zelt: Joswig wischt sich das Gesicht trocken. Durchatmen. An der Zeltplane vorbei sieht er die Gesichter der Genossen, wie sie gebannt zur Bühne starren. Wie kann dieser gestammelter Agitprop nur so fesselnd sein? Er schaut aufs Handy. Ah, nach drei. Endlich Bier. An den hinteren Reihen vorbei schiebt er sich zur Bar.

„Zwei Pils, bitte.“

Dieses Mal steht ein Typ hinter der Theke und schaut Joswig dumpf an. „Bier gibt es erst ab fünf.“

„Vorhin hieß es: Bier ab drei. Außerdem hab ich bitte gesagt.“

„Nein, erst ab fünf. Dann ist das Fußballturnier, dann können die Genossen auch trinken. Ansonsten geraten die politischen Diskussionen hier aus dem Ruder.“ Leider verständlich. Joswigs Kopf sackt zwischen seine Schultern, er nickt einsichtig und trottet zurück zur zweiten Reihe.

Die Diskussion geht weiter: Auch für Opel haben die Genossen eine Lösung parat. Der Autobauer muss komplett verstaatlicht und die Produktion auf umweltfreundliche Fahrzeuge umgestellt werden. Schlange platzt der Kragen.

„Sag ma, du redest da von einer Verstaatlichung von Opel, damit die dann Öko-Kutschen bauen? A la Trabbi Reloaded? Ist das dein Ernst?“

Der Mann mit den Dreads nickt freundlich. Bevor Schlange nachsetzen kann, erteilt ihm die Moderatorin einen Dämpfer. „Nächstes Mal meldest du dich bitte erst mit Handzeichen. Hier melden sich auch noch andere.“ Schnell gibt sie das Wort an einen kleinen Jungen in den hinteren Reihen.

Hallo? Seit wann wartet die Revolution auf Handzeichen? Verdammte Seminarmarxisten. Wo bleibt die unbändige Wut? Niemand leitet eine neue Ära ein, wenn er aufzeigt und mit zitternder Stimme nach der Revolution verlangt.

Schlange schnappt sich Entchen und Frosch und stampft zum Iglu, um die Becher zu füllen. Bei seiner Rückkehr ist die Diskussion vorbei. Joswig sitzt mit einem älteren Herren und einem Rocker, rasierter Kopf, Metal-Kutte und Lederhose, in der letzten Reihe und unterhält sich.

„Endlich.“ Joswig greift nach dem Entenküken. „Du wirst nicht glauben, was hier abgelaufen ist.“ Er nickt dem älteren Herrn zu, der daraufhin eine ganze Reihe verfaulter Zähne bleckt. „Der Mann hier wollte wissen, wie die Trottel auf der Bühne die Arbeiterklasse verstehen – also definieren. Schließlich sitzen hier nur noch die wenigsten hinterm Stahlofen. Als Antwort kam: Interessante Frage, die könnt ihr ja jetzt im kleinen Kreis besprechen. Wir machen hier Schluss. Punkt.“

Der Rocker, der sich vom Nachbar-Camp verlaufen hat, ergänzt: „Die komischen Typen da auf der Bühne hatten doch keine Ahnung, was die da reden, haben nur mit irgendwelchen Fremdwörtern um sich geworfen. Was soll so’n Scheiß. Die haben noch nie gearbeitet, die sitzen nur in ihrer Uni und lernen Bücher.“

Schlange kocht noch immer, er prostet dem Rocker zu und zieht seinen Froschkönig zur Hälfte leer. „Ach was, die Jungs haben doch super argumentiert: Konsumption, Akkumulation und Produzentenkollektive. Was willst du mehr?“

Der Rocker blickt ihn leer an. Ironie scheint nicht sein Steckenpferd. Er dreht sich weg und nuckelt an einem Bier. Woher hat der Mann Bier?

Versorgungsengpässe: die schwarze Wurst

Zurück zum Zelt, genug recherchiert, Kräfte sammeln für Achim Bigus. Der ehemalige Betriebsratsvorsitzende des insolventen Autozulieferers Karmann pilgert seit Jahrzehnten von einem Liederabend zum nächsten und unterhält die Genossen mit Arbeiterliedern.

Während die zwei Hobby-Sozen versuchen etwas Schlaf zu finden, wandert das halbe Camp zum Bolzplatz ab. Fussballturnier und Bierausschank. Joswig verschiebt seinen Fassanstich, Kuba geht auf Kuschelkurs mit der US-Regierung und Nordkorea darf mit Raketen spielen. Keiner hat mehr Lust zu kämpfen.

Dämmerung. Joswig haut gegen den Zelteingang, es ist vielleicht acht. Schlange reibt sich durchs Gesicht. Aus der Veranstaltungsjurte schallt Musik. Mit zusammengekniffen Augen schaut er seinen Mitstreiter an, der mit einem Bier in der Hand vor dem Zelt sitzt. Woher hat dieser Mann Bier?

Schlange mit schlechtem Atem: „Boar, was für Mukke. Ist das nicht Right said Fred?“

„Jaaa. I’m too sexy for my shirt und so. Und davor lief Sasha mit This is my life.“

Schlanges Kopf fällt wieder nach vorn. Oh Mann, der sozialistische Liederabend beginnt mit Right said Fred. Die beiden schnappen Becher und Bier und raffen sich auf, um was Essbares zu organisieren. Ein offizielles Abendbrot gibt es nicht. An der Bar im Veranstaltungszelt reihen sich gut zwanzig Jungsozialisten um den Sandwichtoaster – in freudiger Erwartung auf Vollkornscheiben mit Tomatenmark und Plastikkäse. Widerlich. Schlange und Joswig suchen den Grill. Irgendwo muss es doch Fleisch geben. Ihre Mägen knurren.

Abseits des Camps, in einem kleinen gemauerten Unterstand werden die zwei fündig. Wurst ein Euro, Nackensteak 2,50. Als Beilage Brot und der Salat aus dem Wäschebottich.

„Zwei Mal Fleisch, bitte.“

„Gibt’s nicht.“ Der Typ, der den beiden antwortet, sieht satt aus, wohlgenährt, zufrieden. Lange Haare zum Zopf gebunden, Brille. Auf seinem Shirt steht: Komunismus ist machbar, Herr Nachbar.

Joswig: „Cooles Shirt. Aber warum gibt’s nichts zu essen. Wir haben Hunger!“

Der Typ erklärt den beiden, dass die Kohle alle ist. Schlange und Joswig sind geschockt. Wie wollen diese Menschen das Feuer der Revolution entfachen, wenn sie nicht einmal einen popeligen Grill anschmeißen können?

Hungern ist grausam. Schlanges Magenproblem meldet sich, seine Säure dreht durch. Nur Kippen und Grapefruit. Das schreit nach Reflux. Er geht zum Zelt zurück, mixt zwei neue Wodka und schüttet mit dem ersten Schluck eine Omeprazol (Magentabletten) runter. Joswig streunt über den Platz auf der Suche nach Essen.

Aus einer Kiste im Frühstückszelt lugt eine Rolle Alufolie – vermutlich Volkseigentum. Er schnappt sich die Rolle und winkt Schlange zu sich. Die Diktatur des Hungers muss ein Ende haben. Zwei rohe Würste für den vollen Preis gekauft, in Alufolie gewickelt und ins Lagerfeuer geschmissen. Ergebnis: nahrhaftes Acrylamid. Improvisation wurde schon in der DDR groß geschrieben.

Revolution Rock

Nach dem Essen beginnt der Megaphon-Terror von Neuem. Lockenköpfchen stolziert an den Zelten vorbei und kündigt Bigus an, den DKP-Barden, den EX-IG-Metall-Vertrauenskörperleiter, den Top-Act des Abends. Die bunte Lichterkette erstrahlt.

Das Veranstaltungszelt ist gerammelt voll. Endlich tanzt die Revolution. Jeder Rotgardist ist erschienen. Bier fließt, und Cocktails werden ausgeschenkt, Mojito und Cuba Libre. Was auch sonst?

Schlange und Joswig schwanken bereits und finden Platz in den hinteren Reihen. Bigus rockt die Massen: Bella ciao, Das Lied vom SA-Mann, Solidaritätslied und Commandante Che Guevara.

Das Volk tobt. Joswig heizt den Personenkult weiter an. „Achim“, kreischt er immer wieder. Die Genossen folgen ihm. Begeisterungs-Schreie durchschneiden von allen Seiten die Luft. „Achim, wir lieben dich!“ Fäuste recken sich in die Höhe, Tanz, Schweiß und Alkohol.

Zustände wie auf einer Teenie-Party. Pärchen finden einander, Geknutsche in den Ecken. Nur die zwei betrunkenen Reporter bleiben allein. Keine Revolution, keine Frauen, kein Sex. Ihre persönliche Revolte hätten sich die zwei anders vorgestellt. Romantik und Nostalgie erfüllen ihre Herzen.

SDAJ ist wie Pfadfinderlager, wie Klassenfahrt mit ideologischem Anstrich. Gesitteter Schmuserock. Klammerblues ohne Drogen, Kotze und Toilettenficks. Da kann auch ein Achim Bigus nichts dran ändern. Der Liederabend ist nur ein kastrierter Ausflug in den ungezügelten Aktionismus irgendwelcher Punkkonzerte. Trotzdem, irgendwie schmeckt’s nach Jugend: Linke Freidenker schauen in eine Richtung, ein Auftrag, ein Gedanke, Gemeinschaft, Solidarität und lautes Gegröhle.

Schlanges Magen dreht sich endgültig um, er ist definitiv zu alt für solche Abende. Auch Joswig sitzt immer teilnahmsloser zwischen den tobenden Revoluzzern. Entweder ist man Zyniker an der Flasche oder wütender Freiheitskämpfer. Im Alter muss man sich für eins von beidem entscheiden. Soviel alkoholgeschwängerte Melancholie überfordert Schlange und Joswig. Sie lassen Nostalgie Nostalgie sein und die Revolution der SDAJ geschehen. Torkelnd verschwinden sie in der Dunkelheit.

"Wenn ich sterbe, oh ihr Genossen,

bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao.

Bringt als tapferen Partisanen mich sodann zur letzten Ruh‘.

Bringt als tapferen Partisanen mich sodann zur letzten Ruh‘."

(Aus: Bella Ciao)

Am Zelt knallt das Vordach runter, mit letzter Mühe schieben sich die zwei in ihre Schlafsäcke. Als Schlange den Eingang zuzieht erklingt aus dem Festzelt die Internationale. Die Jungsozialisten brüllen die Revolution in die Nacht, die Möchtegern-Revoluzzer schließen ihre Augen. Danach kann nichts mehr kommen. Die zwei Haudegen werden die Revolution verschlafen.

Solidarische Grüße, Ihre Wattenscheider Schule.

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Iran am Scheideweg – Bürgerkrieg oder Neuwahlen

Am dritten Tag nach der Wahl erwacht im Iran der Leviathan. Der Drachen des Chaos und des Todes. Bislang war er kontrolliert vom gemeinsamen Willen aller in Frieden zu leben, gebändigt vom gemeinsamen Glauben an eine Nation, gezähmt vom Bewusstsein der Fairness und der Herrschaft des Gesetzes.

Der Hoffnung folgte die Angst. Nun ist der Drachen erwacht. Er wird gefüttert von der Gewalt der unrechtmäßigen, zügellosen Brutalität. Der Drache zerreißt alles im Frieden erschaffene. Durch die Straßen Teherans und Isfahan hetzen Schlägerbanden. Es folgen Mörder und Tyrannen. Ihnen kann man nicht glauben. Schon gar nicht, dass sie die freie Wahlen gewonnen haben.

Je mehr die Unrechtmäßigen versuchen das Recht zu unterdrücken, desto stärker wird der Hunger des Drachen. Ihre Gewalt hat nicht die Macht, den Drachen zu bändigen. Im Gegenteil. Jedes abgeschaltete Handy, jede abgefangene SMS, jede geschlossene Internetseite, jeder gestörte Sender, jedes gestürmte Haus, jeder Zusammengeschlagene,  jeder Gefoltere, jeder Ermordete macht den Menschen im Iran klar, dass sie betrogen wurden von der Herrschaft.

Um den maximalen Schaden nun zu verhindern, muss der Herrscher sehr frei nach Thomas Hobbes zurück ins Recht gesetzt werden. Nur dann, wenn der wahre Gewinner der Wahlen im Iran seine Gerechtigkeit bekommt, kann er als von allen anerkannter Träger des Monopols auf Gewalt den Souverän, das Volk, vertreten und die Willkür-Herrschaft der Unrechtmäßigen beenden. Und damit den Drachen wieder bändigen.

Es gibt deshalb nur zwei Möglichkeiten. Mir Hussein Mussawi muss als Wahlsieger anerkannt werden, oder die Wahlen müssen wiederholt werden. Ohne Betrug. Nur so kann ein Bürgerkrieg im Iran verhindert werden. Mussawi ruft zu weiteren Protesten auf. Er kann nur siegen.

Die Gewalt des unrechtmäßigen Herrschers Mahmud Ahmadinejad sorgt nur für Gegengewalt – sonst ist sie zu nichts nutze. Sie kann nicht die Autorität des Souverän ersetzen, der sich in Wahlen seinen Herrscher ausgesucht hat.

Sollte Ahmadinejad seine Diktatur durchsetzen wollen, werden die Straßenkämpfen in Teheran zum Flammenmeer am persischen Golf.

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Protest gegen Pro NRW

Pro NRW will über das Ruhrgebiet Nordrhein-Westfalen erobern. In Gelsenkirchen fand heute der Landesparteitag statt – gegen den Willen der Stadt und ihrer Bürger.

Frank Baranowski zeigt Pro NRW die rote Karte

Auch Regen und die wirklich grauenvollen, ja, die Milch sauer lassen werdenden Chöre der stalinistischen MLPD,  konnten am Sonntagmittag mehrere hundert Bürger nicht davon abhalten, an einer Demonstration gegen den Pro NRW Parteitag im Schloß Horst in Gelsenkirchen teilzunehmen. Pro NRW ist die Partei des Kölner Rechtsextremisten Markus Beisicht, der damit unter einem eher bürgerlichen Deckmäntelchen auf Stimmenfang  gehen will. Vor seiner Zeit bei Pro NRW war Beisicht Mitglied der Republikaner und der Deutschen Liga für Volk und Heimat.  Pro NRW versucht sich als antiislamische Partei zu profilieren und macht Stimmung gegen den Bau neuer Moscheen.

Gelsenkirchen ist für die Partei von taktischer Bedeutung: Der vom Berufsstudenten Kevin Gareth Hauer geführte Ortsverband Pro Gelsenkirchen soll der Partei erste Erfolge im Ruhrgebiet bringen. Der Parteitag sollte ein Schritt in diese Richtung sein – und zeigte doch nur eins: Gelsenkirchen will mit Pro NRW nichts zu tun haben.

Zum Protest gegen die Partei aufgerufen hatte die Demokratische Initiative, ein Bündnis aus SPD, CDU, FDP und Grünen sowie Kirchen und Gewerkschaften. In seiner Rede erklärte der Gelsenkirchener OB Frank Baranowski (SPD): "In Gelsenkirchen ist kein Platz für die Feinde der Deomkratie. Wir gehen heute als wehrhafte Demokraten gegen die Feinde der Demokratie auf die Straße und sagen: Wir wollen Euch nicht in unserer Stadt."

Gerd Rüsing, der Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde St. Hippolytus betonte die gute Zusammenarbeit zwischen den Gläubigen aller Religionen in Gelsenkirchen und wandte sich ebenfalls gegen Pro NRW: "Sie sind hier nicht willkommen." Die Kundgebung wurde von zahlreichen Bands wie 15 Watt, Die Wut und Muddy Echos unterstützt, die ein musikalisches Rahmenprogramm boten.

Ein im Schloß Horst angebrachtes Protestplakat gegen den Parteitag der vom Verfassungsschutz in NRW wegen rechtsextremistischer Tendenzen beobachteten "Bürgerbewegung Pro NRW"  war bereits zu Beginn des Parteitages von Anhängern  der Partei zerstört worden, berichtete uns ein Sprecher der Stadt. Die hatte versucht, den Parteitag auf dem Rechtsweg zu verhindern, war aber in zwei Instanzen gescheitert. 

Kleines Schmankerl am Rande: Ein Freund von mir kam auf der Demo ins Gespräch mit einem jungen MLPD-Aktivisten, der mit großem Eifer den Hitler-Stalin-Pakt verteidigte. Da fragt man sich warum sich die MLPD an den Protest gegen Pro NRW dranhängte und nicht einen freundlichen Grußredner ins Schloß Horst  entsandte.

Kommt der Uhlenberg-Untersuchungsausschuss?

Minister mit Kuh / Foto: MUNLV

Wie ich erfahren habe, planen die Grünen im NRW-Landtag nun konkret einen Untersuchungsausschuss zur Affäre um angebliche Korruption im NRW-Umweltministerium. Derzeit wird ein entsprechender Fragenkatalog abgestimmt, mit dessen Hilfe der Fall rund den ehemaligen Abteilungsleiter des Umweltministeriums, Harald F., aufgeklärt werden soll. Die SPD ist in die Gespräche involviert. Eine Entscheidung soll in Kürze gefällt werden. Vor allem die Rolle von CDU-Umweltminister Eckhard Uhlenberg soll aufgeklärt werden. Engste Mitarbeiter des Politikers hatten mit gleich drei Anzeigen das Strafverfahren gegen Harald F. ins Rollen gebracht. Mit teilweise halt- und ruchlosen Beschuldigungen.

Tatsächlich gibt es einiges zu erklären. Wie aus Unterlagen hervorgeht, die mir vorliegen, haben Vertraute von Uhlenberg eng mit dem Landeskriminalamt (LKA) kooperiert, um Vorwürfe zu stricken und die Verfolgung gegen den unliebsamen Ex-Mitarbeiter voranzutreiben. Es gibt sogar eine eigene Arbeitsgruppe im Ministerium. Sie heißt "Amtshilfe".

Es scheint, als hätten die Mächtigen in Nordrhein-Westfalen ihre Macht missbraucht, um einen unliebsamen Kritiker mundtot zu machen. Sie haben versucht, ihn mit Hilfe des LKA zu ruinieren, kriminalisieren und wegzusperren. Dieser Machtmissbrauch muss Folgen haben. Auch ist zu fragen, warum das LKA bei einer solchen Hatz mitgemacht hat.

Zunächst aber steht die Frage im Raum, warum die Männer um Uhlenberg sich überhaupt die Mühe gemacht haben, unredlich zu arbeiten?

Harald F. gilt als einer der renommiertesten Abwasserexperten in Deutschland. Das Grüne Parteimitglied war enger Zuarbeiter der damaligen Umweltministerin Bärbel Höhn (Grüne). Nach seiner Entlassung aus dem Ministerium hatte sich Harald F. zudem im PFT-Skandal einen Namen als Kritiker des zögerlichen Vorgehens von Eckhard Uhlenberg gemacht.

Dies scheint dem Umweltministerium nicht gefallen zu haben. Mitarbeiter Uhlenbergs bis hinein in die Hausspitze haben sich an dem Kesseltreiben auf Harald F. beteiligt. Schließlich wurde Harald F. unter dem Verdacht des Banden- und Gewerbsmäßigen Betrugs, der Korruption und Untreue mehrere Wochen lang in Untersuchungshaft genommen. Sein Ruf wurde ruiniert, er selbst durch die Kriminalisierung an den Rand des wirtschaftlichen Ruins getrieben. Aus den vorliegenden Dokumenten lässt sich erschließen, dass selbst angeblich frisierte Fahrtkostenabrechnungen in Höhe von insgesamt "acht Euro" (sic!) beim LKA angeschwärzt wurden.

Auf Grund der Vorwürfe kam es zu einem großen Lauschangriff. 4500 Telefonate, unter anderem mit Bundestags- und Landtagsabgeordneten sowie Journalisten wurden abgehört. Über 2000 Emails mitgelesen. Dazu observierten die Ermittler mehrere Personen auf Schritt und Tritt. Auch nachdem die Staatsanwaltschaft das LKA angewiesen hat, die Unterlagen aus den Überwachungen zu vernichten, stellten die LKA-Beamten zwei Ordner mit den wichtigsten Horch- und Guckergebnissen zusammen und nahmen diese unter Verschluss. Die Beschuldigten haben bis heute keinen Einblick in die Lauschprotokolle. Auch Gespräche des Autoren mit dem Beschuldigten Harald F. wurden belauscht, Emails abgefangen. Gleiches geschah mit mindestens einem Reportern der Süddeutschen Zeitung.

Die Gesamtkosten für die Ermittlungen belaufen sich auf mehrere Millionen Euro. Ein möglicher Machtmissbrauch ist also auch teuer.

Auffällig ist, dass die LKA-Beamten nicht nur Material zu den Vorwürfen im Haftbefehl sammelten, sondern auch gezielt Unterlagen zum PFT-Skandal beschlagnahmten und ins Umweltministerium trugen. Dort wurden danach Ermittlungen gegen einen möglichen Maulwurf in den eigenen Reihen eingeleitet.

Wie die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf bestätigte, haben sich mittlerweile alle Vorwürfe gegen Harald F. in Luft aufgelöst, die im Haftbefehl genannt waren.

Zudem wurde die leitende Staatsanwaltschaft vom Landgericht Wuppertal in die Schranken gewiesen, weil die Ermittler nach Ansicht des Gerichtes unerlaubterweise Akten an die Hauptbelastungszeugin Dorothea Delpino weitergegeben haben. Das Gericht hat das Fehlverhalten der Behörde offiziell in einer Entscheidung bestätigt.

Trotzdem geht das Verfahren weiter. Es scheint, als versuchten die Ermittler dem ehemaligen Abteilungsleiter irgendetwas anzuhängen. Nachdem der Verzehr von Currywürsten mit Pommes auf Kosten eines für das Ministerium tätigen Institutes als unangemessene Bewirtung kritisiert worden war, versteifen sich die Beamten nun auf eine angebliche Bevorzugung einer Firma bei einer Auftragsvergabe. So wurde bei dem entsprechenden Unternehmen im Rahmen einer Hausdurchsuchung das Angebot eines Konkurrenten gefunden. Dies begründet nach Ansicht der Ermittler den Verdacht eines Ausschreibungsbetruges. Doch auch dieser Vorwurf ist schwer gegen Harald F. zu halten. Der Abteilungsleiter hatte keinen Zugriff auf die entsprechenden Unterlagen.

Das Verfahren gegen Harald F., einen weiteren Mitarbeiter im Umweltministerium und die betroffene Firma wird trotzdem weiter voran getrieben. Egal, ob dabei unschuldige Existenzen draufgehen.

Wie eng der Draht zwischen den Ermittlern und dem Uhlenberg-Ministerium ist, kann man an einem Brief der Staatsanwaltschaft Wuppertal an die Umweltbehörde erkennen. Die Staatsanwälte informieren hier das Ministerium bereits am 9. März über Verfahrenseinstellungen. Der Beschuldigte Harald F. selbst hat bis heute keine offizielle Mitteilung über das Ende der Ermittlungen erhalten.

Zum Hintergrund der Geschichte rund um PFT und die Berichterstattung über das Versagen des Ministers hat sich Uhlenberg übrigens mal vor über einem Jahr im Landtag ausgelassen. Das Video dazu ist immer noch spannend.

Den Artikel, auf den sich Uhlenberg bezieht, findet man übrigens hier: Klack. Es geht um eine versuchte Täuschung von Seiten Uhlenbergs. Der Minister hat versucht, mit Hilfe einer geschönte Tabelle Erfolge bei der PFT-Bekämpfung darzustellen, die es so nicht gab. Auch diese Irreführung der Öffentlichkeit könnte ruhig mal aufgeklärt werden, finde ich.

Über weitere Informationen aus dem Umweltministerium freue ich mich wie immer unter david.schraven (at) ruhrbarone.de – hier schon mal der Dank an die vielen Tippgeber. Ohne Sie wäre die Aufklärung nicht bis hierhin vorangekommen.

Verantwortungslose Tricks belasten Kommunalkassen

Foto: Mülheim. Dagmar Mühlenfeld ist die Dame in der Mitte vorne mit dem blonden Seitenscheitel.

In Mülheim gibt es eine Finanzposse, die leider zum Beispiel für viele Pleitekommunenn in Deutschland werden könnte. Es geht um versteckte Kredite, Eilentscheidungen und Geheimabstimmungen. Alles mit dem Ziel, an der Kommunalaufsicht vorbei Kohle zu besorgen, um nicht den Haushalt sanieren zu müssen.

Die meisten Städte in Deutschland wollen nicht sparen, obwohl das nötig wäre. Aufgrund der Finanzkrise kommt nämlich deutlich weniger Geld in die Kassen der Kommunen. Wegen wegfallender Einnahmen aus Einkommens- und Gewerbesteuern drohen Millionenlöcher. Die dräuenden Lücken können auch Konjunkturgelder nicht mehr stopfen und schon gar nicht kurzfristige Kredite. Eigentlich ist die Erkenntnis klar. Es muss dringend gespart werden, bei allen freiwilligen Leistungen, wenn die Gemeinden nicht in wenigen Jahren den Totalzusammenbruch erleben wollen.

Leider hält sich kaum eine Stadt an diese Erkenntnis. Die meisten Lokalpolitiker scheuen sich unpopuläre Maßnahmen zu treffen. Lieber suchen sie nach Wegen, wie sie trotz Pleite frisches Geld in die Kassen kriegen können. Zur Not an der Kommunalaufsicht vorbei. Zur Not über Schuldenmachererei. Die Tricks bleiben oft im verborgenen. Nur selten wird bekannt, wie dreist die Gemeindevertreter die zukünftigen Generationen in ihrer Stadt belasten. Es scheint das Denken zu herrschen, man müsse gepumptes Geld nicht zurückzahlen.

Ein Beispiel lieferte jetzt die Stadt Mülheim unter der SPD-Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld. Die Ruhrgemeinde ist richtig klamm. Wie die Mülheimer Bürgerinitiativen mbi berichtet, will die örtliche SPD deshalb zusammen mit der CDU über einen ungewöhnlichen Deal Millionen in die Kassen spülen.

Dazu soll das Mülheimer Rathaus an eine städtische Tochterfirma per Erbbaurecht übertragen und dann zurückmieten. "Sale und Lease back" nennt man dieses Verfahren. Damit die Tochterfirma, die städtische Wohnungsbaufirma SWB, das Geld für den Kauf bezahlen kann, soll die Firma einen Kredit bei der Sparkasse aufnehmen.

Die Stadt wiederum gibt dann der Sparkasse eine Ausfallbürgschaft über 40,5 Mio Euro für die Tochter. Damit soll die Wohnungsbaugesellschaft SWB die günstigen Kommunalkonditionen für den Kredit bekommen.

Nochmal im Klartext: Die Stadt mißbraucht eine Tochter, um die lokale Sparkasse zu plündern.

Toll oder?

Warum das Ganze? Direkt darf Mülheim kein Geld mehr aufnehmen. Denn Mülheim ist finanziell ruiniert. Die Kommunalaufsicht würde weitere Kreditaufnahmen untersagen.

Mühlenfeld hat zusammen mit Dieter Wiechering, dem Fraktionsvorsitzenden der SPD im Rat der Stadt Mülheim, und dem CDU-Ratsherr und Finanzsprecher Eckart Capitain bereits einen Eilbeschluss über den Deal unterzeichnet. Das Ding ist also schon ohne öffentliche Diskussion im stillen Kämmerlein durchgezogen worden.

Damit das Ganze auch nachträglich unter Verschluss bleibt, soll der Rat der Stadt am 18. Juni den Eilbeschluss in geheimer Tagung absegnen. Öffentliche Diskussion? Beteiligung und Information der Bürger? Doch nicht wenn es um Geld geht.

Ein Ziel scheint das Vorgehen zu haben. Die Bürger Mülheims sollen nichts von diesem lichtscheuen Geschäft erfahren.

Wahrscheinlich sind ähniche Modelle in etlichen Kommunen derzeit gang und gäbe.

Wir freuen uns bei den Ruhrbaronen über Hinweise zu ähnlichen Vorgehen in Ihrer Gemeinde. Hinweise an david.schraven (at) ruhrbarone.de werden auf Wunsch vertraulich behandelt.

Ruhrpilot

Das Navigationssystem für das Ruhrgebiet

Grafik: Hometown Glory

Pro NRW: Nieder mit dem rechten Mob…Gelsenkirchen Blog 

NRW School: Blog zum Superwahljahr…Keine Experimente

Arcandor: Metro mach Tempo bei der Fusion…Berliner Morgenpost

Tafeln: Soziologe warnt vor Expansion…Der Westen

Wittke: Neue Vorwürfe…WDR

Duisburg: Stadtfest mit fast 40 Band…Der Westen

Buch: Der Terrorist als Gesetzgeber…Patje

Geld: Die Staatsbankrotss-Hitparade…Verlorene Generation

Köln: Stadtarchivs-Katastrophe wird schöngeredet…Welt

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Iran – Wenn aus Hoffnung Angst wird

Foto: Flickr.com / mousavi 1388

Nach wie vor hoffe ich auf einen friedlichen, demokratischen Wechsel im Iran. Einen Wechsel, der eine Annäherung von Europa möglich macht. Doch diese Hoffnung weicht nun der Angst. Die Rede ist von Wahlbetrug, von Revolutionsgarden, die protestierenden Anhängern des unterlegenen Kandidaten Mir Hussein Mussawi mit Todschlag drohen, von Demos und Gewalt. Dabei ist die Lehre einfach: wer Wahlen fälscht und Menschen betrügt, führt ein Land in die Diktatur. Eine Diktatur geht in einer Revolution oder in einem Bürgerkrieg unter. Sowohl Diktatur, als auch Revolution und Bürgerkrieg sind verheerend für den Iran und seine Nachbarn. Aber auch für uns in Europa.

Ich muss zurückdenken, an die Zeit, als der Schah gestürzt wurde. Es gibt eine wundervolle Reportage darüber, von einem der größten Beobachter der modernen Zeit, Ryszard Kapuscinski. Das Stück heißt Schah-in-Schah.

In diesem Werk beschreibt Kapuscinski die Wellen, in denen das morsche Regime Ende der siebziger Jahre zusammenbrach. Jede Beerdigung eines ermordeten Demonstranten gegen den Schah wurde selbst zu einer Demonstration. Und wenn nach 40 Tagen dann zu den Totenfeiern der Opfer Hunderte strömten, mordeten die Häscher des kaiserlichen Geheimdienstes Savak erneut. Es gab neue Beerdigungen und nach 40 Tagen neue Totenfeiern mit Tausenden neuer Demonstranten. In diesem Rhythmus des Todes, des Opfers und des weitergelebten Kampfes verlor der Schah alles.

Das ist die Erinnerung.

Es ist unklar, wie es jetzt weitergeht. Werden die enttäuschten und betrogenen Mussawi-Anhänger sich in den Kreisel des Opfertodes hinein begeben? Oder werden sie auf einen friedlichen Wandel hoffen? Wird Mahmud Ahmadinejad seine Widersacher unterjochen oder wird er aufgeben? Werden die religiösen Wächter des Staates, wie Ali Chamenei, den Wahnsinn stoppen oder befeuern?

Es ist unklar.

Lindsey Hilsum vom britischen Sender Channel 4 News hat diesen bericht aus Teheran geschickt. Sie sagt, sie sei von einem auf den anderen Tag in einem fremden Land aufgewacht. Friedliche Aufmärsche der Mussawi-Anhänger hätten sich in blutige Orgien verwandelt, in denen die Herrscher versuchen den Protst zu ersticken. Hilsum bringt ein berührendes Statement von Musawi. er sagt: "Die Taten dieser ehrlosen Menschen erschüttern in ihrer letzten Konsequenz die Grundfsten der Islamischen Republik und führen zur Herrschaft der Lüge und der Diktatur."

Böhning Antrag gescheitert

Der SPD-Parteivorstand hat den Antrag von Björn Böhning für den morgigen Bundesparteitag kassiert.

Keine wirkliche Überraschung: Björn Böhning ist mit seinem Antrag gegen Netzsperren schon im SPD-Parteivorstand gescheitert. In einem neuen Beschluss setzt die SPD auf "Löschen vor Sperren" was besser klingt als es ist, weil auch auf diesem Weg die  Internetsperren kommen, die später ausweitet werden können. Die SPD hat sich nicht getraut, gegen die Netzsperren Stellung zu beziehen. Die Angst vor einer schlechten Presse und einer sicher erfolgten Kampagne der Union war zu groß. Man wollte den PR-Bundesparteitag nicht mit einem kontroversen, aber aus Sicht der Parteiführung eher randstänigem, Thema belasten. Böhning gab sich auf  Twitter enttäuscht: "SPD-Parteivorstand hat meinen Antrag gegen #zensursula-gesetz abgelehnt. Beschluss verbessert, aber ich kämpfe weiter gegen Gesetz!" Der SPD-Internetexperte Jörg Tauss hält den Beschluss zumindest für eine gute Diskussionsgrundlage. Auch Jens vom Pottblog hat die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. Der Grüne Bundestagsabgeodrnete Volker Beck brachte es allerdings auf den Punkt: "Manche Sachen kann man nicht gut machen, sondern nur lassen" und ergänzte: "Wiefelspütz hat es doch schon ausgeplaudert, was selbstverständlich ist: wer anfängt macht weiter. Gegen Terrorismus, Extermismus…"

Der Einstieg in die Netzsperren ist also beschlossene Sache.  Einen schönen Satz formulierte der Blogger Jens Ohling auf Twitter: SPD beschliesst Wahlkampf gegen das Internet