Gelsenkirchen ist die ärmste Stadt Deutschlands und die Hochburg der AfD im Westen. Ein Zufall oder gibt es hier einen Zusammenhang? Wilhelm Heitmeyer, 72 ist ein deutscher Soziologe, Erziehungswissenschaftler und Professor für Sozialisation am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Er war bis 2013 Direktor des Instituts und seitdem ist er dort im Rahmen einer Forschungsprofessur tätig. Seit den 80er Jahren untersucht er Rechtsextremismus, von 2002 bis 2012 lief seine Langzeitstudie zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“.
Michael Voregger: Das Ruhrgebiet gilt ja als „Schmelztiegel“ mit einer langen Erfahrung bei der Zuwanderung von Menschen. Warum haben hier so viele Bürger die AfD gewählt?
Wilhelm Heitmeyer: Die Zuwanderung in früheren Zeiten aus Polen oder aus der Türkei ist mit der Zuwanderung von heute überhaupt nicht zu vergleichen. Die früheren Zuwanderungen waren Zuwanderung in Arbeit und das hat sich grundlegend geändert. Etwa durch den Zuzug aus Bulgarien und Rumänien und natürlich durch die Flüchtlinge. Insofern ist die Etikettierung mit dem Schmelztiegel nicht mehr angemessen. Es hat in der Vergangenheit viel Zeit gebraucht. Jetzt hat man keine Zeit mehr. Es sind in kurzen Abständen sehr viele Menschen gekommen. Das gilt besonders für bestimmte Stadtteile in Gelsenkirchen mit schon länger andauernden strukturellen Problemen. Dazu kommen vielfältige und verstärkende Bedingungen, wie viele freistehende Wohnungen – das wirkt dann so wie ein Magnet.
Michael Voregger: Gelsenkirchen ist laut einer aktuellen Statistik die ärmste Stadt Deutschlands. Gleichzeitig ist die ehemalige Stadt der Tausend Feuer eine Hochburg der AfD. Hier haben bei der Bundestagswahl 17 Prozent der Bürger die Partei gewählt. Besteht da ein Zusammenhang?
Wilhelm Heitmeyer: Auf der einen Seite ist es so, dass es im Osten den flächendeckenden Erfolg der AfD gibt. In Westdeutschland ist das sehr unterschiedlich und es gibt zum Beispiel sehr reiche Städte wie Heilbronn, Das hat mit der Tradition in Baden-Württemberg zu tun, wo es immer solche Erfolge gegeben hat – in der Vergangenheit vor allem durch die Republikaner. Heute kommt in den reichen Städten die Angst vor sozialem Abstieg hinzu – selbst bei den Mitarbeitern von Audi. In Städten wie Gelsenkirchen mit der hohen Armutsrate sind es zwei Dinge. Auf der einen Seite die Konkurrenz um knappe Ressourcen und auf der anderen Seite – das ist immer ein Zusammenhang – wird das übertragen auf kulturelle Differenzen. Ob das nun Muslime sind oder die eingewanderte Alltagskultur aus Südosteuropa – also aus Bulgarien und Rumänien. Es gibt einen Zusammenhang zwischen den Wählerschichten und der strukturellen Situation in den Städten. Und das gilt nicht nur für Gelsenkirchen, sondern es gilt ebenfalls für andere Stadtteile im Ruhrgebiet. Da sind es vor allem die Stadtteile im Norden der jeweiligen Städte – also im Essener Norden oder in Duisburg. Es ist notwendig genau hinzusehen, welche Form von Desintegration auch die ursprünglichen Deutschen oder Teile davon erleben.