Ein Fanclub, zugegeben anders und doch herrlich normal. Stefan Wewer ist sehbehindert. Orte, die er nicht kennt, sind für ihn meist nur mit einer Begleitperson an seiner Seite zugänglich. Auf vertrautem Terrain kommt er gut allein zurecht. In der Hagener Innenstadt beispielsweise. Dort wohnt er und dort sind wir am Samstag, den 02. März, morgens um zehn zum Frühstück und für ein Interview verabredet. Thema: Fußball und Fankultur. Anschließend wollen wir nach Dortmund fahren, ins Stadion. Am 28. Spieltag der Bundesliga-Saison 2010/2011 empfängt der BVB die Mannschaft von Hannover 96. Die Dortmunder haben gute Chancen, zum siebten Mal in ihrer Vereinsgeschichte die Meisterschaft zu holen. Von unserem Gastautor Martini.
Stefan, das ist der Grund unseres Treffens, ist Vorsitzender bei Blind Date, einem BVB-Fanclub, gegründet von und für Blinde und Sehbehinderte. Wobei darauf hinzuweisen wäre, dass da niemand diskriminiert wird, nur, weil er zufällig sehen kann.
Die Geschichte des Clubs beginnt Ende der 90er Jahre. Es sollten Heim-, nach Möglichkeit auch Auswärtsspiele besucht werden. “Unser Name war schnell gefunden. Samstag für Samstag geht man zu einem Spiel und weiß doch nie, was einen erwartet. Wenn das kein Blind Date ist, was dann?” Bei einer Fahrt nach Wolfsburg, Saison 2004/2005, erfuhren sie dort von einem speziell ausgestatteten Tribünenbereich mit Kopfhörerplätzen für Sehbehinderte. “Was wir uns darunter vorzustellen hatten, wussten wir zwar nicht, aber wir fuhren hin. Wir saßen dann da und bekamen Kopfhörer aufgesetzt. Zwei Sprecher erzählten uns was. Ob das jetzt gut war oder schlecht, lasse ich mal offen. Alle Kinder fangen klein an. Aber uns war sofort klar, dass das eine tolle Sache ist. Wir forschten nach und bekamen heraus, dass in Leverkusen auch schon so ein System installiert war.”
Ihre Hoffnung hielt sich in engen Grenzen, als sie beim BVB offiziell anfragten, ob eine Audiokommentierung für Dortmund denkbar wäre. In jenen schwarzen Tagen ächzte die Borussia unter der Last der größten Finanzkrise ihrer jüngeren Geschichte. Man hätte den Spielbetrieb wohl einstellen müssen, hätte nicht am 14. März 2005 die Molsiris-Fondsgesellschaft dem eingereichten Sanierungskonzept zugestimmt. Das gute Ende der Geschichte ist bekannt. Und weil darüber hinaus das Stadion bei der anstehenden WM als Spielort gesetzt war, dort definierte Qualitätsstandards für behinderte Besucher zu gelten hatten, wurde der gewünschte Audiokommentar tatsächlich eingerichtet. Im Block 5 der Osttribüne.
Nach unserem Frühstück werden wir vom Vater eines Fanclub-Mitglieds nach Dortmund chauffiert. Treffpunkt vor Heimspielen ist traditionell der Biergarten am Stadion Rote Erde. Daniela, die 2. Vorsitzende ist da, Michael, Gerd und die anderen. Die Stimmung ist gut, der Sieg gegen Hannover beschlossene Sache. Nur Gerd bleibt skeptisch. Gerd ist Schatzmeister, Begleitperson und ältestes Mitglied in Personalunion. Er hat einst unter Adi Preißler trainiert und für Viktoria Dortmund als Mittelläufer auf Asche dem Fred Kelbassa vom BVB das Leben schwer gemacht. Er weiß, dass beim Fußball alles möglich ist.
Eine gute Stunde später werden in Block 5 die Empfangsgeräte und Kopfhörer verteilt und mit dem Anpfiff gehen Martin Feye und Markus Bliemetsrieder von der Pressetribüne aus “auf Sendung”. “Die beiden vermitteln uns das Gefühl, mitten drin zu sein. Wenn ich schon nicht sehen kann, dann wünsche ich mir solche Sprecher, die mit ihrer Stimme die Stimmung im Stadion rüberbringen können.”
Das Duo bereitet sich akribisch vor, kennt Mannschaftsaufstellungen, die taktischen Ausrichtungen, ist stets auf Ballhöhe und beobachtet neben dem Spiel auch die Fans, ihre Aktionen, Fahnen und Transparente. Das ist besser als Fußball im Radio. Was allerdings fehlt ist ein Tor vor der Pause. “Ich wusste es”, schimpft Gerd. “Hannover kauft uns den Schneid ab. Hannover spielt wie wir in der Hinrunde.”
Lähmendes Entsetzen, als Abdellaoue in der 57. Minute zum 0:1 für die Niedersachsen trifft. Zwei Minuten später gleicht Götze nach einem phantastischen Solo aus. Das Stadion gleicht einem Tollhaus, Block 5 feiert Party. Da geht noch was. Die Tore fallen jetzt im Minutentakt. Ich glaube nicht, dass ich es mir nur einbilde, dass Euphorie hier einen Tick freundlicher ausbricht als in anderen Blöcken. Großkreuz, das 4:1. Was den 14. Mai betrifft, sind sich gerade alle einig: “Deutscher Meister wird nur der BVB!”
Die Story in einer längeren Fassung ist in der aktuellen BODO erschienen.