Haut bloß ab! Aber z. z. …

Leonhard Kuckart - Bild: senioren-union-nrw.de

Haut bloß ab! Aber z. z. – zack, zack. Ziemlich zügig. Wir wollen Euer Geknötter nicht mehr hören, Eure Giftfressen nicht mehr sehen – ja, schon richtig: wir wollen Euch überhaupt nicht mehr sehen. „Wem es nicht gefällt, der kann gehen“, sage ich immer. Und ich finde, dass das Christliche wieder Inhalt der Politik werden muss. Also: Liebe, Güte und Barmherzigkeit. Und vor allem die Nächstenliebe. Doch bei dieser Sorte von Knötteropas hört bei mir der Spaß auf. Leitlinie christlicher Politik muss sein: „Lasset die Kinder zu mir kommen!“

Was aber meint Leonhard Kuckart, der stellvertretende Bundesvorsitzende der Seniorenunion, dem wir die Anregung, dass das Christliche wieder Inhalt der Politik werden müsse genauso verdanken wie den Hinweis: „Wem es nicht gefällt, der kann gehen“? Kuckart findet, Kindergeschrei sei für viele eine unzumutbare Lärmbelästigung. Genau wie das Hämmern eines Pressluftbohrers. Und deshalb sei die vom Bundesumweltminister und – pikanterweise – seinem CDU-Landesvorsitzenden Röttgen geplante generelle Zulassung von Kitas in Wohngebieten als Verstoß gegen das Grundgesetz zu werten, weil Rechte anderer verletzt würden. „Ein Dauerpegel von 90 Dezibel“, so Kuckart, „bleibt eine unzumutbare Lärmbelästigung – gleich, ob die Quelle nun sympathisches Kindergeschrei ist oder das Hämmern des Pressluftbohrers.“ Auch Senioren hätten schließlich ein Recht auf Erholung.

Wohlbemerkt: Kuckart hält die unzumutbare Lärmbelästigung namens Kindergeschrei durchaus für sympathisch, jedenfalls solange sie nicht ältere Menschen um ihr wohlverdientes Mittagsschläfchen bringt. Deshalb macht er Front gegen eine Änderung, sprich: Liberalisierung des Bundesimmissionsgesetzes. Umwelt, wichtige Sache. Und Kinder erst einmal. Im Prinzip ist Leonhard Kuckart sehr dafür – gerade auch als Landesvorsitzender der Seniorenunion, in deren Mitgliedschaft die „Christdemokraten für das Leben“ vertreten sind. Kampf gegen Abtreibungen und „Redefreiheit für Sarrazin“, also „strengere Maßstäbe für die Integration von Migranten“ – wer also konservatives Klientel sucht, findet es hier, schreibt der Westen. Kuckart arbeitet auch mit seinen 79 Jahren unermüdlich am konservativen Profil seiner Partei.

„Hellwach“ bezeichnet sich die Seniorenunion selbst – in ihrem Logo. „Demokratie heißt auch Kampf“, weiß Leonhard Kuckart dazu beizusteuern. Wenn irgend so einer wie dieser Grünschnabel von Jens Spahn Bedenken gegen eine außerplanmäßige Rentenerhöhung vorzutragen wagt, dann ist Kuckart nämlich hellwach. Und kämpft – gegen links, gegen Ausländer, gegen den ganzen neumodischen Kram in der CDU und seit neuestem auch gegen das ganze Kindergeschrei. Kindertagesstätte – allein schon dieses Wort. Was ist in Deutschland nicht alles schief gelaufen?! Leonhard Kuckart – ein Prototyp eines verbiesterten Knötteropas.

Nichts gegen Knötteropas. Ich selbst bin auf dem besten Wege. Meine Kolumnen legen Zeugnis darüber ab. Liebeserklärungen gibt es allenfalls posthum, auch hier stehen Kuckarts Chancen nicht besonders gut. Ich bin auch nicht mehr der Jüngste, hatte es auch nicht immer leicht und knötter nun einmal für mein Leben gern. Aber sich mit Schwächeren anzulegen, gehört sich nicht. Kann auch vorkommen. Aber mit Kindern? Oder deren Eltern? Die Hand, die füttert, beißt man nicht. Städte seien „altersungeeignet“, meint Kuckart. Nun denn, ab dafür!

Er soll sie alle mitnehmen, der Kuckart. All die anderen furchtbaren Knötteropas, die, weil sie sich selbst nicht leiden können, auch allen Anderen den Spaß am Leben vermiesen wollen. Und all die verbissenen Giftziegen, die ihrem Herrmann („nun tu doch endlich mal was!“) nicht mehr das Leben schwer machen können und seitdem eine noch ätzendere Wirkung auf ihre Außenwelt entfalten. „Wem es nicht gefällt, der kann gehen“, sagt Kuckart. Bitte sehr! Wir wollen mit Euch ohnehin nicht in Mehrgenerationenhäusern leben. Wir würden einen Teufel tun und Euch Kinderhassern unsere Kinder anvertrauen, wenn wir einmal Hilfe brauchen. Ob Eure leiblichen Kinder einmal Lust haben werden, Euch zu pflegen, wenn es so weit sein sollte?

Ziemlich unwahrscheinlich. Entweder ist es Euch gelungen, Eure Unmenschlichkeit der eigenen Brut anzuerziehen. Dann sieht es schlecht für Euch aus. Oder aus denen sind wider Erwarten doch recht umgängliche Wesen geworden. Dann auch. Ich kann Euch für beide Varianten einige Beispiele nennen. Ich glaube, Ihr wisst, wie es um Euch steht; deshalb nimmt Euer Hass jetzt schon eine derart skurille Form an, dass Ihr Kinderlärm mit Presslufthämmern vergleicht und Kitas ins Gewerbegebiet verbannen wollt. Ihr seid so etwas von pervers, Ihr armen Schweine! Und Ihr seid nicht wenige. Ihr stellt bei weitem nicht die Mehrheit in Eurer Generation, d.h. auch viele CDU-wählende Alte sind ganz liebevolle Großmütter oder patente Großväter. Sie freuen sich, wenn die Kinder mit den Enkeln zu Besuch kommen. Und wenn sie können, fahren sie auch selbst zu ihnen hin und passen mal auf. Ihr wisst schon: diese „komischen“ Nachbarn, die sogar hin und wieder ein liebes Wort für die Türkenblagen übrig haben.

Auf diese Alten, auf diese vielen, möchten wir nicht verzichten. Auch dann nicht, wenn sie nicht mehr helfen können und wenig auf die Straße kommen. Denen helfen wir dann. Gern. Aber Ihr, die Ihr offen oder heimlich mit diesem Kuckart sympathisiert, die sogar neidisch auf kleine Kinder sind, weil in denen etwas lebt – Euch Giftfressen wollen wir nicht mehr sehen. Bleibt im Haus, steckt Euch Ohropax in die Lauscher, macht die Äuglein zu und vor allem Euren – für meinen Geschmack viel zu – großen Mund! Oder noch besser: Haut ab! Verpisst Euch. Z. z. – zack, zack. Ziemlich zügig. Wenn es Euch hier nicht passt, geht doch rüber! Ihr glaubt gar nicht, was es für ruhige Fleckchen gibt, auch in Deutschland. Gerade im Osten. Große Teile Brandenburgs entvölkern sich gerade. Keine Kinder, keine Türken, wunderschön. Herrliche Ecken. Und auch die Preise sind niedriger als hier. Also: wisst Ihr Bescheid. Und kommt bloß nicht wieder. Tschüss!

Weiterführender Link zum Glasauge (Welt Online)
„Das Gesetz kommt nur über unsere Leichen“
Leichen-Union fühlt sich von Kindergräbern gestört

Emotionales Armdrücken

Andreas Bittl und Dagny Dewath/Foto: Birgit Hupfeld

Heute Abend  ist es wieder so weit: Das Fräulein Julie spielt im Rottstr.5-Theater verrückt. Was passiert, wenn ein alter, Frauen hassender Schwede, Foucault und eine Rasierklinge aufeinander treffen? Kürzung in ihrer schönsten Form. Mit „Fräulein Julie“, einer Tragödie von August Strindberg, holt das Bochumer Rottstr5-Theater Herrschafts- und Geschlechterdiskurse auf die Bühne. Arne Nobel pflastert den strindbergschen Stände-Switch mit den wackeligen Steinplatten triebhaften Kalküls und naiver Begierden, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Es ist der rasante Absturz in die Perspektivlosigkeit eines nimmergrünen Beziehungsgeflechts.

Weil der Lieblingswein von Strindberg und Michel Foucault Bier ist, trafen sie sich zu einem Sit-In in der Rottstr5. Strindbergs Tragödie von 1888 ist sein meist gespieltes Stück. Aber noch nie hat es eine Inszenierung gegeben wie jene, die aktuell im Rottstr5-Theater zu sehen ist: In einer postatomaren Zeit nach der Bombe wurde das feudale System revitalisiert. Ein bisschen Mad Max, aber immer noch Reclam. Mit Mut zur Klinge und Kürzung verhelfen Dramaturgie und Regie Strindbergs Klassiker zu appellativer Durchschlagskraft, mit der sich nahtlos an aktuelle Diskurse anknüpfen lässt.

Das Miteinander generiert sich orientierungslos. Im Wust aus Menschen, Geschlechtern, Hierarchien fällt es schwer, auf Augenhöhe unerschlossenes Land, ohne Gepäck aus der alten Welt zu betreten. Die Beteiligten hängen noch immer in und an den tradierten Herrschaftsverhältnissen und müssen einsehen: Ein Befehl klingt immer unfreundlich, auch wenn er auf den Wunsch eines anderen hin ausgesprochen wird.

Naturalistisches Küchendrama

Regisseur Arne Nobel ist dafür bekannt, dass er seinen Inszenierungen gerne ein gewisses Quantum Radikalität verpasst. Im Original liefert die Figurenkonstellation den Tod der Köchin nicht mit. Als Repräsentantin der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung bildete sie ursprünglich das Gegengewicht zum sittenwidrigen Verhältnis von Julie (Dagny Dewath) und Jean (Andreas Bittl). Doch wird der Tod der Köchin in der Spielversion des Off-Theaters letztlich zur logischen Konsequenz dieses aufreibenden Küchendramas.

Jean (Andreas Bittl) hofft auf seinen Aufstieg/Foto: Birgit Hupfeld

Monsieur Jean, der Knecht des Fräuleins, ist eigentlich verlobt mit Kristin, der Köchin des Hauses (Kerrin Banz). Er ist viel gereist, ein bisschen gebildet und deswegen überzeugt, er würde ihr als Verlobter nicht schaden. Gleichsam erwacht das Interesse der Herrin des Hauses an Jean, ihrem Untergebenen. Noch gilt, wenn sie befiehlt, muss er gehorchen. Jean will rauf und Julie will runter. Was folgt ist eine Nacht erotischer Verwirrung, eine Anleitung zum Unglücklichsein, ein naturalistisches Küchendrama. Das Setting der Story wird mithilfe des Bühnenarrangements komplettiert, in dem die Darsteller ständig ihre Plätze wechseln. Die Grenzen zwischen Ernst und Scherz, Hierarchie und Haltlosigkeit verschwimmen zunehmend.

Jean und Julie erobern einander, bezwingen und demütigen sich. Die Ebenen dieses kurvenhaften Emotionsverlaufs geraten ins Wanken, beinah wie bei Jean Genet wechseln ständig die Machtverhältnisse sowie ihre Maskeraden und plötzlich ist man mitten drin im Kampf um Herrschaft und Geschlechterverhältnisse. Fräulein Julie muss schon bald einsehen, dass sie nicht weiß, wie die Welt von unten aussieht. Jean und sie erahnen, aber unterschätzen die prägende Kraft der Klassenunterschiede. In der Sexszene der beiden sind ihre Körper auf ihre Silhouetten reduziert. Ihre Wirkmächtigkeit verdankt sie nicht zuletzt dem hervorragenden Einsatz des Lichts. Der Akt selbst ist kein wildes Rammeln, sondern entbrennt in stilvoller Körperästhetik hinter einem riesigen, halbdurchsichtigen Vorhang und verweist als Moment der Verschleierung auf die triebhaften Kräfte, die unter der sichtbaren Oberfläche der Zurückhaltung brodeln. Das Verlangen kulminiert in Begehren und entlädt sich im Akt. Die Entflammten bleiben nach der Apokalypse der Zweisamkeit in einer emotionalen Ruine zurück, bei der sich Drohung und Bedrohung abwechseln. Von Mäßigung, Halt und Orientierung sind sie weit entfernt.

Ruine eines Verlangens

Am Ende müssen Jean und Julie einsehen, dass es nicht reicht, „auf Purple Haze zu schlafen“, damit ihre Träume wahr werden. Beide ringen um Kontrolle, statt um Liebe. Sie will, dass er gut zu ihr ist. Er jedoch begreift nicht. Schließlich beschwert sich die hintergangene Köchin, sie wolle nicht länger in einem Haus wohnen, in dem man keinen Respekt mehr vor der Herrschaft hat. Ein Fehler. Am Ende kommt Solidarität nicht einmal unter den beiden Frauen auf, als Julie vorschlägt, man könne zu dritt fliehen. Nein, in diesen Verhältnissen verträgt man sich nicht.

Zwei, die keineswegs zimperlich miteinander umgehen/Foto: Birgit Hupfeld

Mittendrin findet sich die Darbietung einer großartigen Dagny Dewath, zwischen Dominanz und Geworfenheit und ein Andreas Bittl, der spielt als befände er sich in einem Rammstein-Video. Präzise zeichnen sie alle kaleidoskopischen Zersplitterungen der Emotionalität nach. Charmant richten sie einander mit ihren Worten und ihrem Spiel regelrecht hin. Dewath gelingt es mit der Intensität ihrer Mimik, alle Nuancen von Raserei, über Wut, bis hin zu quälender Verzweiflung zu erörtern, bis plötzlich sogar den Zuschauern die Tränen in den Augen stehen. Es gibt diese großen Szenen, in denen man ihr jede Regung, jedes Wort abnimmt. Alle Schauspieler verleihen dieser beeindruckenden Darbietung streckenweise ein geradezu erschütterndes Maß an Authentizität. Ihr leidenschaftliches Spiel straft die Wirklichkeit des Lebens als bloß verblassten Abglanz radikaler Emotionalität Lügen.

Am Ende geht es wie so oft um die verlorene Ehre. Sie fragt ihn, ob er wisse, was ein Mann einer Frau schuldet, die er entehrt hat. Er bedauert, dass das Gesetz nicht vorsieht, was mit einer Frau geschieht, die einen Mann verführt. Da waren sie wieder, die Geschlechterverhältnisse. Diese Inszenierung glänzt mit Aktualität, weil sie nicht bloß eine theatralische Lektion ist. Sie zeigt Ertrinkende auf dem Kampfplatz der Hierarchie, Scham und Schande, die noch immer keine antiquierten Zwangsvorstellungen sind.

Die nächste Vorstellung findet heute, um 19.30 Uhr statt.

Der Ruhrpilot

Barbara Steffens

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Umland: Kein Dioxinskandal im Hochsauerland. Drei Fragen – drei Antworten…Zoom

Hartz IV: Was für ein grandioses Debakel für die SPD…Querblog

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Internet: Rechtliche Frage beim Setzen falscher Links…Netzpolitik

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Der Ruhrpilot

NRW: WestLB wird RestLB…taz

NRW II: Sparkassen suchen Verbündete für WestLB…RP Online

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Ruhrgebiet: Unternehmer rechnen mit Wachstum…RP Online

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Internet II: Keine Pseudonyme b ei Facebook –  auch nicht für politische Dissidenten…Netzpolitik

Kultur: Schlingensiefs Traum erwacht zum Leben…Spiegel

Zurück in der Truman Show – Die Goldene Kamera

Wo war eigentlich Bernd Eichingers Sarg bei der Goldenen Kamera am Samstag? Den hätte man doch auch schön zur Schau stellen, feierlich auf der Bühne platzieren können. Bitteschön, der Zuschauer lässt sich auch vom überraschenden Tod gerne rühren, solange es nicht der eigene ist. Im Sarg hätte nicht mal wirklich der Tote liegen müssen, hätte schon keiner nachgeschaut, war schließlich nur Fernsehen.  Wo Gefühle vor allem willkommen sind, nicht wenn sie wahr, sondern wenn sie telegen sind.

Wegen dringender Bühnenarbeiten komme ich mir derzeit häufig so vor wie jemand, der viel zu spät zu einer Party erscheint, auf der schon alle besoffen sind oder andere, weniger legale Drogen verspeist haben. Den so genannten Coup (professionell auch: „Scoop“) habe ich erst spät nachts in der ZDF-Mediathek gesehen. Ich wusste nicht, ob ich bei einer freakigen Show gelandet war und schnell Drogen nachschmeißen sollte, um mithalten zu können. Ich entschied mich dann doch zum enthaltsamen Entsetztsein. Um mal die Hälfte des anzunehmenden Hasses von mir abzulenken: Ich freue mich sehr für Monica Lierhaus, wenn es ihr gut geht, besser geht, wenn sie zuversichtlich in die Zukunft schaut und daran arbeitet, dass diese Zukunft täglich besser wird. Das ist toll, das ist ein großer Erfolg für sie. So wie es ein großer Erfolg wäre für jeden, der eine vergleichbare Geschichte erlebt hat.

Aber was bitteschön soll dieses roboterhafte Auftreten, dieses Ablesen eines wahrscheinlich mühsam eingeübten Textes mit metallsurrender Stimme vor etwa tausend meist relativ belanglosen Mitarbeitern der Fernsehindustrie und etwa viereinhalb Millionen Fernsehzuschauern? Es ist richtig, dass die Verantwortlichen einer Rehabilitationsmaßnahme ihre Patienten motivieren, dass sie ihnen Ziele setzen. Das gilt für eine Sportmoderatorin genauso wie für einen Frührentner aus Duisburg, den man mit der Aussicht auf einen Spaziergang mit dem Hund motiviert, oder für einen Zerspanungsmechaniker bei ThyssenKrupp, der darauf hinarbeitet, an seinen alten Arbeitsplatz zurück kehren zu können. Es ist aber ebenso wichtig, dem Patienten beizubringen,  mit dem veränderten Leben nach einem Schlaganfall, Aneurysma, Unfall oder nach einer Amputation  klarzukommen.

Wäre die Kulisse etwa 500 000 Euro billiger gewesen und hätte statt Günter Netzer eine TV-Bratze wie Britt statt ernstzunehmender schlecht imitierte Gefühlsregungen gezeigt, hätte man sich im normalen Fernsehmüll des RTL-Nachmittags gewähnt. Dort vermutet man auch eher den Hang zu öffentlichen Heiratsanträgen.

Aber es war eine neue Form der Scripted Reality, es war die Goldene Kamera, es war im ZDF. Wobei der Lierhaus-Scoop jede Diskussion erübrigt, warum ein paar lächerliche Bierstände bei Thomas Gottschalk Furore machen, diese Veranstaltung des Springerkonzerns aber nicht als Dauerwerbesendung gekennzeichnet wird. Die „Hörzu“, dieses tantenhafte Fernsehprogrammheft mit auf niedrigem Niveau dümpelnder Auflage, hatte seinen Höhepunkt wahrscheinlich, als das Radio seinen Schwerpunkt von der Mittelwelle auf UKW verlagerte. Es muss vierzig Jahre her sein, dass mein Vater als Preis für ein gelöstes „Hörzu“-Kreuzworträtsel einen Schmuckkasten mit Pralinen gewann und fortan in der Straße als gewiefter Intellektueller galt.

Natürlich ist die Goldene Kamera nicht der unglaublich armselige „Steiger Award“ eines Sascha Hellen. Während der umtriebige PR-Profi aus dem Pott wahrscheinlich nur schauen muss, wer von seiner Politiker- und Promirestehalde gerade völlig terminlos ist, wird man bei Springer schon hin und wieder den Agenten eines einzufliegenden Hollywoodstars eindringlich auf die mögliche Win-win-Situation hinweisen müssen. Oder man passt gerade gut in die Werbestrategie eines Filmverleihs.  Doch die Goldene Kamera ehrt in der Regel lieber einen Tatort als Dominik Graf. Fernsehprofis wie Roman Brodmann, Georg Stefan Troller, Gordian Troeller, Axel Corti oder Eberhard Fechner werden den meisten Gästen der Springerzeremonie eher unbekannt sein.

Das Fernsehen darf verletzte Menschen zeigen. Das muss es manchmal sogar, wenn es um verprügelte Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern geht oder um Katastrophenopfer in der Karibik. Das Medium hat sich mittlerweile darauf versteift, selbst bei der letzten Selbstentblößung Unbekannter in schauderhaften Billigformaten darauf  hinzuweisen, der Bloßgestellte habe sich freiwillig zur öffentlichen Demütigung verpflichtet. Über Sendungen wie das „Dschungelcamp“ können sich allenfalls noch die Schützer australischer Schleimmaden aufregen. Den Rest spült eine Welle berechtigter Schadenfreude weg.

Am Samstag aber kam Monica Lierhaus auf die Bühne, auf eigenen Wunsch, wie im Nachgang betont wurde. Die Erzeugung von Schadenfreude konnte nicht das Motiv der Veranstalter sein. Lierhaus erhielt einen Ehrenpreis in einer ungenannten Kategorie, die man allenfalls ahnen kann. Nächstenliebe kann aus rein systematischen Gründen nicht das Motiv eines Medienkonzerns sein, egal wie lieb die Chefin die Geehrte hat. Wahrscheinlich hat Monica Lierhaus den Fantasiepreis aus einem Grund, und das völlig zu Recht erhalten: Für den direkten Appell an das limbische System der Zuschauenden. Ihre Aufgabe war das Auslösen von Emotionen. Die Tränen der anderen Showbeschäftigten bewiesen, dass man bei Springer mit der Ehrung richtig gelegen hatte. Tränen schlagen Erkenntnis. Auch wenn man das vorher wusste, Hörzu und ZDF haben es noch einmal eindrucksvoll vorgeführt.

Investigative Journalisten werden hoffentlich bald recherchieren, warum die Moderatorin der ARD-Sportschau ihren ersten öffentlichen Auftritt ausgerechnet im ZDF feierte, auf einer Veranstaltung  des Springerkonzerns, der sich zumindest in der Frühphase der Erkrankung nicht so gern wie andere an die Bitte um Zurückhaltung hielt. Soweit mir bekannt, halten in Kündigungsprozessen Anwälte die Mandanten an, ihre Arbeitskraft dem alten Arbeitgeber anzubieten. Das sichert den Geschassten einige Rechte. Die ARD, alter Arbeitgeber von Monica Lierhaus, reagierte ziemlich perplex auf den Wunsch der Rückkehrerin, bald wieder vor der Kamera zu stehen. Im Ersten muss man den Auftritt bei der Konkurrenz als Affront begriffen haben. Ihr Comeback hätte Monica Lierhaus auch im Haussender beim Kollegen Beckmann zelebrieren können. Dessen Spezialität sind doch einfühlsame, widerwort- und barrierefreie Interviews mit Schicksalsgebeugten. Bevor die große Medienwelle überschwappte, wollte man beim Ersten erst heute Nachmittag, mit drei Tagen Verspätung, Stellung nehmen. Wer dann etwa den ARD-Programmdirektor Volker Herres am Montag im Radio hörte, ahnt, dass ernsthafte Freude schon mal anders klingen kann.

Um nichts falsch zu verstehen: Joachim Löw nach einem Länderspiel zu fragen, ob die Italiener in der zweiten Hälfte auf dem rechten Flügel nicht Schwächen offenbarten, ist eine Arbeit, die man können muss. Monica Lierhaus hat gezeigt, dass sie das kann, dass sie die richtigen Fragen stellen kann. Aber das ist alles nur Fernsehen. Jeder Altenpfleger, der sich bei seinen Heimbewohnern erkundigt, ob sie zum Klo möchten oder ob die Suppe zu heiß ist, stellt täglich hundertfach wichtige Fragen. Aber das ist nur das Leben und nicht das Fernsehen. Monica Lierhaus scheint den Unterschied derzeit nicht zu erkennen. Das war das eigentlich Traurige an ihrem Auftritt. Und das löste wahrscheinlich die direkte Reaktion des Saalpublikums mit aus. Die latente Angst, selbst schlagartig ausgestoßen zu sein aus der selbsterwählten Truman Show.

Das Goldene Springer-ZDF arbeitet wahrscheinlich schon an der nächsten Preisverleihung. Man könnte doch mal bei Gaby Köster nachfragen. Der hat ein Springer-Blatt doch auch nachgestellt, bis es von einem Gericht gestoppt wurde. – Schade, das wird nichts. Bei Wikipedia, dem gehobenen Recherchetool der Durchschnittspresse, sehe ich gerade, sie wird wohl schon im März zur Leipziger Buchmesse wieder auftreten. Wikipedia zitiert einen Angehörigen: „Sie ist natürlich nicht mehr die Gaby, die sie vorher war, aber es geht ihr gut“. Springer-Scoops gehen anders.

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Der Ruhrpilot

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Nachruf auf Gary Moore

Bild: Nymf (talk) – via Wikipedia

Gary Moore ist tot. Gestern starb er im Alter von 58 Jahren an der Costa del Sol. Gary Moore – das kann als sicher gelten – erlag keinem „Rock-’n‘-Roll-Tod“. Noch ist die Todesursache unbekannt; er soll überraschend im Schlaf gestorben sein. Hoffen wir, dass es so war: nicht die schlechteste Art zu sterben; allerdings: 58 Jahre – das ist entschieden zu früh.

In den meisten Nachrufen wird Gary Moore den i.d.R. fachunkundigen Lesern als „Ex-Gitarrist der irischen Rockband Thin Lizzy“ vorgestellt. Dies ist zwar richtig, wird aber seiner Biografie nicht gerecht. Schließlich spielte Moore nur etwa fünf Jahre lang für Thin Lizzy. Gewiss spielte die Band von Phil Lynott eine ganz besondere Rolle in Gary Moore´s Werdegang; denn schon 1969, also im Alter von erst 16 Jahren, hatte er sich Lynotts Gruppe angeschlossen. 

In Erinnerung bleiben wird er jedoch vor allem mit seiner Solokarriere, die Gary Moore als einen „Wanderer zwischen den Welten“ erscheinen lässt. Einmal als Hardrocker – bis 1989. Ab 1990 hat er sich dann vornehmlich seiner „zweiten großen Liebe“, dem Blues gewidmet. In dieser Zeit hat er diesen „Wechsel“ selbst damit begründet, dass er es albern fände, wenn alte Säcke auf der Bühne den pubertierenden Halbstarken geben. 

Und tatsächlich spricht auch einiges für diese „Zwei-Welten-Theorie“. Ich selbst war einigermaßen enttäuscht, als Gary Moore 1990, also unmittelbar nach seinem „Wechsel“ in der Westfalenhalle ausschließlich Blues spielte und nicht ein einziges der vielen Hardrockstücke intonierte. Immerhin nahm er zwischen 1973 und 1989 zehn Hardrock-Alben auf. Aber die Tournee hieß nun einmal „Still got the Blues“, Moore hatte sie auch deutlich so beworben, insofern war das schon okay. 

Außerdem war das Eintrittsgeld gut angelegt. Ich erinnere mich noch heute an das Konzert, daran, wie Gary Moore seine Gitarre(n) die ganze Zeit traurig aufheulen ließ. Und natürlich: „Still got the Blues“ – echte Blueser mögen das Lied kitschig finden, der Urheberrechtsstreit mag immer noch nicht geklärt sein; doch es gehört schon etwas dazu, sich diesem Stück gegenüber emotional verschließen zu können. Umgekehrt ist es schwieriger: wer Hardrock nicht mag, weil ihm der Sound zu hart ist, wird auch von Gary Moore nicht umgestimmt worden sein. 

Und doch ist die ganze Trennung künstlich, diese „Zwei-Welten-Theorie“ trägt nicht, nicht bei Gary Moore. Er war beides in einem: Bluesrocker, Rockblueser oder weiß ich was. Zum einen, weil Moore immer wieder zum Hardrock „zurückgefunden“ und sogar geplant hatte, sich wieder schwerpunktmäßig diesem Genre zu widmen. Daraus wird nun nichts mehr. Zum anderen, weil auch Moores Hardrockstücke nichts Anderes waren als tieftrauriger Blues. Freilich, wie der Name schon sagt, härter vorgetragen; wer das nicht mag, höre sich die Rockballade „Empty Rooms“ an. Spätestens dann dürfte klar werden, was ich meine. 

Gary Moore war ein Kind Nordirlands, geboren und aufgewachsen in Belfast. Moores Verletzlichkeit und Melancholie ist ohne den jahrzehntelangen Krieg in seiner Heimat nicht zu verstehen. Die beiden bekanntesten Alben aus seiner „Hardrockzeit“, „After the War“ und “Wild Frontiers”, legen darüber Zeugnis ab. Ich weiß nicht, woran Gary gestorben ist. Woran auch immer, warum auch immer, klar ist: Krieg tötet auch noch Jahre und Jahrzehnte später. 

"After the War" - Plattencover

So many came before you,
The prisoners of fate.
A history of bloodshed,
A legacy of hate.
But where will you be standing
When the battles have been won?
Inside your lonely fortress
The battle’s just begun.

After the war
Who will you be fighting for?
After the war is over.
After the fire
Is burning to its dying embers.
After the war. 

“After the War” – Gary Moore. 1. Strophe und Refrain