Original und Übersetzung – „celebrating Mahavishnu“

Man stelle sich einen Sommerabend vor – auf der Wiese liegend, den Blick in die Blätter eines Baumes, die so unendlich plastisch das Auge faszinierten. Auch die ganzen vielen Grüntöne wirkten so neu, so anders, so viel verschiedener auf einmal. Auf den Ohren die Headphones eines vom Taschengeld abgesparten Sony-Cassettenwalkmans – und in diesem eine frische Aufnahme des „Birds of Fire“-Albums vom Mahavishnu-Orchestras. Solche Ewigkeiten hatten auch die längsten Soli noch nie durchmessen! Links eine merkwürdig schwerelos schwebende Violine – rechts eine Gitarre, die Wörter, Geschichten, kaleidoskopische Farben produzierte.  Man darf raten, was im Spiel war, um all dies herbei zu führen…

Tatsache bleibt:  „Sanctuary“, „Lotus“ oder „Terrestrial Celestial“ sind Stücke, die auch heute noch so heißen wie sie klingen. Und dabei auch in klarem Bewussteinszustand so klingen, wie sei heißen. Denn das, was sich einst so prägend ins Hirn einfräste, geht im Grunde auf ein Höchstmaß an Klarheit in der musikalischen Aussage zurück. Das deutet auf eine ähnliche Verfassung, eine geradezu spirituell reine Ausgangslage zum Zeitpunkt der Produktion dieser Musik hin. So sieht es auch der Geiger Bernie Mallinger vom Radio Vienna String Quartet: „John Mc Laughlin, der die meisten dieser Stücke geschrieben hat, war zu diesem Zeitpunkt bereits wieder von den meisten Drogen runter.“

Das Streichquartett aus Wien lieferte im Dortmunder Jazzclub domicil die zeitgenössische  „Übersetzung“ dieser Stücke.  Und es mangelt hier an nichts  in Sachen extremer Spannungslevel und oft überwältigender Dramaturgie, wie sie vielen Mahavishnu-Stücken innewohnt. Die Wiener schaffen all dies durch dezidierte klangliche  Gestaltung und subtile perkussive Techniken. Ganz dicht am Steg streichen die vier über weite Strecken, was sich in der Fachsprache „sul ponticello“ nennt – das produziert diesen seidigen, sphärischen Klang! Und die Bögen trommeln auch mal im Neunzehnachtel-Takt auf die Saiten, worauf Bernie Mallinger in einer Zwischenansage verwies.

Die feinste Arrangierkunst der Wiener fängt die komplexen melodischen Abläufe ein, bringt so viel Mystik zum Leuchten, in all ihrer kunstvoll-wilden Vermengung Rock, Jazz, Folk und indischen Stilelementen. Dabei spielt das Quartett nicht einfach eins zu eins die Vorlagen nach, sondern leistet sich auch immer wieder ganz freie, subjektive, oft lustvoll rockende, zuweilen lyrisch stark verinnerlichte Exkurse. Und es kam im domicil zu einem weiteren, geradezu spektakulären Brückenschlag:  Zur Einleitung der Ballade „1000 Island Park“ spielte Cellistin Asja Valcic ein Quinten-Arpeggio, welches nahtlos die Sarabande einer Bach-Suite einleiten könnte. Und dieser ruhevolle Gestus liegt immer noch über allem, als die Melodie schon längst wieder herbes Moll und die hohen Streicher ihre elektrisierend dissonanten  Gesten verbreiten…

Diskographie (Auswahl)

Radio String Quartet Vienna – celebrating Mahavishnu (ACT 2007)

Radio String Quartet Vienna & Rigmor Gustavson      (ACT 2010)

Mahavishnu-Orchestra       Inner Mounting Flame (Jan 1972)

Mahavishnu Orchestra       Birds of Fire (Feb 1973)

Info:

www.radiostringquartet.com

Jahresrückblick 2010: Januar

Eröffnungsfeier Zollverein Foto: Ruhrbarone

Wo fangen wir mit dem Jahresrückblick 2010 an? Wenig überraschend im Januar. Das Kulturhauptstadtjahr begann und die Skandalserie der Regierung Rüttgers nahm an Fahrt auf.

Am 9. Januar begann das Kulturhauptstadtjahr mit einer großen und sehr schönen Eröffnungsfeier auf Zollverein in Essen. Das Wetter war für Januar optimal: Es lag Schnee und es war kalt – nicht das übliche Schmuddelwetter. Ein Höhepunkt gleich des ersten Tages: Das Ruhrmuseum wurde eröffnet. Das Fernsehen kümmerte sich um den Event allerdings nur am Rande. Und auch die abgelehnten Projekte fanden einen Weg, sich zu präsentieren.

Im Mai sollte die Regierung-Rüttgers abgewählt werden. Schon im Januar häuften sich die Skandale: Der damalige Umweltminister Uhlenberg sorgte für einen Justizskandal und Landtagspräsidentin Regina van Dinther fiel als Schnorrerin auf. Ein paar Genossen hielten zwar bei der RAG auch die Hand auf, aber das interessierte kaum mehr.

Spannend war es auch in Dortmund: OB Ullrich Sierau trat zurück und machte den Weg für OB-Neuwahlen frei – die er dann auch prompt gewann. Die SPD Mitglieder im Rat sahen das anders. Die Verhinderung von Neuwahlen ihres Gremiums stilisierten sie zu einer Frage der Ehre.

Ein Höhepunkt gleich zu Beginn des Jahres: Ein Interview mit dem Schriftsteller Leon de Winter. Weitere Themen: Das Centro als Ruhrgebietskiller und die Diskussion um den Nacktscanner.

Der Ruhrpilot

NRW: Mehrheit für Rot-Grün…RP Online

Loveparade: Ermittler wollen Namen nennen…Der Westen

Ruhr2010: Lehre aus Ruhr 2010…RP Online

NRW II: Linke uneins über Aus für Studiengebühren…RP Online

NRW III: Kraft will Bürger stärker bei Großprojekten beteiligen…RP Online

Dortmund: Friedlicher Protest gegen rechte Gewalt…Ruhr Nachrichten

Bochum: 1. Science Slam in der Christuskirche…Der Westen

Bochum II: Perfekter Start für Jugendclub young’n’rotten…Der Westen

Umland: Winterberg und die Medien…Zoom

International: Selbstmordwelle unter tunesischen Jugendlichen…A Tunisian Girl

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Senor Coconut meldete sich in Essen zurück

Es spielte schon deutlich auf die Elektropioniere Kraftwerk an, wie „Señor Coconut“ alias Uwe Schmidt hinter seinem Stehpult auf der Bühne fast unbeweglich den Laptop bediente – aber der umtriebige Workaholic steuerte nicht nur kühle Beats, sondern überließ auch bei einer der heißesten Latin-Combos nichts dem Zufall. Jede und jeder kam mächtig in Fahrt in der Zeche Zollverein – und jede Winterkälte schien binnen Minuten weggeschmolzen!

Ein Marimba – und ein Vibraphon, eine Salsa-Schlagzeugbatterie nebst Bläsersection befeuern den Sänger, der sich immer wieder auf die einschlägigste Coverversionen einschießt.  „Smooth Operator“, „Beat it“ oder „Smoke on the Water“, die zu den am häufigsten abgespielten Hits im ganzen Musikgeschäft gehören. Das Wagnis, an so etwas ganz peinlich zu scheitern, ist immens.

Aber Senor Coconut und die phänomenalen Musiker aus der lateinamerikanischen Wahlheimat vollbringen das Wunder, solch „ewige“ Standards aufs nachhaltigste von jeder Erstarrung angesichts ihrer unablässigen Wiederholung zu befreien, da es hier gelingt, mit extremer Einfühlung die „Codes“  (Senor Coconut) der Stücke zu erfassen und diese in neue Kontexte zu übersetzen.

Fabelhaft virtuose Soloparts verdichten die Intensität in den ausgiebig langen Stücken. Oft  groovt das Schlagwerk mit elektronischen Beatgewittern aus dem Computer des Bandleaders um die Wette, der zuweilen mit einer „Acid“-Modulation aus den Techno-Gründertagen humorvoll dazwischen zu funken weiß – und damit auch auf der Bühne seine bemerkenswerte Doppelexistenz als Elektronik-Künstler und Latin-Spezialist leben lässt. Ironie aus südländisch-lässigem Blickwinkel ist hier im Spiel- ein dezidiertes künstlerisches Konzept waltet im Hintergrund.

Grenzgänge wie diese gingen hatten einst in Kraftwerk-Adaptionen ihren Ursprung. Davon zeugen beim Essener Konzert „nur“ zwei Stücke, die aber mit ausgefuchster Dramaturgie und einem pantomimisch ausgeführten „Fahrradrennen“ auf der Bühne nochmal großes Theater bieten.

Die Macher der Konzertreihe in der Zeche Zollverein haben mit diesem Gastspiel wieder einmal Geschmack bewiesen.

PCB-Skandal: Envio außer Kontrolle

Im Frühjahr kam der PCB-Skandal bei der Dortmunder Firma Envio ans Licht der Öffentlichkeit, nachdem es bereits seit einigen Jahren Hinweise auf mögliche PCB-Vergiftungen gab. Fast dreihundert Menschen haben nach den bisher laufenden Untersuchungen bis zu 25.000-fach erhöhte PCB-Werte im Blut. Seit Mai ist der Betrieb dicht, Reinigung und Sanierung des vergifteten Geländes am Dortmunder Hafen gehen in die Millionen. Die Ruhrbarone berichteten mehrfach, hier, hier und hier. Im August wurde ein Runder Tisch eingerichtet, der in dieser Woche zum dritten und vorerst letzten Mal getagt hat. Leiter des Runden Tisches ist Eberhard Weber, der zwanzig Jahre lang DGB-Chef in Dortmund und dem Östlichen Ruhrgebiet war.

Eberhard Weber, Leiter des Runden Tisches

Herr Weber, was waren die Aufgaben des Runden Tisches in den vergangenen Monaten?

Der Runde Tisch, von Landesumweltminister Remmel und Landesarbeitsminister Schneider eingerichtet, sollte das Handeln der Behörden transparent machen, Informationen besser und verständlicher vermitteln. Er sollte den direkten Kontakt zwischen Betroffenen und Behörden herstellen sowie Anregungen und Probleme direkt an das Arbeits- und Umweltministerium herantragen. Es ging also darum, Konfliktmanagement zu betreiben und die Dialogstrukturen zwischen den verschiedenen Beteiligten und Interessensgruppen zu stabilisieren und zu verbessern.

Unterstützt die Firma Envio als Verursacher Sie bei der Lösung der Probleme?

Die Geschäftsführung von Envio vernebelt, blockiert und behindert unter anderem mit allen juristischen Mitteln jeden einzelnen Schritt der Behörden. Der Geschäftsführer Dirk Neupert und der Berater des Aufsichtsrates, Stockmann, sind in keiner Weise kooperativ, sondern erschweren die Aufklärung in außerordentlicher Weise.

Bei Envio handelt es sich um ein komplexes Firmengeflecht. Zwei Gesellschaften, die Envio Recycling GmbH und Co. KG und die Envio Geschäftsführungs GmbH, haben Insolvenz angemeldet. Mit welchen Folgen?

Die Bezirksregierung Arnsberg hat im Zuge einer so genannten Ersatzvornahme mit der Reinigung des PCB-vergifteten Geländes begonnen. Die Kosten hierfür gehen in die Millionen. Mit der Insolvenz besteht kaum die Möglichkeit, dass die Bezirksregierung das Geld von Envio zurückbekommt. Das heißt, der Steuerzahler bezahlt höchstwahrscheinlich die Sanierung, nicht der Verursacher.

Die Firma macht sich also aus dem Staub?

Ganz offensichtlich ist das die Strategie des Unternehmens. Envio lehnt jegliche Verantwortung ab. Die Hauptversammlung der Envio AG hat beschlossen, den Firmensitz von Dortmund nach Hamburg zu verlegen. Envio sollte sich da aber keine falschen Hoffnungen machen – die Behörden in Hamburg kennen die skandalträchtige Firma inzwischen sehr genau. Übrigens: Das gleiche technische Verfahren wie in Dortmund wendet Envio weiterhin in Südkorea an und verdient damit richtig Geld.

Was müsste sich ändern, damit eine Firma sich nicht in dieser Weise aus der Verantwortung stehlen kann?

Dazu wären grundsätzliche juristische und andere Fragen politisch zu lösen. Wir waren uns am Runden Tisch einig: Dieser Skandal hat gezeigt, dass der Eigennutz eines Unternehmens in unserem Land offensichtlich einen höheren Stellenwert hat als das Gemeinwohl. Dies ist politisch wie juristisch betrachtet völlig inakzeptabel. Der Schutz der Arbeitnehmer, der Anlieger und die Interessen benachbarter Unternehmen müssen Vorrang haben vor wirtschaftlichen Einzelinteressen eines Unternehmens, das nach verbreiterter Auffassung kriminell gehandelt hat.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Envio. Müsste das nicht schneller gehen?

Die Staatsanwaltschaft Dortmund ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung, Umweltschutzdelikten, Betrug und Steuerhinterziehung. Natürlich wünscht sich die Bevölkerung, dass das schneller geht. Aber das Ganze ist rechtlich außerordentlich komplex. Es wäre eine Katastrophe, würde die Staatsanwaltschaft Klage erheben und Envio in einem Gerichtsverfahren als Gewinner aus dem Saal gehen. Daher müssen die Sachverhalte sehr sorgfältig recherchiert werden. Auch wenn eine höhere Dynamik wünschenswert wäre, gilt hier Gründlichkeit vor Schnelligkeit.

Die Bezirksregierung Arnsberg ist die zuständige Genehmigungs- und Aufsichtsbehörde für Envio. Wenn in den vergangenen Jahren überhaupt Kontrollen stattgefunden haben, dann fast ausschließlich angemeldete – selbst nach Hinweisen auf mögliche PCB-Vergiftungen durch die Firma. Wie kann so etwas sein?

In Nordrhein-Westfalen wurde spätestens seit Anfang dieses Jahrzehnts der staatliche Arbeits- und Umweltschutz geschliffen, als überflüssige Bürokratie politisch diskreditiert. Hierfür stand insbesondere Wolfgang Clement. Anschließend hat Ministerpräsident Rüttgers diese Linie ab 2005 mit der Parole „Privat vor Staat“ weiterverfolgt. Der Arbeits- und Umweltschutz wurde massiv umstrukturiert und die personellen Ressourcen erheblich verringert. Seit dem Jahr 2000 wurden die Stellen in der Umweltschutzverwaltung im Regierungsbezirk Arnsberg um mehr als fünfzig Prozent gekürzt, im Arbeitsschutz um über dreißig Prozent. Damit ist ein wirksamer aktiver und vorbeugender Arbeits- und Umweltschutz nicht mehr möglich.

Das erklärt aber noch nicht, warum die wenigen Kontrollen angemeldet waren.

Die Bezirksregierung begründet das unter anderem damit, dass es notwendig sei, bei einer Kontrolle unmittelbar mit den kompetenten Personen aus einem Unternehmen in Kontakt zu treten. Ich halte diese Begründung für fadenscheinig. Eine wirksame Kontrolle ist nur dann möglich, wenn sie unangemeldet stattfindet. Dies gilt auch für nach ISO (International Standardization Organization) zertifizierte Unternehmen, deren Produktion und Verwaltung bestimmten Regeln folgt. Die Envio Recycling GmbH war zertifiziert. Der Wert dieser Zertifizierung in Bezug auf Umwelt- und Arbeitsschutz tendiert offenbar gegen null. Auch hier erwarten wir künftig von der Landesregierung wirksame Vorgaben an die zuständigen Genehmigungs- und Kontrollbehörden.

Wenn die Begründung der Bezirksregierung fadenscheinig ist, was ist dann der eigentliche Grund?

Die Bezirksregierung hat der Öffentlichkeit bisher nicht gesagt, dass sie aufgrund der mangelnden personellen Ressourcen nicht in der Lage ist, wirksame Kontrollen durchzuführen. Warum die Kontrollen fast immer angemeldet wurden, kann ich nicht nachvollziehen. Darüber gibt es viele Spekulationen, aber die helfen aktuell nicht weiter.

Arbeits- und Umweltschutz nicht wirksam kontrollieren zu können, war also von der Landesregierung politisch gewollt?

Ganz offensichtlich hat die Bezirksregierung bisher eine Politik nach Maßgabe „Genehmigung vor Kontrolle“ praktiziert. Der neue Arnsberger Regierungspräsident Gerd Bollermann bemüht sich seit seinem Amtsantritt um eine neue Offenheit und Transparenz der Bezirksregierung gegenüber der Öffentlichkeit. Dies ist allerdings noch nicht bei allen leitenden Mitarbeitern seines Hauses gleichermaßen angekommen. Die Bezirksregierung und ihre Mitarbeiter wären gut beraten, ihr Dilemma offen darzustellen und die Medien nicht als ihre Feinde zu betrachten. Für die zu geringen Ressourcen für einen wirksamen Arbeits- und Umweltschutz ist schließlich die Landesregierung verantwortlich.

Die Landesregierung hat eine interne und eine externe Untersuchung in Auftrag gegeben, um Lehren aus dem Envio-Skandal zu ziehen. Sie beklagen, dass die beiden Studien nach nunmehr vier Monaten immer noch nicht vorliegen. Woran hapert’s?

Behördenintern wird untersucht, wie sich die betroffenen Institutionen im Fall Envio verhalten haben. Zusätzlich haben das Arbeits- und das Umweltministerium im Juli/August eine externe Studie in Auftrag gegeben, die die Vorgänge rund um Envio untersuchen soll. Vor dem Hintergrund der Einzigartigkeit dieses Skandals hätte ich erwartet, dass zumindest die interne Evaluierung innerhalb von zwei Monaten vorgelegt worden wäre. Warum sich die Veröffentlichung so lange hinzieht, ist kaum nachzuvollziehen. Zumal die Landesregierung eine schnelle und umfassende Aufklärung versprochen hat. Auch hier wäre eine höhere Dynamik im Interesse der betroffenen Beschäftigten, Anwohner und Unternehmen wünschenswert. Nach aktuellem Diskussionsstand sollen beide Untersuchungen nunmehr Ende Januar, Anfang Februar veröffentlicht und auch am Runden Tisch diskutiert werden.

Was erwarten Sie von den Studien?

Der genaue Untersuchungsgegenstand ist uns nicht bekannt. Wir gehen aber davon aus, dass beide Studien Hinweise dazu geben, wo Fehlverhalten stattfand und wie in Zukunft ein wirksamer staatlicher Arbeits- und Umweltschutz aussehen muss. Aus Sicht des Runden Tisches müssen die personellen und anderen Ressourcen im Arbeits- und Umweltschutz deutlich aufgestockt werden. Außerdem fordern wir eine engere Zusammenarbeit zwischen Arbeits- und Umweltschutz. Darüber hinaus müssen Qualitätsstandards für Arbeit und Arbeitsbeziehungen definiert werden, denn auch die überbordende Inanspruchnahme von Leiharbeit hat zum Envio-Skandal beigetragen.

Wie bewerten Sie das Instrument des Runden Tisches zur Aufarbeitung des Envio-Skandals?

Es war hilfreich, um die Kommunikation zwischen allen Beteiligten zu verbessern. In Dortmund ist dieses Instrument erstmals zum Einsatz gekommen und war in der politischen Kultur dieser Stadt etwas Neues. Das Arbeits- und das Umweltministerium haben den Runden Tisch ins Leben gerufen. Problematisch war, dass dies im Vorfeld offenbar nicht hinreichend mit der Bezirksregierung, der Stadt Dortmund und den Fachbehörden verabredet wurde. Der Runde Tisch sollte die Kommunikation verbessern, Krisenmanagement betreiben und Empfehlungen erarbeiten. Er war kein Gremium, in dem politische Entscheidungen getroffen wurden. Dies wurde von Parteipolitikern nicht immer verstanden.
Runde Tische können eine sinnvolle Ergänzung zum repräsentativen parlamentarischen System sein. Sie können komplexe Probleme transparenter machen und Vertrauen schaffen. Die an der einen oder anderen Stelle noch immer favorisierte Macht- und Durchsetzungspolitik trägt heute nicht mehr. Wir brauchen erweiterte Formen der Kommunikation, um die politische Kultur in unserem Lande weiterzuentwickeln.

Der dritte und letzte Runde Tisch hat diese Woche stattgefunden. Was passiert nun?

Ich habe die Empfehlung an die Stadt Dortmund und die Bezirksregierung gegeben, das bestehende Netzwerk weiter zu stärken, eine „Kopfstelle“, vielleicht in Form eines Ombudsmanns einzurichten. Dazu ist es notwendig, dass sich die Stadt, die Bezirksregierung und das Land über die Ausgestaltung und die Aufgabenstellung verständigen. Denn eines ist sicher: das Thema Envio und die Folgen sind noch über Jahre zu bearbeiten.

Können Sie sich vorstellen, dieser Ombudsmann zu sein?

Für mich stellt sich diese Frage nicht.

Was ist das Fazit der Vergiftung durch Envio?

Ohne wirksame staatliche Kontrolle kann man Unternehmen, die Regeln und Gesetze gezielt umgehen, keinen Einhalt gebieten. Die Politik ist dafür verantwortlich, den Behörden entsprechende Kontrollen vorzuschreiben und sie mit den nötigen personellen, organisatorischen und finanziellen Ressourcen auszustatten.

LIEBER NULL BOCK ALS ‚NE BUDE VOLL SCHAFE – jesus freaks @ freakstock2010

Du bist nichts, Jesus ist alles. Glaube uns, glaube an Gott. Gottes Spross ist der neue Lifestyle. Jesus ist hip. Jesus ist crazy. Jesus ist ein Freak. Entdecke den Glauben neu. Entdecke die Jesus Freaks, die Subkultur der christlichen Glaubenswelt. Punks, Kreative, Freigeister – ohne die Angst vor der Zwangsjacke klerikaler Dogmen. Verbrenne auch Deine Angst im Feuer ihrer Gemeinde. Vergesse Dich selbst und steige mit ihnen in höhere Sphären. Jesus ist Dein Ticket zur Erlösung. Nie wieder allein, ohne Führung oder Schutz. Glaube uns. Wir haben uns auf die Suche nach Gott begeben – auf dem Freakstock in Borgentreich, dem Jahresevent der Jesus Freaks. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

(diese und andere stories auf echtem papier im aktuellen ruhrbarone-magazin. einfach bestellen.)

Ein Freak (aus dem Englischen freak: „Krüppel, Verrückter, Unnormaler“) ist umgangssprachlich eine Person, die eine bestimme Sache, zum Beispiel ihr Hobby, über ein „normales“ Maß hinaus betreibt, diese Sache zum Lebensinhalt macht oder sich zumindest mehr als andere darin auskennt, z. B. ein Computerfreak. Ein Freak kann auch eine bestimmte, zumeist unangepasste oder „flippige“ Lebensweise verkörpern.

„Die Jesus Freaks sind mir zu dumm, da hab ich keinen Bock mehr drauf.“ Otto steht auf dem frisch gemähten Weizenfeld vor dem Freakstock. Trotzig und steif wie ein kleiner Junge. „Echt nicht. Ich will hier nur mein Bierchen trinken und Festival machen. Punkt.“
Schlange betrachtet den kauzigen Kerl. Alter, was machst du dann hier? Ottos Gesicht bleibt hölzern, kein Anzeichen von Ironie, kein konspiratives Zwinkern. Breitbeinig verharrt er vor Joswigs Kombi und prostet den beiden Neuankömmlingen zu. Die Reporter heben ihre PET-Biere – irritiert und fasziniert zugleich. Warum ist der erste Typ, dem sie auf dem Jesus-Freaks-Festival begegnen gleich ein Zweifler? Plastikflaschen platschen zusammen.
Otto ist kein Styler – nicht so wie die übrigen Typen hier. Bierplauze, stabile Statur, Sesamstraßen-Shirt. Ein dicker Samson mit spärlichem Haar und traurigen Augen hinter der Lesebrille. Mitte dreißig vielleicht: ein Pendel zwischen Schuljunge und alterndem Computer-Geek.
Es ist Freitag kurz nach drei. Mit trockener Miene nuckelt Otto an seinem Bierchen wie ein verlorenes Kind an einem Lolly. Ein Meer aus goldenen Ähren zeichnet in seinem Rücken den Horizont. Darüber zarte Wölkchen wie blasse Deckweiß-Tupfer auf azurfarbener Leinwand. Ein Bild aus Gottes Malkasten.
Vor fünf Minuten sind Schlange und Joswig auf dem Festivalgelände angekommen. Zwei Stunden von Wattenscheid nach Borgentreich, einem 9000-Einwohner-Dörfchen in der Nähe von Kassel. Winziges Kaff, altes Auto, nervenaufreibende Fahrt. Zur Belohnung jetzt zwei Biere auf der Ladefläche ihres Opel Astras.
Schlange beugt sich aus dem Schatten des Kofferraums: „Und, wie ist das Festival?“
„Keine Ahnung,“ nuschelt Otto gleichgültig. „Ich bin zwar seit gestern da, war aber noch nicht auf dem Gelände.“ Er ignoriert die fragenden Gesichter vor ihm.
Das Stoppelfeld ist der Parkplatz zum Festivalgelände. Zwischen den Autos zelten die ersten Freaks. Zwei Skaterboys, vielleicht 17 oder 18, marschieren an den Bierjüngern vorbei Richtung Feldrand.
Joswig grüßt: „Wohin geht’s, Jungs? Aufs Gelände?“
Bevor der Jüngere von den beiden antworten kann, packt ihn sein Freund an der Schulter und zerrt ihn weiter. „Komm mit. Lass die in Ruhe.“
Joswig dreht sich zu Otto. „Sag mal, kamst du nicht grad von denen?“
Otto zuckt mit den Schultern. „Die saßen da schon, als ich gestern gekommen bin. Hatte aber Stress mit denen, weil ich gern wichse und zu Nutten gehe. Das kommt hier nicht so gut.“ Sein schlaffer Mund hebt sich fast unmerklich zu einem Lächeln. „Ich treff mich nachher noch mit ein paar Leuten, die ich von früher kenne.“
Otto hatte eine schwere Zeit, wie er sagt, hat viel auf der Jesus-Freaks-Seite gechattet, ist so in die Szene gerutscht. Heute wäre er so gut wie raus. „Denken und die Freaks vertragen sich nicht besonders. Ab und zu bin ich noch Frustbeter – wie die meisten Menschen. Aber in erster Linie Frusttrinker.“ Dieses Mal ziehen sich seine Mundwinkel einen halben Zentimeter höher. „Und – wie gesagt – ich hab halt noch die Freunde von früher.“
Schlange und Joswig leeren ihre Flaschen, packen neues Bier in die Tasche und verabschieden sich von Otto. Ein komischer Auftakt für ein Festival. Glaubenskriege auf dem Parkplatz. In der Heckscheibe eines weißen Bullis prangt in großen Buchstaben: „Jesus, sonst nichts.“ Otto bleibt allein auf dem Feld zurück.

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit – es kommt der Freak der Herrlichkeit.“
aus der Pressemitteilung zum Freakstock

Erste Erkundungstour: Vom Feld runter geht es zum Festivalgelände. Rechts und Links hängen an den steinernen Mauern zur Eingangspforte Banner. „Welcome home – Freakstock loves you.“ Eine scharfe Rothaarige in Hotpants und zerschlissenen Netzstrümpfen tippelt vor Schlange und Joswig durchs Tor. Zwei heiße Emo-Mädchen mit dunklen Retro-Brillen lungern auf Bänken neben dem Infoschalter. Die beiden Neuankömmlinge lächeln – welcome to paradise.
Wie echte Teufelskerle betreten sie den heiligen Boden und steuern zum Infoschalter. 80 Euro – der Preis eines Tickets. Ein gnädiger Ablass für echte Freaks. Arbeitslose zahlen 50 Euro. Schlange und Joswig lassen sich akkreditieren. Mit ihren Bändchen am Handgelenk erkunden sie das Gelände.
Großartige Location für ein Festival: ehemalige Kaserne, leicht verwildert, viel Grün. Die Gebäude sind gekennzeichnet vom Charme abbröckelnder Fassaden und leerstehender Ruinen. Der militärische Schmiss ist der Kraft der Subkultur gewichen. Kleine Kinder mit Afros und Iros rennen zwischen Emos und Ethnos, Punks und Proleten, Rockabillys und Metallern hindurch. Mütter mit Bullenringen in der Nase stillen ihre Babys, greise Rock-Veteranen laufen Patrouille, Grüppchen hocken zusammen und machen Musik. The Spirit of Woodstock.
Als sich die Jesus Freaks vor knapp zwei Jahrzehnten zu einer christlichen Bewegung zusammen schlossen, nahmen sie die Jesus People zum Vorbild, ein klerikales Überbleibsel der amerikanischen Hippiekultur der 60er und 70er Jahre. Jung, christlich und verrückt, wollte man damals sein. Die Freaks sind die Kinder der Flower Power-Ära. Frei im Geist, ohne Konventionen und Schranken. Einzig die Ergebenheit und grenzenlose Liebe zum Heiland ist wichtig.
Zwischen den Zelten sind Girlanden aus alten Stoffresten gespannt, der Asphalt ist bunt von Malkreide und vor den Eingängen zu den verschiedenen Bühnen und Clubs für Punk, Metal und Electro-Musik, die sich teilweise in den Kasernen-Kellnern verlieren, stehen selbstgemalte Schilder aus Schwarzlichtfarben.
Schlange und Joswig kommen in Festivalstimmung. Frauen in natürlicher Schönheit. Typen mit Schnäuzern und faustgroßen Tunneln in den Ohrläppchen. Junge Familien mit Bollerwagen und Skateboard. Style, Kreativität und viel Liebe fürs Detail. Hier marschiert der Individualismus in Gottes Gleichschritt. Goa-Party im Christen-Mantel. Piercings, Tattoos, Dreads, Batikhosen und riesige Hornbrillen. Lifestyle pur. Die beiden Reporter arbeiten sich immer tiefer hinein. Jeder lächelt sie an, die meisten grüßen freundlich.
Auf der Hauptbühne erzählt ein junges Mädchen von ihren Pilgererfahrungen, vom Jakobsweg, von den Muschelsymbolen, die in ganz Europa den Pfad zur Pilgerstätte in Santiago de Compostela säumen. Ein Meer von jungen Menschen, Freaks in den unterschiedlichsten Farben und Formen, hat sich um die Bühne versammelt und hört andächtig zu.
Schlange bleibt stehen: „Abgefahren, Alter. Lass uns die Klamotten aus der Karre holen. Ich will hier endlich ankommen.“

Zurück am Parkplatz: Komische Szenen. Otto ist weg, dafür stehen drei Frauen und rund zehn Metalleimer am Ende des Feldes. Kleine Grüppchen wandern auf sie zu, schmeißen Steine in die Tonnen und bekommen etwas von den Mädels in die Hand gedrückt. Joswig betrachtet das Schauspiel.
„Was in Herrgotts Namen tun die da?“
Schlange zuckt mit den Schultern und konzentriert sich darauf Wodka, Soda und Apfelsaft in einer Wasserflasche zu mixen. Er grinst und hält die Pulle hoch: „Saft vom Baum der Erkenntnis!“ Schlanges Erbsünde im 1,5 Liter-Format.

Genesis, Kapitel 3, Vers 12: „Das Weib, das du mir zugestellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß.“

Die beiden Teufelskerle latschen mit zwei Steinen zu den Metalleimern und pfeffern sie hinein. Eine süße Brünette reicht jedem eine Leckmuschel, diesen gegossenen Zucker im Plastikförmchen.
„Auspacken, schlecken und über Erlösung nachdenken“, haucht sie sanft. Schlange packt die Muschel in die Tasche. Joswig hat seine bereits aufgerissen und beginnt fleißig zu lecken. Wortlos folgen sie den übrigen Gruppen zu einem Feldweg. Mit Kreide sind Muscheln auf den Boden gezeichnet. Ein Mini-Pilgerweg.
Eine Gruppe junger Dinger wandert vor den beiden Reportern her. Enge Leggings und kurze Röcke. Joswig nimmt seine Muschel vom Mund. „Oh, Mann. Wie soll man denn bei so vielen geilen Perlen und ner Leckmuschel im Maul über Erlösung nachdenken? Das ist doch völliger Irrsinn.“
Schlange grinst. „Umdrehen, Zelt aufbauen und weiter trinken?“
Joswig nickt und schmeißt die Muschel weg.
Die zwei machen Kehrt und laufen gegen den Strom der Pilgerer zum Wagen zurück. Böse Blicke und stumme Flüche. Sind Gottes Wege Einbahnstraßen?

Erster Brief an Thimoteus, Kapitel 5, Vers 15: „Denn es sind schon etliche umgewandt dem Satan nach.“

Mit Zelt, Schlaf- und Rucksäcken beladen stehen Schlange und Joswig am Eingang zum Gelände. Eine kleine Blondine ohne BH, dafür aber mit Piercings in den Grübchen kontrolliert die Bänder.
Schlange: „Sag ma, können wir hier überall, wo Platz ist, unser Zelt hinpacken?“
Das Blondchen lächelt. „Ja, klar. Auf allen Wiesen. Nur nicht auf den Straßen.“
Joswig prustet. „Äh, schon klar. Man bekommt ja auch so schlecht die Heringe in den Asphalt.“
Die Maus schreckt auf. „Nein, nein, nein, das ist doch verboten. Nur auf den Wiesen.“
Schlange und Joswig wechseln wortlos einen Blick. Jesus liebt alle Menschen.

Die Sonne brennt unbarmherzig vom Firmament. Schattenplätze sind ausnahmslos belegt, Zeltstädte haben sich dicht gedrängt um die Bäume zum kühlen Sit-in versammelt. Kaum Alternativen. Schlange und Joswig schleppen sich über den Platz. Schweißgetränkt, stöhnend und erschöpft.
„Boar, lass uns hier bleiben.“ Direkt in der Mitte des Festivalgeländes auf einer kleinen Landzunge neben dem Hauptverkehrsweg bleibt Joswig stehen. Zum Toilettenhaus, zu den Fressbuden, den Bühnen, zu dem Info- und Seelsorgezelt keine zwanzig Meter. Die dröhnenden Lautsprecherboxen, die gröhlende Menge, die kotzenden Teenies – ab 23 Uhr für die beiden Teufelskerle kein Schlafhindernis. Erfahrungswert.
„Und da campen Schweizer direkt neben uns. Die Schweiz ist immer neutral.“ Joswig lässt seine Brocken fallen. Zeltaufbau.

„Scheiße, ist das heiß.“ Schlange wischt sich die Stirn trocken. Schwarzes T-Shirt, Jeans, Turnschuhe – nicht das ideale Outfit für diese Hitze.
„Dann zieh dir ne kurze Buchse und nen paar Flip Flops an.“
„Hab ich nicht dabei. Nur die Klamotten, die ich trage, und zwei T-Shirts zum Wechseln.“
„Schlechte Vorbereitung.“
„Ach, Scheiße“, knurrt Schlange. „Schlechte Vorbereitung. Im Wetterbericht stand kühl und bewölkt. Son Scheiß. Ich hab noch nicht mal Flip Flops dabei.“
Joswig schaut auf seine Flip Flops, grinst. „Mal wieder.“
„Ja, mal wieder.“ Schlange schmeißt seinen Rucksack ins Zelt und schnappt sich die Flasche Wodka. „Warte nur ab, Gott lässt niemanden ungestraft davonkommen. Du kleiner Ginger wirst hier auch noch dein Fett weg kriegen.“ Er nimmt einen Schluck Wodka. „Kennst doch den Spruch: Rote Haare Sommersprossen sind des Teufels Artgenossen.“

Später Nachmittag. Joswig sitzt mit nackten Füßen und einer Kippe im Mundwinkel vor dem Iglu, trinkt Bier und wartet auf Schlange. Sein Kompagnon ist auf Feinripp und barfuß umgestiegen und mit dem einzigen Paar Flip Flops zum Klo verschwunden.
„Bibelstellen für einen Euro! Ich lese Bibelstellen für einen Euro!“ Melodisch skandierend läuft ein kleiner Bursche über die Straße: Mittelscheitel, lange Haare, eingefallene Wangen. Höchstens 1,65 Meter. Bei jedem federnden Schritt wippen seine Haare auf und ab. „Ich lese für euch aus der Bibel. Nur einen Euro.“ Seine Stimme hat einen nervigen Helium-Ton.
„Ey, komma her.“ Joswig, der rotgelockte Beelzebub, winkt den Burschen herbei.
„Ja, was kann ich dir vorlesen?“ Nervös zappelnd wie ein Junkie auf Entzug hockt sich der Typ vor das Iglu-Zelt und rollt wild die blassen Augen.
„Was gefällt dir denn am besten aus der Bibel?“, nöhlt Joswig mäßig interessiert.
„Was mir am besten gefällt? Ähm, lass mal überlegen.“ Die kleine Speed-Birne hibbelt auf und ab. Hektisch und rastlos, von der Frage überfordert. „Ähm, vielleicht die zehn Gebote? Die find ich echt saugeil.“
„Dann lass mal hören.“ Der rothaarige Teufel lehnt sich zurück.
Weil der fahrige Vorleser nicht die passende Bibelstelle findet, rezitiert er aus dem Gedächtnis. Nach den ersten Geboten kommt der Freak ins Straucheln. „Ähm, Du sollst keine anderen Götter neben ihm haben.“
Ein ermutigendes „Ja“ von Joswig.
„Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Pause. Nervöses Wippen. „Joa, jetzt weiß ich schon nicht mehr.“
„Das waren aber nicht viele.“
„Nee, nee, warte. Du sollst das Weib deines Nächsten nicht begehren.“
Joswigs Blick schweift ab. „Okay, fünf.“
„Ich war schon bei fünf“, kontert der Zappelphilipp schnippisch.
„Ah so. Also sechs.“
„Ja.“
„Nicht schlecht. Dann lies was vor.“
„Oh, Mann. Ich und lesen … Aber ist eigentlich ganz gut, dann lerne ich das auch mal.“ Er stammelt los. Irgendeine beliebige Stelle. Joswig lässt sich nach hinten fallen. Ein Euro – müssten sechs Gebote nicht nur 60 Cent kosten?

Bis zum Treffen mit dem Pressesprecher des Freakstocks, Martin C. Hünerhoff, um halb acht streunen die beiden Teufelskerle über den Platz. Joswig hält sich eisern am Bier fest, Schlange bleibt beim Saft der Erkenntnis. Süffiger Sündenfall.
Von der großen Herzstück-Bühne, dem Mittelpunkt des ganzen Musikgeschehens, dröhnt Crustcore-Geknüppel, im souterrain gelegenen Raketenklub wummert Electro, auf der Openstage im Keller der Kasernenkapelle hat sich irgendeine Punkband breit gemacht und schrammelt fromm vor sich hin. Hinter den Punks ein gekreuzigter Jesus in Schwarzlichtfarben auf einem Bettlaken an die rohe Kellerwand genagelt. Typen mit krassen Christen-Shirts laufen über den Platz – mit „Jesus Demon Hunter“ oder „Jesus Terror Force“ auf der Brust. Tätowierte Glatzen und Schnauzbärte in ungewöhnlich hoher Anzahl. Schlange streicht sich über die Mundwinkel. Die ganze Kaserne ein einziger freaky Laufsteg voller Hipster.
Hünerhoff hat sein Büro im Gebäude des Informationsschalters am Festivaleingang – zusammen mit den Helferräumen und dem Arbeitsamt des Freakstocks. Schlange klopft an die trübe Milchglastür und wankt ins Büro. Joswig hinterher. Hünerhoff sitzt in einem karg eingerichteten Büro vor einem kleinen Fenster und telefoniert. Der Schreibtisch, die Möbel noch immer im spartanischen Kasernenlook der 70er Jahre. Schlange streift seine Wodkaflasche ab, die er mit einer rotweißen Schlaufe aus Absperrband über der Schulter trägt, und lässt sie dumpf zu Boden fallen.
„So, ihr seid also die Jungs von der Presse.“
„Jipp.“
Hünerhoff legt sein Iphone beiseite und beugt sich über den Tisch. Ein weicher Typ, vielleicht Anfang dreißig, mit schelmischem Gesicht und Emo-Scheitel. Seine schwarze Kunstlederjacke glänzt in der einfallenden Abendsonne. Der Michael Knight der Jesus Freaks.
„So, was kann ich euch zum Festival erzählen?“
„Ich weiß nicht, hasse erstma sowas wie ne Pressemappe zum Freakstock?“ Schlange lallt. Buchstaben bleiben auf dem Weg nach draußen unter seinem Gaumen kleben. Er dreht sich zu Joswig, der prompt die Konversation und das Notieren der relevanten Informationen übernimmt.
Das erste Freakstock fand 1995 in Wiesbaden statt, seit vergangenem Jahr wird nach Borgentreich in die Kaserne geladen. Das Gelände gehört der koptischen Kirche und wird den Freaks frei zur Verfügung gestellt. Einige Kopten-Familien wohnen fest auf dem Kasernenhof. Neben den Konzerten werden auch viele Workshops angeboten – von Kunstkursen über Bibelarbeit bis hin zur Reparatur von alten Autos. Nach eigenen Angaben sind 4000 Besucher vor Ort.
„Und kannst du uns auch noch was zu den Jesus Freaks an sich erzählen?“, hakt Joswig nach.
„Ach, da kenn ich jemanden, der euch das viel besser erzählen kann.“ Hünerhoff schaut auf seine Uhr. „Martin Dreyer, einer der Gründer der Freaks, liest gerade aus der Volxbibel im Artland.“
„Volxbibel?“
„Ja, ja, eine freie Bibelübersetzung von ihm in Jugendsprache. Bei manchen umstritten, aber ganz interessant. Könnten wir noch schaffen.“
Schlange schnappt seine Flasche und steht wankend auf. „Dann nichts wie hin.“

Das Artland ist ein kleines, grün überwuchertes Haus am Rande des Geländes. Biergartentische und Bänke laden unter einem Dach aus Kletterpflanzen zum abendlichen Plausch. Schrebergarten-Ambiente auf dem Freak-Festival. Die beiden betrunkenen Teufelskerle torkeln an den Bänken vorbei hinter Hünerhoff ins Gebäude.
Keine zehn Zuhörer hocken um eine kleine Bühne, auf der ein Bursche mit Basecap und ärmellosem Shirt sitzt – Martin Dreyer, der Gründer der Jesus Freaks. Die drei Neuankömmlinge stellen sich abseits in den Eingang zum Saal, den Blick zum Podium gewandt.
Dreyer, Baujahr 65, spricht mit weicher, eindringlicher Stimme. Ein großer Mensch, hünenhaft, mit kräftigen Armen und sanftem Blick. Sympathisch erzählt er seinem Publikum von der Geschichte Jesu Christi.
„Boar, ich glaub, ich geh jetzt erstma pissen.“ Schlange haut Joswig in den Rücken. „Gib ma die Flip Flops.“

Als er vom Klo zurückkommt, schießt er Joswig die Schlappen vor die Füße. Der Beelzebub verschwindet. Bei seiner Rückkehr sieht er Schlange hinter Hünerhoff am Boden krauchen und Geldmünzen aufsammeln.
„Alter, was machst du da?“
Schlange steckt Geld in sein Portemonnaie. „Ist schon gut. Ich mach das schon. Alles unter Kontrolle. Aus dem bekackten Ding fällt immer alles raus.“
Dreyer ist mittlerweile mit seiner Lesung durch. Die zwei Festival-Reporter haben außer ein paar Satzfragmenten (Jesus, Volxbibel, Jesus, Jesus, Tschüss) nichts mitbekommen. Hünerhoff dreht sich zu Joswig. „So, der Martin kommt gleich raus zu den Tischen. Dann stell ich euch vor und ihr könnt noch ein bisschen reden. Kommt ihr mit?“
„Alles klar.“ Joswig lächelt. Schlange ruft unter einem Tisch hervor. „Kleinen Moment, bin sofort da.“

Dreyer sitzt an einem der Biergartentische vor dem Artland, Schlange und Joswig ihm gegenüber. Joswig fragt und notiert, Schlange lächelt schief.
„Wie kam es genau zur Gründung der Freaks?“
Dreyer hat dunkle Frauenaugen. Geschwungen, als seien sie mit Kajal umrandet. Wässrig und ein bisschen traurig. Er schaut Joswig freundlich an. Die Jesus Freaks wurden 1991 in seinem Wohnzimmer im Hamburger Schanzenviertel gegründet. „Weil wir in den Pfarrheimen nicht rauchen durften“, sagt er. „Gott hat dafür gesorgt, dass man sich gefunden hat.“ Mittlerweile gäbe es über hundert Freak-Gemeinden in ganz Europa.
Er nimmt einen Schluck Wasser. Dreyer ist freikirchlicher Pastor, Drogenberater, Ex-Junkie und Charismat. „Die Volxbibel habe ich geschrieben, weil ich eine Bibel haben wollte, die jeder versteht. Auch die unteren Bildungsschichten, auch der Mehmet bei mir im Jugendzentrum.“ Die Volxbibel sei eine sehr freie Übersetzung. „Ich sag immer Übersetzung, weil Übertragung zu missverständlich ist. Der Mehmet denkt dann an Fußball-Übertragung.“ Immer dieser Mehmet.
„Hast du die Original-Texte als Grundlage genommen?“
„Irgendwie schon. Ich habe ein Word-Dokument mit vier Spalten aufgezogen. In die ersten drei kamen die Luther-, die Elberfelder- und die Gute-Nachricht-Bibel. Die vierte Spalte habe ich dann selber gefüllt.“ Mittlerweile sei die Volxbibel, die bei ihrer vierten Auflage liegt (Volxbibel 1.0, 2.0, 3.0, 3.0 reloaded), zu einem Opensource-Projekt nach dem Wiki-Prinzip gewachsen. Von fast tausend Usern seien die Wiki-Seiten 1,2 Millionen Mal aufgerufen worden. Buchauflage 150.000. (Anmerkung: Jeder kann mitschreiben. Einer der Wikiuser zur Volxbibel 3.0 reloaded arbeitete unter dem prophetischen Pseudonym „Esgibtkeinengott“. Auch ihm wurde herzlichst gedankt.)
Joswig schaut auf. „Noch ein abschließendes Motto für unsere Leser.“
Dreyer schießt aus der Pistole. „Lebe Jesusmäßig! Das Wichtigste ist dabei die Liebe. Liebe Gott, Deinen Nächsten und Dich Selbst.“
„Danke.“ Schlange und Joswig wanken zum Zelt.

Es ist halb zwölf. Joswig bleibt vor dem Iglu sitzen, raucht und trinkt Bier, Schlange knallt sich in den Schlafsack. Durch die Zeltwand hindurch hört er irgendwann Stimmen. Ein Mädel hat sich zu Joswig gesetzt und erzählt – vom Glauben, von der Liebe zu Jesus und der Unabhängigkeit von der Institution Kirche. Schlange schläft ein.

Der erste Brief des Petrus, Kapitel 3, Vers 12, Volxbibel-Übersetzung: Gott sieht auf die Leute, die okay für ihn leben, und er hört auf ihre Gebete. Wer aber Sachen tut, die Gott nicht will, auf den hat er überhaupt keinen Bock.

Der nächste Morgen, aufstehen. Direkt tapert Joswig schlaftrunken zum Frühstückszelt. Kaffee, er braucht Kaffee. Weiße Pavillons vor einem der Kasernenhäuser. Die ersten Helfer tragen Brötchen, Säfte und Kaffee raus, stellen alles unter die weißen Zelte zum Verkauf.
„Morgen“, trällert Joswig übertrieben zu einer Perle mit Dreads und Nasenpiercing. „Kann ich hier nen Kaffee bekommen?“
Die Frühstücksperle gibt sich konfus: „Ja, nee. Hier gibts nur komplettes Frühstück.“
Joswigs Lächeln gefriert. Er mault: „Och, komm. Ich will doch nur eine Tasse Kaffee.“
„Nee, du. Is nicht. Hier nur komplett. Kaffee gibts am Kaffeezelt anner Mainstage.“
Joswig wirft einen letzten Blick auf die dampfenden Kannen unter dem Pavillon und trottet gefrustet zurück zum Iglu. Herr, schmeiß Kaffee vom Himmel.

Schlange sitzt vor dem Zelt in der Sonne und erwartet ihn bereits. „Ich brauch die Flip Flops für meine Morgentoilette.“, brüllt er. Joswig schmeißt ihm die Schlappen widerwillig hin. Verdammter Kaffee-Entzug. „Danke sehr“, trällert Schlange übertrieben zurück.
Auf dem Weg zum Klo liegt ein junges Pärchen gemeinsam auf einer Bank im Sonnenlicht. Er hat seinen Kopf in ihren Schoß gelegt. Sie streicht durch sein Haar und erzählt: „Du, ganz ehrlich. Ich glaub, der Teufel ist für Männer ne total heiße Blondine und für Frauen ein echt heißer Typ. Es geht immer um die Schwachpunkte, weißt du?“ Die beiden sind vielleicht 13. Schlange geht weiter. Der Teufel will gerade nichts als Kaffee.

Der zweite Brief an die Korinther, Kapitel 4, Vers 4, Volxbibel-Übersetzung: Satan, der ja in dieser Welt das Sagen hat, kann die Gedanken von den Leuten, die Gott nicht vertrauen, total verwirren. Er hat dafür gesorgt, dass sie überhaupt nicht begreifen, wie toll Gott ist. So können sie überhaupt nicht begreifen, was abgeht, wenn wir von unserer superneuen Neuigkeit reden, dass Jesus wirklich Gott ist, der zu uns auf die Erde runtergekommen ist.

Erneute Schlappenübergabe am Iglu. Joswig zieht eilig zur Mainstage – auf der Suche nach dem Kaffeezelt. Vergebens. Letztlich landet er an Krugels Coffee Bar, eine Festival-Version von Starbucks. Die Bibel gibt es bereits für 1,50 Euro zu kaufen. Kaffee 2,50 Euro. Göttliche Preispolitik auf dem Freakstock.

Zwei Burschen latschen an Schlange vorbei, der dösend auf seinem Schlafsack in der Sonne liegt. „Es geht immer darum, die Herrlichkeit des Herrn zu feiern – in seinem ganzen Ausmaß.“ Kinder rennen schrill lachend zwischen den Zelten hindurch. Die letzten Worte, die Schlange noch hören kann, sind: „Und das geht nur so.“ Der Typ breitet seine Arme aus, als wolle er den Jesus am Kreuz geben. Abgefahren. Schlange lässt seinen schmerzenden Schädel auf die Isomatte fallen.

Gemeinsames Frühstück um 9.30 Uhr. Schlange: Brot mit Buko. Joswig: Brot mit Buko und Tomatenmark, dazu einen Kaffee. Die Stimmung ist gedämpft. Die zwei Teufelskerle versuchen den gestrigen Abend zu rekonstruieren. Von seinem nächtlichen Besuch weiß Joswig nichts mehr – weder Gesprächsthema, Aussehen noch Uhrzeit. Notizen wurden nicht gemacht.

„Guten Morgen, hier kommt die FAZ, die tägliche Zeitung hier vom Platz!“ Der nervige Zappelphilipp mit der Heliumstimme läuft über die Straße, flötet mit einem unerträglichen Frohsinn und Elan zwischen den Zelten hindurch, verteilt das Festivalblättchen. Die „Freakstock Allgemeine Zeitung“ – die FAZ, zwei ineinander gefaltete Din A4-Blätter im Schwarz-Weiß-Druck. Der Inhalt am Samstag: der Wehmutsbericht eines nicht anwesenden Freaks, eine dreischrittige Anleitung, das Evangelium Ungläubigen näher zu bringen und ein ominöser Workshop unter dem Titel „Pimp your horse“, Mähnenextensions, Nüsterngloss und Arsch-Airbrush für den Klepper. Schlange und Joswig konnten den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte nicht überprüfen – wollten sie auch nicht.

Die ersten Freaks kommen von den Duschen. Parade der Festival T-Shirts mit jeder Menge frommen Sprüchen in der Aufdruck-Palette: „Christuspunk“, „He died for me“, „Samba 4 Jesus“ und der „Jesusmeinmeister“ im Jägermeister-Look. Individuelle Shirts in kleiner Auflage. Auf dem Skateboard eines 12-Jährigen mit riesiger Pilotenbrille ist in Rot das Wort Jesus gesprüht. Hinter ihm marschiert ein Typ am Iglu vorbei. Superfetter Rasputin-Vollbart, tätowiert und eine Bibel unter dem Arm. Das Buch der Bücher ist voller Lesezeichen. Er verschwindet mit der Bibel im Toilettenhäuschen.

Aus den Zeltburgen klingen schüchterne Gitarren, Kinder laufen über den Platz. Auf ihren Ärmchen oder ihren Pulloverchen kleben Zettel mit den Handynummern ihrer Eltern (ein Tipp aus er FAZ, ein weiterer Tipp: Immer etwas zu knabbern für die Kleinen dabei haben – zum Beispiel Reiswaffeln). Schöne heile Welt – keine Diebe, keine Dealer, keine Raufbolde. Süße Sorglosigkeit, Frieden überall. Schlange und Joswig strolchen über das Festivalgelände. Die ersten Gruppen haben sich bereits am Wegesrand, auf den Wiesen und im Schatten der Bäume versammelt, um gemeinsam den Tag mit einem Gebet zu begrüßen. Gläubiges Geflüster legt sich über das Gelände, frisst sich unausweichlich in die Ohren der beiden Teufelskerle. Keinen Ausweg, kein Ohropax.
„Alter.“ Schlange knetet sich die Stirn. „Ich kanns schon nicht mehr hören. Jesus, Jesus über alles. Scheiß Kater. Ich brauch ne Aspirin.“
Joswig klopft ihm auf die Schulter. „Jesus Freaks-Festival, mein Freund. Was hast du erwartet außer Frieden und Harmonie?“

Der Brief des Jakobus, Kapitel 1, Vers 16 und 17, Volxbibel-Übersetzung: Lasst euch also nicht für dumm verkaufen, Leute! Alles, was gut ist, alles, an dem man nichts aussetzen kann, kommt von Gott.

Hinter der Herzstück-Bühne haben sich auf einer Wiese rund fünfzig Freaks um einen schwarz gekleideten Rasta-Typen mit dunkler Sonnenbrille geschart – in immer engeren Kreisen wie Wellen um einen versinkenden Stein. Der Rasta-Typ, David Pierce von der Band „no longer music“, predigt auf Englisch. Pierce faselt etwas von einem Muttervogel, der zu seinem Kind spricht, es müsse aus dem Nest fliegen. „Fly or die!“, brüllt er. „Fly or die!“ Raus in die Welt, das sichere Nest allein ist langweilig, es erdrückt dich. „Fly or die!“ Jesus wird immer an deiner Seite sein. „Fly or die!“ Seelige Gesichter, entrücktes Lächeln. Selbstvergessen knien die Freaks vor Pierce. „Wenn Du Dich jetzt aufgerüttelt fühlst, ist das okay“, fügt sein Übersetzer hinzu. „Fühl Dich nicht manipuliert. Kommt einfach näher zusammen.“ Die Wellen um Pierce ziehen sich enger zu. Die Freaks umschließen ihn, nach vorne gebeugt, die Stirn auf ihren Knien. Pierce legt seine Hände auf ihre Köpfe, auf Strickmützen und Käppis. Joswig zuckt zusammen. „Alter, hat der gerade was von be a soldier of god gesagt?“ Schlange presst die Lippen zu schmalen Schlitzen und nickt. „Jipp, Gotteskrieger. Lass uns hier verschwinden.“

Vom Raketenklub hämmern Bässe bis auf die Straße. Joswig zieht Schlange am Arm. „Komm lass uns ma da hin. Ich brauch jetzt nen bisschen Erleichterung.“ Er fuchtelt mit seinen Fäusten in der Luft. „Electro, Alter. Ein bisschen Chillen nach den Gotteskriegern.“ Die beiden steigen die Rampe zu dem Techno-Schuppen runter. Eine leere Lagerhalle, vorne eine kleine Bühne mit DJ-Pult. Freaks sitzen in den Ecken, auf alten Polstermöbeln, haben ihre Augen geschlossen und halten eine geöffnete Handfläche in die Höhe, als wollten sie einen unsichtbaren Baseball aus der Luft pflücken. Auf der Tanzfläche pendeln wie in Trance vereinzelte Techno-Jünger von einem Bein auf das andere, die Arme eng angewinkelt, die Handflächen zur Betondecke gerichtet. Jonglieren mit Gottes Energie. Joswig tänzelt durch den Raum, Schlange lehnt sich an die Betonwand. Auf einmal greift sich der DJ ein Mikro vom Pult und fängt an seine fetten Beats mit Gesang zu unterlegen. „Jesus ist der Größte, er ist unser Schöpfer, er ist Superman.“ Joswig macht abrupt kehrt und läuft mit weit aufgerissenen Augen zu Schlange. Der nickt verständnisvoll. Der DJ weiter: „Du bist ein Vater, Du bist ein Freund, Du bist schrecklich, Du bist gütig, Du wirst mich erlösen.“ Die beiden Reporter verlassen verstört den Raketenklub. Gott ist kein DJ.

„Ich fühle in massivem Geballer Gottes Stärke, und den Ewigkeitsaspekt unserer Existenz mache ich über trancige Passagen deutlich.“
DJ Albrecht Lorenz in der „Freakstock Allgemeine Zeitung“, Samstagsausgabe

Joswig krallt seine Finger in Schlanges Arm. „Wir müssen zurück zum Zelt. Ich brauch Bier, sonst dreh ich durch.“ Große Augen, eindringlicher Blick, dezentes Beben in der Stimme. „Sofort!“
Im Stechschritt geht es zum Iglu, dann das Zippen des Reißverschlusses, das Zischen der Flasche und das erleichterte Durchatmen eines geretteten Verstandes. Joswig lässt sich auf die Wiese fallen.
Schlange nimmt einen Schluck Wasser und baut sich vor ihm auf: „Alter, komm jetzt. Die Workshops fangen gleich im Artland an. Wir sollten schon mal los.“
Joswig nimmt noch einen tiefen Schluck und lässt eine weitere Flasche in seiner Tasche verschwinden.

Auf dem Hauptverkehrsweg trottet Otto den beiden Reportern entgegen.
„Und, mittlerweile bei den Freaks eingelebt?“ Immer noch kein Anflug von Ironie in Ottos Gesicht.
Joswig brummt in sein Bier. Schlange grinst gequält. „So langsam haben wir ne Überdosis Jesus. Sind jetzt aufm Weg zu nem Workshop.“
„Welchen?“, fragt Otto verhalten interessiert.
„Ach, erst wollten wir zu so nem Missionierungsworkshop. Haben uns dann aber für nen anderen entschieden. Auf Gottes Wegen wandeln, oder so. Mal schauen, wie wir das verkraften.“
„Dann mal viel Spaß. Ich werd mir auch noch einen raussuchen. Wart ihr bei dem Lobpreis heute Morgen?“
Joswig lässt die Flasche sinken, sein Mund bleibt offen. „Lobt Reis?“
Otto: „Äh. ja.“
Schlange zieht seinen Freund weiter. „Dämlicher Witz, du Idiot.“
„Wir sehen uns dann später“, ruft er Otto noch über die Schulter zu. Es ist fünf nach zwölf. Der kleine Geek bleibt mal wieder zurück.

Der Brief des Jakobus, Kapitel 1, Vers 9, Volxbibel-Übersetzung: Wenn jemand ganz unten ist, kann er sich freuen, weil er für Gott der Held ist.

Artland, Seminar 15: „Beine in die Hand – auf Gottes Wegen durch mein Leben“, Referent: Stephan Achtermann
Als Schlange vom Rauchen rein in den Saal kommt, sitzt Joswig bereits auf einem Stuhl. Ein freier Platz neben ihm. Erleichterung. Sitzen – Jesus sei Dank. Schlange lässt sich auf den Stuhl fallen.
Auf der Bühne steht ein großer Typ mit blauem „Jesus.“-Shirt, Mitte dreißig, unscheinbares Wesen Kategorie BWL-Student mit Zweitfach Informatik, Nickelbrille, schütteres Haar. Der Raum füllt sich immer mehr mit Zuhörern. Gut 60 Mann drängen nach und nach auf die Stühle, den Boden, in die Ecken oder bleiben an der Wand und im Eingang stehen. Das Seminar scheint großes Interesse zu wecken.
Stephan Achtermann, auch Achti genannt, zieht sein blaues Shirt zurecht und räuspert sich. „Im Leben geht es immer um Entscheidungen. Im Großen wie im Kleinen. Welches Fernsehprogramm will ich schauen? Welche Zahnpasta-Sorte kaufe ich im Supermarkt? Welchen Job wähle ich für mein Leben? In diesem Workshop will ich euch Hilfestellungen geben, Gottes Wege in eurem Leben zu erkennen und ihnen zu folgen.“ Er setzt sich auf die Kante der Bühne und beugt sich nach vorn. „Aber erst mal zu euch. Warum seid ihr hier? Was versprecht ihr euch von diesem Seminar?“
Stille. Unterdrücktes Räuspern.
„Ähm, darf ich?“
Achti schaut auf, dann nickt er aufmunternd einem jungen Burschen in den hinteren Reihen zu. „Sicher. Erzähl.“
„Ich weiß einfach nicht, was Gott von mir haben will. Welchen Job soll ich machen? Welchen Weg soll ich gehen?“ Die Stimme des Burschen ist belegt.
Eine Stimme hinter Schlange und Joswig flüstert: „Lauter.“
Der Bursche fährt in unveränderter Lautstärke fort. „Ich weiß, Gott hat einen Plan für mich. Ich weiß nur nicht, wie ich wissen soll welchen?“ Der Typ ist 17.
Dann meldet sich eine Blondine zu Wort, Mitte zwanzig, hübsch, Minirock und Trägertop. Sie erzählt vom schweren Unfall ihres Vaters, von Orientierungslosigkeit und fehlender Führung. „Ich bin durch so viele Städte gereist. Immer hab ich genau hingehört, ob die Stadt zu mir spricht.“ Sie wischt sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. „Dann bin ich in Hamburg angekommen und ich wusste, hier bin ich richtig. Innerhalb kürzester Zeit hat mir Gott gleich drei Zeichen gesandt. Ich dachte, cool. Drei ist eine geile Zahl. Also bin ich geblieben.“ In dem Workshop wolle sie nun lernen, noch besser auf Gott zu hören.
Joswig tippt Schlange an. „Hat sie nicht grade gesagt, nur die Stadt hat zu ihr gesprochen?“
Schlange nickt: „Gott spricht eben durch alles zu dir. Sogar durch dein Bier.“
Der rote Beelzebub verschluckt sich.
Als nächstes meldet sich ein kleiner Lockenkopf mit neckischem Näschen. „Ich fühl das ähnlich. Ich möchte gerne alle Entscheidungen nach Gottes Willen treffen. Ich weiß, er hat etwas mit mir vor. Ich weiß nur nicht was.“ Job, Heirat, Wohnort – hinter allem steht für Löckchen ein dickes Fragezeichen.

Matthäus, Kapitel 6, Vers 32, Volxbibel-Übersetzung: Der Papa aus dem Himmel hat den genauen Plan, er weiß, was ihr so braucht und was nicht.

Um den ganzen verirrten Lämmern Führung zu schenken, stellt Achti sein 11 Punkte Programm vor: „Entscheidungen nach Gottes Willen treffen“:

0. Punkt: Was ist Deine konkrete Frage? (zum Beispiel: Beruf, Partner, Wohnort)

1. Punkt: Welche Erfahrungen hast Du hinsichtlich dieser Frage gemacht? (Zeigen Erfahrungen aus Deinem Leben in eine bestimmte Richtung?)

2. Punkt: Wie verhält sich Deine Frage zu Deinen Gaben, Neigungen und Abneigungen?

3. Punkt: Hole Dir Meinungen von anderen Menschen ein. (Sowohl von Menschen, die Dich kennen, als auch von Menschen, die Dich nicht kennen.)

4. Punkt: Überschlage die Folgen und Konsequenzen Deiner Entscheidung.

Anmerkung: Bis zu diesem Punkt die logische Vorgehensweise Entscheidungen zu treffen – strukturieren, Möglichkeiten und Wege bewusst machen, unterschiedliche Standpunkte ausloten, die beste Alternative wählen. Der Ungläubige müsste jetzt mit seiner Entscheidung leben, nicht jedoch der Christ.

5. Punkt: „Bete, wenn alles Arbeiten nicht hilft.“ (Ein Luther-Zitat)

Übersetzung für Atheisten: Abwarten und Tee trinken.

6. Punkt: „Arbeite, wenn alles Beten nicht hilft.“ (Die Fortsetzung des Luther-Zitates)

Anmerkung: Logisch.

7. Punkt: Der jesualische Vorbehalt – „nicht mein Wille geschehe, sondern Dein Wille geschehe.“

Anmerkung: Wichtig. Ab diesem Punkt folgt der Christ Gottes Plan. Der Mensch als selbstbestimmtes Individuum wird aus der Verantwortung genommen, kann unbeschwert durch das Leben streifen. Ein geschickter Schachzug.

8. Punkt: Bitte Gott um Hinweise (Hier kannst Du Gott ruhig ein Ultimatum setzen. „Wenn Du mir bis zu einem bestimmten Zeitpunkt kein Zeichen sendest, Gott, dann entscheide ich mich so.“ O-Ton Achti. Stichwort für Christen: Gideon und das feuchte Vlies)

Anmerkung: Das Prinzip der Self-fulfilling Prophecy – der Mensch erlebt, was er erwartet. Psychische Determination – der Mythos vom Freitag, dem 13., lebt zum Beispiel davon. Zeichen, Missgeschicke und Wunder werden erkannt und gedeutet. Frag die Christen, die wissen, wie es geht.

9. Punkt: Übereinstimmungen mit der Bibel suchen (Hast Du Gottes Wort auf Deiner Seite?)

Anmerkung: Alternativen für Atheisten – Herr der Ringe, Star Wars, Harry Potter, der Otto-Katalog oder das Telefonbuch.

10. Punkt: Triff eine Entscheidung (der wichtigste Punkt)

Anmerkung: Na endlich.

11. Punkt: Wenn die Entscheidung richtig ist, kehrt Frieden ein (Wenn Anfechtungen kommen, gibt es zwei Möglichkeiten: 1. Du hast Dich verhört, und Gott hat andere Pläne. Oder 2. Satan wirft Dir Steine in den Weg. Such Dir etwas aus.)

Anmerkung: Gottes Wege sind unergründlich. Fange gegebenenfalls wieder bei Punkt Null an.

Ein kurzer Hintergrund zu Achtis Lebenslauf: Der Mann wurde zum Abitur nicht zugelassen („Mathe ist ein Arschloch.“ O-Ton Achti), ist aus seiner kaufmännischen Ausbildung geflogen, hat eine Pflegerausbildung gemacht und sich dann mit 26 überlegt, für eine Schweigewoche ins Kloster zu ziehen. Auf der Suche nach Antworten. Gottes Zeichen fand er schließlich in seiner abonnierten Christen-Zeitschrift – als Beilage zum Thema „Theologie studieren“. Abgefahren. Jetzt ist Achti Dorfpfarrer in Ostfriesland. Das elf Punkte Programm ist unfehlbar.

Matthäus, Kapitel 24, Vers 13: „Wer aber beharret bis ans Ende, der wird selig.“

Kurz vor Schluss zeigt ein kleines Mädchen auf. „Entschuldigung, ähm, wie ist das eigentlich mit Zeichen, die man nicht versteht. Gott hat mir prophetische Worte gesandt. Aber ich verstehe sie nicht. Ich hab auch mit ganz vielen Leuten geredet, aber niemand konnte mir helfen.“
Achti kneift die Augen zusammen. „Hmm, da kann ich dir schlecht helfen. Mit prophetischen Worten beschäftigt sich ein anderer Workshop. Trotzdem: Lass uns nachher noch einmal unter vier Augen reden.“

Schlange und Joswig stürmen aus dem Tanzsaal. Joswig fassungslos, Schlange stinkwütend. „Was für ein bodenloser Schwachsinn.“ Schlanges Backenzähne mahlen. „Eigenverantwortung für den Arsch, Alter. Ich will zum Zelt. Jetzt brauch ich auch nen Schluck und verdammt noch mal etwas Ruhe. Scheiße.“
Auf dem Weg zum Iglu bleibt Joswig wie angewurzelt stehen. „Schlange, da vorne rennt ein Pastor.“
Als sein Freund rüber schaut, entdeckt der Pfaffe die zwei Teufelskerle und stürmt wie ein Derwisch in seinem schwarzen Talar auf die beiden zu – einen dicken Mann mit Halbglatze und glasigem Blick im Schlepptau.
„Jesus liebt euch!“ Die Augen des Pfarrers sind so stechend wie die Schmerzen in Schlanges Hand, als sie der Geistliche zu fassen bekommt. Aschgraue Augen voller Wahnsinn. Seine ausgebleichten Haare hat er zu einem quadratischen Igel scheren lassen, wie es alte Männer tun, um im hohen Alter flott auszusehen. „Wir sind alle Kinder Gottes!“, brüllt er Schlange ins Gesicht.
Der Anblick dieses Teufels hat den Reporter gelähmt. „Ähm, ja. Sicher. Selbstverständlich“, stammelt er. Alle Meldungen der vergangenen Monate, Mixa, Odenwald, die Jesuitenorden, alles bekommt gerade ein Gesicht.
Der Pfarrer greift nach Joswigs Hand. Der Schraubstock zieht zu. „Er ist für uns gestorben“, schreit er. Der zweite Reporter reagiert ebenso perplex.
„Ja, ist doch schön, oder nicht?“
Der dicke Begleiter hat den Pfarrer mittlerweile eingeholt und stellt sich neben ihn. „Er ist für uns gestorben. Ja, ja, er ist für uns gestorben“, wiederholt er das Mantra immer wieder. Der Pastor ist Bruder in einem Behinderten-Stift.
Wie verängstigte Hunde schleichen Schlange und Joswig von dannen. Die Schwänze zwischen den Beinen eingezogen.

Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel. Die Reporter liegen lethargisch vor ihrem Zelt, rauchen, trinken und beobachten fassungslos die Szenen vor dem Seelsorgezelt. Im Akkord brechen Leute in Tränen aus, werden umarmt und getröstet. Emotionen liegen blank.
„Und, wie war euer Workshop?“ Otto ist wieder da und lächelt die beiden schüchtern an.
Joswig stützt sich auf die Ellenbogen und schaut hoch: „Abgefahren. Völlig abgefahren. Kurz zusammengefasst: Entweder schmeißt Dir Gott Steine in den Weg oder Satan. Einer von beiden. Insgesamt recht schwammig, oder?“
„Mmhh, stimmt.“ Otto verzieht kaum eine Miene.
„Und, welchen Workshop hast du dir reingezogen?“ Schlange hat sich ebenfalls aufgerichtet.
„Och, ich war bei der Traumdeutung.“ Otto kratzt sich am Kopf. „War aber auch nicht so toll. Ob du die richtige Frau gefunden hast, erfährst du, wenn du den richtigen Traum hast.“ Ottos rechter Mundwinkel zieht sich ein Stück nach oben. „Na ja, ist ja irgendwie blöd. Soll ich jetzt so lange warten, bis ich den richtigen Traum habe?“ Für den Bruchteil einer Sekunden liegt ein Hauch Sehnsucht in Ottos Blick.
„Das hilft mir doch nicht weiter.“
Schlange und Joswig nicken mifühlend. Mit leicht gesenktem Kopf zieht Otto weiter.

Große Messe auf der Herzstück-Bühne, Modulseminar der Gemeinde Berlin: Der Platz vor der Bühne ist voll. Freaks stehen mit geöffneten Armen und geschlossenen Augen, singen, tanzen. Tränen laufen ihnen übers Gesicht. Religiöse Verzückung, höhere Sphären, göttliche Energien. Selbstvergessenheit wabert in der Luft. In Trance bewegen sich die Freaks zu dem Geknüppel, das von der Bühne her schallt. Menschen sitzen, knien und verstecken ihre Gesichter hinter den Händen. Über die nackte Brust eines Typen ist „Love, Faith and Hope“ tätowiert. Er bewegt stumm die Lippen zur Musik. Freakiger Gotteskult.
In Joswigs Tasche gluckern drei Plastikbiere, um Schlanges Schulter baumelt an ihrem rotweißen Absperrband die Flasche mit dem Wodka-Apfel-Mix. Gemeinsam kämpfen sie sich durch die entrückten Jesus-Jünger und knallen ihre Körper auf die Wiese. Alk versus Jesus.

Matthäus, Kapitel 6, Vers 25, Volxbibel-Übersetzung: Das Leben besteht aus mehr, als nur zu futtern und cool auszusehen.

Martin Dreyer steht auf der Bühne und ruft der Menge entgegen: „Es gibt Menschen, die sind auf der Flucht vor Gott, weil sie zu viel Scheiße gebaut haben. Ihr Geist ist versifft.“
Joswig beugt sich zu Schlange. „Alter, gib mir ma n Schluck von deiner Flasche.“ Schlange reicht den Saft der Erkenntnis weiter.
Vor ihnen lässt eine kleine Brünette ihre Hüften ekstatisch kreisen. Den Blick zur Bühne gewandt, den Hintern zu den beiden Teufelskerlen. Dickes braunes Haar schmiegt sich an das enge Top. Arschbacken drücken gegen den dünnen Stoff ihrer Harems-Hose. Verdammt verführerisch.
„Ihr müsst es wollen.“ Die Predigt dröhnt weiter aus großen Lautsprecherboxen „Jesus, ich will diese Scheiße nicht mehr. Sagt es: Ich will nicht mehr auf Frauenhintern schauen.“
Die Teufelskerle zucken. Das muss man ihm lassen, Gott hat Gefühl für Timing.

Korinther, Kapitel 10, Vers 7 und 8, Volxbibel-Übersetzung: Das Volk feiert derbe Partys, nach dem Motto: Saufen und spachteln, bis der Arzt kommt. Das Gleiche gilt für ätzende Sexsachen. Lasst bloß die Finger davon, das haben einige von denen auch gebracht! Dadurch sind nach alten Berichten an nur einem einzigen Tag dreiundzwanzigtausend Menschen gestorben.

„Ich habe mit Gott gesprochen, ja, er hat echt zu mir gesprochen“, lärmt es von der Mainstage. „Und dann, Leute, dann habe ich die Menschen ohne Masken gesehen. Echt jetzt.“ Zustimmendes Raunen in der Menge. „Ohne Coolness-Maske.“ Beifall. „Ohne Piercing- oder Tätowiermaske.“ Pfiffe. „Ohne Armani-Masken.“ Tosender Applaus.
Eine Band formiert sich auf der Bühne. Der Sänger schreit ins Mikro. „Leute, ich möchte jetzt echt gern ein Lied mit euch singen. Passt gut auf, das Lied geht so: „Jesus, ich will alles von Dir sehen.“ Habt ihr verstanden?“ Schreie aus dem Publikum. „Also, Leute, lasst uns zu Jesus singen, da hab ich jetzt Bock drauf.“
Direkt neben Schlange und Joswig bricht ein kleines Mädchen mit bunten Bändern im Haar in Tränen aus. Ihr Freund, ein kräftiger Kerl mit einem gekreuzigten Jesus auf der tätowierten Wade, kniet sich hinter sie, streicht ihr über den Rücken, flüstert beruhigende Worte. Am Gestell eines Kinderwagens, in dem zwei kleine Knirpse hocken, klebt ein Christen-Fisch. Die junge Mutter dahinter ist wieder schwanger, der glückliche Vater trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Taufe – die geilste Form der Beerdigung“. Egal wohin die beiden Reporter schauen, Christen, Glauben und Frömmigkeit bis zum Erbrechen. Jesus is in the air.
Das Christ-Core-Geknüppel ebbt ab, das Mikro wird weitergereicht. „Es gibt hier Menschen, die fühlen sich nichts wert. Leute, hört auf mit dieser Scheiße. Echt jetzt. Schreibt die Scheiße auf einen Zettel und schmeißt ihn in diese Tonne!“
Vor der Bühne haben die Freaks ein großes Metallfass aufgestellt, eine Sündentonne für den symbolischen Akt seine Laster den lodernden Flammen zu übergeben. Ganz nach dem Motto: Wenn das Feuer in der Tonne brennt, Deine Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel rennt.
„Vielleicht hast Du Angst, Gott die Kontrolle zu geben. Vielleicht hast Du Angst vor dem Heiligen Geist. Mann, das ist echt doof.“
Joswig prustet los. Glucksend fällt sein Kopf nach vorn und verbeißt sich in seinem Handballen. Die Lautsprecherboxen plärren erbarmungslos weiter. „Schreib Deine Angst auf einen Zettel. Schreib Deinen scheiß Stolz auf Deinen Zettel und schmeiß ihn in diese scheiß Tonne.“
Joswig quiekt. „Klopp Deinen Stolz in die Tonne.“
Schlange kneift ihm mit aller Kraft in den Rücken. „Alter, reiß dich zusammen. Die bringen uns hier um.“ Tränen laufen über das Gesicht des kichernden Beelzebubs. „Wieso? Ich weine doch nur“, presst er gibbelnd hervor.
Schlange bleibt ernst: „Ja, dicke Judas-Tränen. Alter, das ist kein Spaß. Wir sind umgeben von Fundamentalisten.“
Durch die Christenmeute kämpft sich der Zappelphilipp mit der Heliumstimme – einen Stapel Blätter in der einen, eine Tüte Stifte in der anderen Hand. Er singt: „Zettel und Kulis. Zettel und Kulis. Wer braucht noch einen Zettel und einen Kuli?“ Joswig wischt sein Gesicht trocken, die Züge verhärten sich. „Boar, so langsam kann ich diese Stimme nicht mehr ertragen. Ich bring den Mann um.“
Schlange steht auf. „Komm, wir gehen.“

Korinther, Kapitel 6, Vers 8, Volxbibel-Übersetzung: Wir ziehen unser Ding durch, egal, ob Leute uns toll, crazy oder peinlich finden, ob man uns lobt oder Witze über uns macht.

22 Uhr, Volxbibel-Lesung mit Martin Dreyer im Artland, die letzte Volxbibel-Lesung auf einem Freakstock ever:
Die beiden Teufelskerle kommen zu spät. Dieses Mal mit neu verteilten Rollen: Joswig taumelt, Schlange muss mit Dreyer reden. Der Saal ist voll, der Jesus Freaks-Gründer liest bereits. Dicht gedrängt hocken seine Jünger auf dem Boden und horchen aufmerksam den weisen Worten der Volxbibel: So führte zum Beispiel der Komet die Heiligen Drei Könige wie ein GPS-System zum Jesus-Kind, David gegen Goliath war der Fight Taschenmesser versus Pumpgun, bei dem David Goliath mit seinem Messerchen den Kopf abschnitt, und bei der Speisung der 5000 tritt Jesus in direkte Konkurrenz mit McDonald’s. Natürlich mit Erfolg. Wow.
Joswig taumelt beängstigend durch die sitzenden Freaks, schafft es, niemandem auf die Finger zu treten und an der Wand rechts von der Bühne mit dem Rücken zu Boden zu gleiten. Er lässt zur Belohnung ein neues Bierchen zischen. Schlange nimmt neben ihm Platz.
Alle Gesichter sind gebannt auf Dreyer gerichtet, schlürfen jedes Wort von seinen Lippen, als seien es die Tropfen der Erkenntnis. Mit einem müden Lächeln nuckelt Schlange an seiner Wodkaflasche.
Der Vortrag ist gut, die Zuhörer gefesselt. Dreyer wagt es im Augenblick totaler Hörigkeit, auf seine Kritiker zu schießen. „Manche werfen der Volxbibel ja vor, sie sei in hingerotzter Gossensprache geschrieben.“ Ein erhabener Ausdruck gleitet über sein Gesicht. „Damit hab ich kein Problem. Jesus hat Aramäisch gesprochen, die Sprache der Menschen. Das neue Testament wurde auf Koine-Griechisch verfasst, das Griechisch der Straße.“ Für Dreyer sei eben auch die Gosse eine Welt, die eine Bibel brauche. Wäre Jesus zur heutigen Zeit auf die Erde gekommen, er hätte sich im Schanzenviertel mit den Huren und Junkies unterhalten, hätte jeden ihrer Namen gekannt. Sauber.
Außerdem habe die Volxbibel in den neueren Auflagen eine „Entfäkalisierung“ erfahren. „Anfangs fand sich allein im Matthäus-Evangelium 68 Mal das Wort Scheiße. Jetzt ist es so gut wie verschwunden.“
Sogar dem Papst persönlich habe Dreyer schon eine Volxbibel geschickt. Ein Brief seines persönlichen Sekretärs aus dem Staatssekretariat für allgemeine Angelegenheiten des Vatikans kam zurück. Die Volxbibel sei „wohlwollend“ zur Kenntnis genommen worden, sich in ihrem Versuch Jugendjargon abzubilden, auch an Nichtchristen wenden zu können. Als offizielle Bibelübersetzung wolle sie der Vatikan allerdings nicht anerkennen.
Anerkennung im Publikum.

Matthäus, Kapitel 7, Vers 28 und 29, Volxbibel-Übersetzung: Nachdem Jesus am Ende mit seiner Rede war, waren die Leute total baff über seine krassen Ansagen. Denn was er sagte, strahlte Kraft aus und war nicht so ein dünnes Gelaber, wie es die religiösen Profis immer abgelassen hatten.

Dreyers Fazit: „Man kann sagen, aus der Volxbibel ist eine Erfolxbibel geworden.“
Nach der Lesung sammeln sich die Lämmer um ihren Guru.
„Oh, Mann. Echt Wahnsinn.“ Ein kleiner Typ mit Fotzenbärtchen fingert nervös an seinem Jesus-Shirt. „Du hast ja grad auch von deiner Lesung mit Nina Hagen erzählt. Wie ist die denn so?“
Dreyer lächelt. „Ach, die Nina, die ist total lieb. Und die ist auch total von unserer Volxbibel begeistert, hat in Interviews immer total abgeschwärmt von den Freaks.“
Der kleine Typ nickt hektisch mit dem Kopf, kann es kaum erwarten, weitere Details zu erfahren. „Hast du sie nicht gefragt, ob sie zu uns aufs Freakstock kommen wollte?“
„Ach, die Nina ist noch eine sehr junge Christin. Das merkt man auch daran, was sie so auf Facebook schreibt. Das wäre momentan noch alles zu viel für sie, denke ich.“ Dreyer macht eine Pause. „Die Nina hat aber voll die Liebe Gottes in sich. Wir sollten für sie beten.“
Das kleine Fotzengesicht nickt noch schneller und senkt sein Haupt zu Boden. Ausgerechnet Nina Hagen.
Ein anderer Freak schiebt sich jetzt an Dreyers Seite. Ein 30-jähriger Messdiener mit ähnlich geschmackvoller Gesichtsfrisur und hasenhaftem Überbiss. Er grinst breit. „Du? Du machst doch auch Hip Hop, oder nicht?“
Dreyer nickt. Die Hasenfresse grinst noch breiter. „Ja, cool. Ich schreib auch so Texte. Und hab letztens mal in meiner Gemeinde einen Rap vorgetragen. Der hieß: Gott liebt alle Menschen – auch die Kinderficker.“
Betretendes Schweigen.
„Ist doch so, oder nicht?“ Sein Grinsen verzieht sich zur Fratze.
Verhaltene Zustimmung. Der Bursche ist zufrieden.
Schlange besorgt sich bei Dreyer noch eine signierte Volxbibel und setzt sich mit Joswig unter die Kletterpflanzen vor das Artland.

(Daran schloss ein Gespräch vielmehr eine zweistündige Diskussion mit vier Jesus Freaks, die mit Beschimpfungen gegenüber Jungfrauen endete. Notizen hierzu liegen nicht vor.)

Zurück am Iglu, 1.30 Uhr: Kerzenlicht tanzt flackernd über den Zeltstoff. Vor dem Eingang ist eine Art Altar errichtet. Eine rote Grabkerze am Boden, ein Schlüsselanhänger mit glänzender Kunststoffkugel und eine Plastikgabel an den Vorzeltstangen, ein Titelblatt aus der Neon lehnt an zwei Glasflaschen vor dem Eingang. „Was bin ich wirklich wert?“ steht auf der Seite der Studenten-Bravo. Darunter eine Kugelschreiber-Notiz, ein Gruß auf Schwizerdütsch. Schlange sieht Joswig an. Die Schweiz ist doch neutral. Zwei Biere auf den Schock. Schlafengehen.

„Guten Abend, gut‘ Nacht, mit Rosen bedacht,
mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck‘.
Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“
altes Volkslied aus „Des Knaben Wunderhorn“ (1808)

Sonntagmorgen, aufstehen, kurz nach neun. Keine Zeit zu verlieren. Joswig prescht los, sich einen Kaffee zu organisieren. Schlange schmeißt die Klamotten vor das Zelt und beginnt abzubauen. Genug Freaks, genug Gott, genug geheuchelt. Die Vorstadthölle Wattenscheids erwartet die zwei Teufelskerle zurück.

Schlange und Joswig können Otto, ihren Leidensbruder, nicht verstehen. Wieso bleibe ich bei einem Pulk von Fundamentalisten, wenn ich genau weiß, dass meine Antwort nicht Jesus ist. Natürlich tut Einsamkeit weh, natürlich kann der Glaube Kraft verleihen, sich von Schicksalen, Drogen und pubertärem Weltschmerz zu befreien. Und natürlich glaube ich lieber irgendetwas, als mit offenen Fragen leben zu müssen. Alles verdammt menschlich. Aber Leute, warum kann ich nicht einfach die Kirche im Dorf lassen? Ich treffe die Entscheidungen, ich trage die Verantwortung und ich muss schauen, dass ich am Kacken bleibe. Wenn Gott Bock hat zu helfen, dufte Sache. Glück gehabt.

Als die zwei Reporter ihren Müll entsorgt und ihre Utensilien verpackt haben, trottet ein alter Mohikaner auf sie zu. Ein Freak-Veteran Mitte Fünfzig, mit Irokesenschnitt und einem Gesicht, das vom Leben gegerbt wurde. Er funkelt Joswig aus tiefschwarzen Augen an.
„Ey, dich will ich aber nächstes Mal nicht wieder hier sehen. Verstanden?“
Joswig verwirrt und noch immer schlaftrunkend: „Joa.“
Der Mohikaner haut ihm vor die Schulter. „Gib ma Kippe.“ Joswig reicht ihm seinen Stummel. Der Mohikaner zieht und schaut ihn feindselig an. „Du hast dich zwar nicht schlecht benommen. Du hast aber auch nichts dazu beigetragen. Also…“
„Joa“, grummelt Joswig wieder.
„Gut, Ich werd jetzt noch bis nach Bielefeld radeln.“ Der Mohikaner reicht den Kippenrest zurück. Joswig schmeißt ihn weg.
„Mach das.“
Der Mohikaner verschwindet. Ein Zeichen Gottes?
Auch Schlange und Joswig verschwinden. Dick bepackt mit Zelt und Säcken verlassen sie das heilige Kasernengelände, begleitet von den schrillen Gesängen des Zappelphilipps, der wieder mit seiner Heliumstimme laut proklamierend über den Platz läuft. „Tri tra trulala, Gottes Welt ist wunderbar.“

Der erste Brief des Johannes, Kapitel 2, Vers 22, Volxbibel-Übersetzung: Also, wenn jetzt noch irgendjemand behauptet, Jesus wäre nicht der Auserwählte, der Christus, der ist ein Lügner. Wer gegen den Sohn und den Vater ist und keinen Bock auf ihn hat, der ist ein Gegner von Christus, er ist der Antichrist.

Kann sein, wir hatten keinen Bock drauf, Ihre Wattenscheider Schule.

Special Thanx to god for this story.

Dank an Pütter und die bodo für die Akkreditierung, Dank an Fabian für den Astra, Dank an Samuel Otte. Ohne sein umstrittenes Kunstprojekt auf dem Freakstock wären unsere Köpfe nie auf Jesus Körper gelandet.

 

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WS Bloglist:

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Eröffnungsfeier Zollverein Foto: Ruhrbarone

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Ruhr2010 II: Spektakulärer Abschluss in vier Städten…RP Online

Ruhr2010 III: 18.000 Menschen feierten den U-Turm…Ruhr Nachrichten

Ruhr2010 IV: Finale Duisburg…Der Westen

Ruhr2010 V: Herkules in Gelsenkirchen enthüllt…Der Westen

NRW: Ran an das Geld…Welt

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Medien: „Tschüß Ü-Wagen!“…Spiegel

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Internet: CC-Video erklärt Ende-zu-Ende-Verschlüsselung…Netzpolitik

Energie: Die deutschen Stromversorger verlieren ihre Kompetenzen…Frontmotor

Loveparade: Die Staatsanwaltschaft ermittelt – aber nicht gegen Adolf Sauerland

Adolf Sauerland

Am Samstag, den 24. Juli 2010, fand in Duisburg die Loveparade statt. Sie endete mit 21 Toten und mehreren Hundert – zum Teil Schwer- – Verletzten. Bis heute hat sich niemand von der Stadt Duisburg oder vom Veranstalter bei den verletzten Opfern der Loveparade gemeldet – mit keinem Wort. Bis heute hat niemand die Verantwortung – oder auch nur einen kleinen Teil von ihr – für diese Katastrophe übernommen. Bis heute ist niemand in dieser Sache offiziell beschuldigt worden, wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Bis heute ist nicht einmal gegen irgendjemanden in dieser Sache ermittelt worden. Letzteres soll sich allerdings in Kürze ändern. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, prüft die Staatsanwaltschaft Duisburgderzeit intensiv, in welchen Fällen das Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung gegen unbekannt zu einem namentlichen wird. Vermutlich bereits um die Jahreswende herum soll mit Ermittlungen gegen eine Reihe von Mitarbeitern von Veranstalter, Polizei und Stadt begonnen werden“.

Heute früh, kurz nach fünf, kam SZ Online mit dieser Enthüllung. Die Überschrift: „Sauerland bleibt unbehelligt“, die Unterüberschrift: „Keine Ermittlungen gegen Duisburgs Oberbürgermeister“, die Meldung beginnt mit: „Gegen den Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) wird wegen der Katastrophe auf der Loveparade vorerst kein Ermittlungsverfahren eingeleitet.“ Um die Jahreswende herum wolle die Staatsanwaltschaft Duisburg ihre bislang gegen Unbekannt gerichteten Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung zu namentlichen machen. Diese werden sich dann laut SZ gegen „eine Reihe von Mitarbeitern von Veranstalter, Polizei und Stadt“ richten, aber eben nicht gegen Adolf Sauerland. Auch von Sauerland-Kritikern ist wiederholt öffentlich vorgetragen worden, dass der Oberbürgermeister zwar politisch für die Katastrophe verantwortlich sei, und deshalb folgerichtig hätte zurücktreten müssen, dass jedoch kaum anzunehmen sei, dass der Chef der Stadtverwaltung persönlich mit den Details der Veranstaltungsplanung derart vertraut gewesen sei, dass sich daraus strafrechtliche Schuld ableiten ließe.

Adolf Sauerland hatte in den Monaten vor der Loveparade einen Großteil seiner Arbeitszeit der Vorbereitung dieser Veranstaltung gewidmet, nach dem 24. Juli jedoch häufig darauf hingewiesen, in dieser Sache „nichts unterschrieben“ zu haben. Sauerland stand wie kein Anderer für dieses Projekt. Er persönlich setzte alle Hebel in Bewegung, um die Finanzierungsengpässe im Vorfeld der Loveparade zu überwinden. Einwänden aus der Verwaltung, die die Loveparade aus Sicherheitsgründen für nicht genehmigungsfähig hielten, hielt der Duisburger Sicherheitsdezernent entgegen, dass der Oberbürgermeister die Durchführung der Veranstaltung wünsche. In der Duisburger Stadtverwaltung herrschte im Vorfeld ein Klima der Einschüchterung, in dem sich jegliche Kritik an der Loveparade verboten hatte. Wer dennoch wagte aufzubegehren, wurde negativ sanktioniert.

Und dennoch: sollte Sauerlands Einlassung zutreffen, in dieser Sache „nichts unterschrieben“ zu haben, könnte es gut sein, dass für die Staatsanwaltschaft Duisburg überhaupt keine Möglichkeit besteht, gegen ihn namentlich zu ermitteln. Dass sie strafrechtlich gegen seine Dienstobliegenden ermitteln wird, dürfte für reichlich Empörung sorgen. Diese darf jedoch in einem Rechtsstaat niemanden interessieren. Dass allerdings schon zu einem recht frühen Zeitpunkt Zweifel an der Unabhängigkeit und Unbefangenheit der Staatsanwaltschaft Duisburg entstehen mussten, ist hier allerdings schon von Interesse. Nach der Katastrophe verzichtete die Behörde nämlich darauf, im Rathaus die Dokumente zur Loveparade vollständig sicherzustellen. Die Strafverfolger begnügten sich mit den von der Stadt zur Verfügung gestellten Aktenordnern. Wesentlicher als der Umstand, dass hier nicht alle Ordner rausgerückt wurden, ist die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft Duisburg sämtliches elektronisches Datenmaterial, also eMail-Korrespondenz, Notizen etc., unberücksichtigt ließ.

Ende August, immerhin auch schon ein Monat nach dem Ereignis, hinderte die Staatsanwaltschaft Duisburg die mit den polizeilichen Ermittlungen befasste Kölner Kripo an einer Razzia im Duisburger Rathaus. Am 26. September berichtete Focus Online: „Der Kölner Kripochef Norbert Wagner reiste vergeblich zum Leiter der Duisburger Ankläger. Verärgert registrierte die Polizei, dass die Staatsanwaltschaft Ende August die Stadt lediglich um die Herausgabe einiger Akten bat. Um den Krach zu vertuschen, soll die Justiz laut FOCUS sogar darauf gedrungen haben, den Durchsuchungswunsch der Polizei aus der Ermittlungsakte zu tilgen. Darauf wollte sich die Kriminalpolizei allerdings nicht einlassen.“ Schon am 8. September wurde auf einer Sitzung des Landtagsrechtsausschusses bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Duisburg, die Ermittlungen zum Loveparade-Desaster am 24.Juli leitet, selbst an deren Vorbereitungen beteiligt war.

All diese Ungereimtheiten konnten NRW-Justizminister Kutschaty (SPD) nicht daran hindern, die Duisburger Staatsanwaltschaft in Schutz zu nehmen. Zweifel an der Unbefangenheit der Staatsanwaltschaft Duisburg seien völlig unbegründet, erklärte Kutschaty, während er gleichzeitig die Vorwürfe, die nach Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt riechen, substanziell bestätigte. Kutschaty blieb im Amt, obwohl meines Erachtens ein Rücktritt fällig gewesen wäre, und der Strafverfolgungsbehörde, die den Verdacht nicht losgeworden ist, Ermittlungen bewusst verhindert zu haben, wurde bis heute das Verfahren nicht entzogen. Wenn eine Behörde wie die Staatsanwaltschaft Duisburg in Kürze also hingehen und Strafverfahren gegen eine Reihe von Personen eröffnen, Herrn Sauerland jedoch unbehelligt lassen sollte, dürfte sich der Hauch von Bananenrepublik in Duisburg festsetzen. Zur Erinnerung: den Ermittlern wurden die noch fehlenden Akten bei einer Tasse Kaffee im OB-Büro übergeben.

Heute, also nach der Enthüllung in der SZ, zitiert Spiegel Online aus einem Schreiben des Anwalts des Duisburger „Panikforschers“ Schreckenberg, das am 8. November bei der Staatsanwaltschaft Duisburg einging. Der Professor für Physik von Transport und Verkehr, der möglicherweise zum Kreis der potenziell Beschuldigten gehören könnte, lässt darin behaupten, überhaupt nicht an der Planung der Loveparade beteiligt gewesen zu sein. Gewiss: in einer Situation, in der die Verantwortung zwischen den Beteiligten wie bei einem Schwarze-Peter-Spiel hin- und hergeschoben wird, empfiehlt es sich weder, Partei zu ergreifen, noch jede Äußerung einer Seite für bare Münze zu nehmen. Dennoch: wenn Schreckenberg behauptet, nicht zu den Sitzungen des Arbeitskreises Sicherheit eingeladen worden zu sein, wäre ihm das Gegenteil nur allzu leicht nachzuweisen. Schreckenberg habe „wiederholt und nachhaltig vor dem Karl-Lehr-Tunnel“, durch den sowohl die herein- als auch die herausströmenden Massen geleitet wurden, gewarnt, heißt es in der Stellungnahme des Anwalts. Dies dürfte Schreckenberg nachzuweisen haben. Wie auch immer, dem Fazit seines Anwalts wird man kaum widersprechen können: „Zusammenfassend kann man sagen, dass Nachfragen, Anregungen und Verbesserungsvorschläge nicht gewünscht waren.“

Letztlich hätten auch „Nachfragen, Anregungen und Verbesserungsvorschläge“ diese Katastrophe nicht verhindern können. Selbst ohne Kenntnis der Problematik des Karl-Lehr-Tunnels hätte jedem normalen Zeitungsleser klar sein können, dass nur ein Verzicht auf diese Veranstaltung hätte Menschenleben retten können. Ohne jede Hintergrundrecherche, allein auf Berichte der Lokalpresse gestützt, schrieb ich zwei Tage vor der Tragödie: Das, was sich am Samstag im Duisburger Kessel abspielen wird, geht letztlich auf das Konto des für diese Fehlplanung ungeheuren Ausmaßes Verantwortlichen. Es ist ohne Beispiel, dass Zehntausende, wenn nicht gar Hunderttausende – zumal noch von psychoaktiven Substanzen beeinflusste – Menschen abgedrängt, abgeblockt und eingekesselt werden müssen. Mir ist es egal, was unter diesen Umständen aus dem viel beschworenen Werbewert für die Stadt Duisburg wird. Ich hoffe und bete, dass die Zahl und die Schwere der Verletzungen im überschaubaren Rahmen bleiben werden, dass viele gesund, und dass alle überhaupt wieder nach Hause kommen werden.