Es ist der Tag X im Landtag, die wichtigste Abstimmung der rot-grünen Minderheitsregierung: Heute wurde der Nachtragshaushalt im Düsseldorfer Parlament verabschiedet. Nur Wahlverlierer Jürgen Rüttgers fehlte – und hat alleine mit seiner Abwesenheit die Mehrheit für den umstrittenen Etat gesichert.
Denn Ministerpräsidentin Hannelore Kraft braucht für ihre Gesetze und ihr Überleben nur mindestens eine Enthaltung aus der Opposition. Die hatten ihr ohnehin schon die Linken versprochen – und auch mit ihrer gesamten elfköpfigen Fraktion geliefert.
Damit wird Deutschlands einzige SPD-Ministerpräsidentin ungehindert weiterregieren können – voraussichtlich sogar bis zur regulären kommenden Wahl. Der Nachtragshaushalt galt als schwierigste Hürde für die Minderheitsregierung im größten Bundesland.
Der neue Etat sieht eine Neuverschuldung von rund 8,4 Milliarden Euro vor. „Wir haben in der Tat Rekordschulden“, sagt Norbert-Walter Borjans, NRW-Wirtschaftsminister (SPD). Auch ohne das Zutun der Landesregierung wäre es aber dazu gekommen so Borjans, der wegen seiner vielen Zuständigkeiten intern auch „Super-Walter“ genannt wird. Schwarz-Gelb habe keine ausreichende Vorsorge für WestLB-Altlasten, Kita-Kosten und Kommunen getroffen. CDU und FDP haben umgehend eine Klage vor dem Verfassungsgerichtshof gegen den Haushalt angekündigt.
CDU-Fraktionschef Karl-Josef Laumann hielt eine wehmütige Abschiedsrede auf die alte schwarz-gelbe Landesregierung. Das neue Fünf-Parteien-System ist gerade für konservative Christdemokraten aus dem Sauerland und dem bäuerlichen Westfalen immer noch nicht Realität . „Wir hätten einen besseren Haushalt gemacht“, so der Westfale Laumann. Jetzt paktiere die Linke und mische an der Machtzentrale mit, dies sei „brandgefährlich.“
Rund ein halbes Jahr nach der Wahl hat sich der neue Düsseldorfer Landtag mit seinen erstmals fünf Parteien arrangiert. Bis auf einige aufgeregte verbale Scharmützel im Parlament läuft der Politikbetrieb ruhig. „Wir haben ab und zu eine skurrile Debatte mit den Linken“, sagte der Grüne Fraktionschef Reiner Priggen. Manchmal ginge bei ihnen die „revolutionäre Kavallerie“ durch. „Aber natürlich arbeiten wir auch mit ihnen zusammen“, so der Grüne pragmatisch.
Denn auch die als Chaotentruppe verschrieene linke Fraktion ist nun spätestens mit dem Nachtragshaushalt im geordneten parlamentarischen System angekommen. Zwar hielten sie nach der Verabschiedung in einer nahezu unbemerkten Geste Schilder mit der Aufschrift „Mehr soziale Gerechtigkeit“ hoch, aber ihre Reden hätten auch von Genossen oder Grünen gehalten werden können. „Wir enthalten uns konsquenterweise, weil der Haushalt nicht unsere roten Haltelinien wie dem Stellenabbau überschreitet“, sagte Linken-Fraktionschef Wolfgang Zimmermann.
Ansonsten sprach der Gewerkschafter wenig revolutionär von „Primärhaushalt“, „Konjunkturerwartungen“ und „nominale Ausgaben der EU“. Einig waren sich hingegen sowohl SPD, Grüne und Linke darin, dass die Einnahmen des Landes erhöht werden müssen, um die enormen Schulden in den kommenden Jahren zu senken. Dazu sollte es eine Vermögenssteuer und höhere Spitzensteuersätze geben. Die neue Einigkeit am Rhein könnte also zukünftig auch die Bundespolitik verändern: NRW will im Bundesrat Anträge für neue Steuern und Einnahmen stellen, um beim kommenden Haushalt weniger Schulden machen zu müssen.
Wissen Sie, was Kommunismus ist? – Ja richtig: in der Theorie eine tolle Sache; aber die Praxis … Schön und gut; das war aber nicht die Frage. Was das ist, der Kommunismus, hatte ich gefragt. Okay, ich sage es Ihnen. Kommunismus ist nach Lenin Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Das hat er selbst gesagt, der Lenin. Sowjetmacht – okay, die kann ich Ihnen auf die Schnelle jetzt nicht im einzelnen erklären. Wir merken uns: mit einer Sowjetmacht haben wir es dann zu tun, wenn etwas so organisiert ist wie die Deutsche Reichsbahn.
Die war nämlich richtig klasse organisiert. Das hat er selbst gesagt, der Lenin. Da konnte man – in diesem Fall: er – sogar eine Revolution mit machen. Und eine Revolution ist eine tolle Sache, wenn da der Kommunismus bei rauskommt – jedenfalls in der Theorie. Also, so ungefähr … Einfacher zu erklären ist freilich der Begriff „Elektrifizierung“. Elektrifizierung heißt, dass irgendwo Strom hinkommt, wo vorher keiner war.
Kommunismus in der Praxis, Sie wissen ja Bescheid: einfach schrecklich. Zwang und Unterdrückung, alle Leute eingesperrt, und wer motzt, kriegt Ärger. Und von wegen: der Kunde ist König! Ihr kriegt gleich „Kunde“! Kleinbürgerliches Konsumentenbewusstsein. So etwas wird im Kommunismus natürlich entschieden bekämpft. Meistens nicht ohne Erfolg: die Leute wollen zwar immer noch eine Marlboro, eine Markenjeans oder einfach nur raus, trauen sich aber nicht, das zu sagen. Muss reichen.
Was Sie hier auf dem Foto sehen, ist ein „Talent“. Ja, der Zug; der heißt so. Wie die Rheinische Post schreibt, werden die DB-„Talente“ von den Fahrgästen sehr gerne gesehen: Im Gegensatz zu den NWB-Fahrzeugen vom Typ „Lint“ mit zwei Türen an jeder Seite gibt es im „Talent“ nämlich drei Türen. Der „Talent“ verkehrtjetzt nämlich endlich wieder im Nahverkehr am linken Niederrhein – auf der Strecke der Regionalbahn Duisburg-Xanten über Moers und Rheinberg. Da freut sich der Niederrheiner; denn eigentlich müsste dort ja der „Lint“ fahren.
Der „Talent“ gehört nämlich der DB-Regio, also der Deutschen Bahn, also Kommunismus, als Servicewüste. Die Bahn ist zwar eine Aktiengesellschaft, aber eben nicht an der Börse. Und je mehr versucht wird, die Bahn börsentauglich, also kundenfreundlicher, zu machen, desto mehr Strecken werden schon jetzt aus dem kommunistischen Zwangsregime entlassen. Denn der Markt weist aus, was bleibt, und was verschwinden muss. Zum Beispiel so eine an und für sich unrentable Strecke links am Niederrhein entlang.
Wenn man den Bahnverkehr dort jedoch marktwirtschaftlich, also dynamisch, organisiert, dann fluppt das auch dort. Im Interesse des Kunden, also des Fahrgastes. Und deshalb fährt da jetzt nicht mehr die DB, sondern die NWB, die NordWestBahn. Privat vor Staat. Der Markt, also seine unsichtbare Hand, regelt das. Deutschlands größtes privates Bahnunternehmen gehört den Osnabrücker Stadtwerken, den Oldenburger Wasserwerken und noch einer Berliner Verkehrsfirma. Wow! Kein Wunder, dass bei solch einer Ballung privaten Unternehmergeistes auch das an und für sich Unrentable auf einmal profitträchtig wird.
Okay, in den Nahverkehrszügen der NWB ist es ein wenig eng. Und einige jammern sowieso immer, Rollstuhlfahrer zum Beispiel sind geradezu bekannt dafür. Mit denen gibt es ständig Ärger. Für jeden Scheiß rennen die zur Presse. Anstatt dass sie einmal dankbar zurückblicken, wie es so vor 20 oder 30 Jahren ausgesehen hatte: wenn man sich ein halbes Jahr vorher angemeldet hatte, bekam man mit etwas Glück einen Platz im Gepäckwagen. Nun ja, das ist halt eine Schattenseite dieses kleinbürgerlichen Konsumentenbewusstseins: diese Undankbarkeit.
Hier, dieser taz-Artikel: mal beschweren sie sich darüber, dass in die neue Regio-S-Bahn nicht hineinkommen. Wenn sie aber doch mal drin sind, ist es auch wieder nicht gut. 80 Zentimeter, so breit ist der Gang, durch den RollstuhlfahrerInnen zu ihren Plätzen gelangen. Links die Außenwand der Toilette, rechts Klappsitze. Sind die besetzt, kommt man mit Rollstuhl erst durch, wenn die Fahrgäste aufstehen. Nervig. Aber so ist Marktwirtschaft: der Kunde ist König, und das heißt: auch die NWB reagiert sofort: Die Nordwestbahn, die die S-Bahn betreibt, hat indes angekündigt, Fahrgäste mit Schildern aufzufordern, RollstuhlfahrerInnen Platz zu machen. Auch das Personal soll geschult werden, „darauf aufmerksam zu machen“.
Jetzt wollen die auch noch klagen und mit diesem Schnickschnack so ein dynamisches Unternehmen in den Ruin treiben. Wie auch immer: Probleme, die am Niederrhein so nicht aktuell sind. Während die NWB jetzt ganz flott ihre Mitarbeiter schult, wird einstweilen gar nicht mit dem NWB-Triebwagen Marke „Lint“ gefahren, sondern mit dem beliebten „Talent“. Der ist zwar – wie gesagt – von der DB, jedoch nicht kommunistisch, weil nicht elektrifiziert. „Lint“ natürlich auch nicht, logisch. Denn die ganze Strecke am linken Niederrhein ist nicht elektrifiziert. Es lebe die Freiheit! In diesem Fall: die Diesellok.
Der „Talent“ kommt deshalb gegenwärtig am linken Niederrhein zum Einsatz, weil sich im August in Geldern – ebenfalls linker Niederrhein – ein Auffahrunfall zugetragen hatte. Nein, nicht mit dem Straßenverkehr, um Himmels willen! Nur NWB-Triebwagen sind zusammengestoßen – nicht nur zwei, sondern gleich drei. Alle kaputt. Das beeinträchtigt freilich auch das dynamischste Privatunternehmen; aber nun ja: Unfälle kommen eben vor. Da kann man nichts machen. Oder gestern: da soll – wie es in der Rheinischen Post laut Zugdurchsage hieß (oder umgekehrt) – „ein Baum“ auf den Gleisen zwischen Alpen und Xanten gelegen haben.
„Ein Baum“ – Respekt! Da muss der Triebwagen tatsächlich eine Menge Talent gehabt haben. Wie dem auch sei: jedenfalls ist wohl irgendetwas am Bremssystem kaputtgegangen, wie ein Fahrgast der betroffenen Regionalbahn berichtet. So etwas kann passieren; also musste der Zug – Sicherheit geht nun einmal vor – erst einmal eine Weile stehen bleiben. Und so einen Bremsschaden repariert man nun einmal nicht so eben im Handumdrehen. In Sicherheitsfragen geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. In der Rheinischen Postist zu lesen: Auf der Strecke der Regionalbahn Duisburg-Xanten mussten 55 Fahrgäste im Regionalzug am Mittwoch vier Stunden lang ausharren, weil das Bremssystem des Triebwagens ausgefallen war.
Um 16:10 Uhr machte sich der Zug in Duisburg auf in Richtung Xanten, wo er um 16:55 Uhr ankommen sollte. Leider hatte sich dann kurz vor dem Ziel, also gegen 16:45 Uhr, das kleine Malheur ereignet. Gegen 21.15 Uhr war laut RP das Bremssystem des Zugs offenbar wieder repariert, der Talent setzte sich endlich Richtung Xanten in Bewegung. Viereinhalb Stunden – da kann man auf der Autobahn in diesen Tagen weiß Gott Schlimmeres erleben. Und da gibt es auch keine Toilette. Das heißt: der „Talent“ hat natürlich Toiletten. Aber wenn ein Zug steht, darf man die selbstverständlich nicht benutzen. Das weiß aber doch jeder! Dass da eine Frau angefangen hat zu weinen, nur weil sie mal musste – tja Gott: das sind die Nerven.
Aber ansonsten blieb alles ruhig. Sehr disziplinierte Fahrgäste. Kein Mensch ist in Panik geraten. Warum auch? Es bestand zu keinem Zeitpunkt für die Passagiere auch nur die geringste Gefahr. Dennoch ist – sicher ist sicher – die freiwillige Feuerwehr Alpen angerückt – mit 50 oder 60 Mann. Gegen 20:00 Uhr – recht flott, die wurde nämlich nicht früher verständigt. Die Feuerwehrleute hatten dann sogleich darüber beraten, ob man den Zug evakuieren solle. Dem hatten die Fachleute der NordWestBahn jedoch einen Riegel vorgeschoben. So etwas hätte ja nur völlig unnötige Gefahren heraufbeschworen. „Wir durften aus Sicherheitsgründen nicht aussteigen. Das wurde uns klar gesagt“, erzählte eine Reisende. Und da es alle erzählen, wird es wohl so stimmen. Ist ja auch klar. Sicherheit geht nun einmal vor.
Freiheit steht halt immer in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Sicherheit. Absolute Freiheit kann es nicht geben, entartet zur Anarchie. Und Kundenfreundlichkeit bedeutet als allererstes, dass man sich um die Sicherheit des Geschäftspartners sorgt. Was nützt einem der schönste Tee, wenn man tot ist. Aha! Und die Niederrheiner hatten das dann auch eingesehen und die Anordnungen, wie es sich gehört, befolgt. Ein bisschen geweint schon, aber kein Pippi gemacht, und vor allem: kein Mensch hatte es gewagt auszusteigen. Freiheit und Verantwortung – das gehört nun einmal zusammen. Und wenn der „Talent“ gestern Abend um Viertel nach Neun nicht weitergefahren wäre, säßen sie da noch heute. Irgendwo am linken Niederrhein in Menzelen-West in Höhe der Schulstraße. Nicht der schlechteste Flecken Erde.
Großes Aha löste aus, als Mitte der 90er Jahre Stücke der Elektronik-Pioniere Kraftwerk plötzlich in Mambo-Rhythmus und sattes Latin-Flavour inclusive Marimba- und Vibrafon gepackt den Dancefloor eroberten. Verantwortlich zeichnete der Frankfurter Uwe Schmidt, der bis dahin unter verschiedenen Pseudonymen als Technoproduzent wirkte, dann aber – einer spontanen Eingebung folgend – die „Emigration“ nach Chile vollzog, um von nun an als „Senor Coconut“ mit der rhythmischen Vielfalt Lateinamerikas intensiv Umgang zu pflegen. Die Früchte dieses musikalischen Tapetenwechsels waren nicht zuletzt viele weitere originelle Coverversionen, von denen auch sein aktuelles Album „Around the World“ durchzogen ist. Aktuell schaut der schillernde Verwandlungskünstler wieder in seinem Heimatland vorbei – und gastiert morgen abend mit groß besetzter Band in der Essener Zeche Zollverein.
Jens vom Pottblog hat Andreas Krauscheid, den medienpolitischen Sprecher der CDU im NRW-Landtag, interviewt.
Mit ihrer Entscheidung, dem JMStV überraschend nicht zuzustimmen, hat die CDU in NRW den gesamten Jugendemdienschutz Staatsvertrag gekippt. SPD und Grüne in NRW zogen nach, waren eher Getriebene und hatten das Heft des Handelns nicht mehr in der Hand.
Krautscheid, der erst für den JMStV war, begründet seinen Meinungswechsel im Interview mit Jens erstaunlich offen:
Aber ich glaube auch, dass wir in den letzten Wochen und Monaten durch die Diskussion im Netz, aber ganz besonders für mich auch eindrücklich durch die Anhörung, die wir am 4. November im Landtag gemacht haben, doch ein stückweit schlauer geworden sind. Also die Kampagne, wenn man sie so nennen will, oder die Diskussion, die im Netz stattgefunden hat, hat Wirkung gezeigt, sie ist dann auch ins Parlament geschwappt.
Alice Schwarzer hat in Duisburg eine Vorlesung über Männer, Frauen und Gewalt gehalten. Dabei bezog die oftmals scharf kritisierte Feministin auch Stellung zum Fall Jörg Kachelmann. Doch was ist von der Frauenrechtlerin übrig? Oder: Who the fuck is Alice?
Die Tickets für die Vorlesung von Deutschlands Feministin Nr. 1 waren schnell vergriffen – auf dem Duisburger Campus tummelten sich am Dienstag Abend ungewohnt viele ältere Generationen. Im September wurde bekannt, dass Alice Schwarzer die diesjährige Mercator-Professur der Universität Duisburg-Essen erhält. Eine Aufgabe, die Weltoffenheit, aber auch Diskussionsbereitschaft erfordert.
Der erste Vortrag sollte sich um „die Funktion der Gewalt im Verhältnis der Geschlechter“ drehen. So richtig konnte sich kaum Einer vorstellen, was eine Alice Schwarzer darunter versteht. Im Vorfeld der Vorlesung spekulierten einige Besucher im Foyer des Audimax – wird sie sich zu Kachelmann äußern? Ja, sie wird. Freiwillig und direkt, wie manch einer der anwesenden 68-er es von Alice Schwarzer gewohnt ist.
Die Antwort
Seit vierzig Jahren ist Alice Schwarzer in Sachen Gleichberechtigung unterwegs – gegen Sexismus, gegen Diskriminierung und gegen den Abtreibungsparagraphen 218. Vierzig Jahre, die Alice Schwarzer zu einem Medienmagnet gemacht haben. Wann immer der Begriff der Gleichberechtigung in einer Polit-Talkshow fällt, ist die Mutter der deutschen Gleichberechtigung nicht weit. Dabei sagt sie selbst, dass sie es bedauert, immer auf die Frauenkiste reduziert zu werden. Leider haben wir in Deutschland nur die eine Ansprechpartnerin, wenn es um Frauenkram geht.
Kritiker behaupten, Schwarzers Ansichten seien veraltet und mittlerweile wirklich nicht mehr zeitgemäß. Und so war auch ihre Vorlesung am Dienstag nicht wirklich eine Überraschung. Wer ihr Buch “Die Antwort” (2007) nur grob überflogen hat, wird schnell erkannt haben, wohin das Ganze führt. Das Thema des sexuellen Missbrauchs ist wichtig und muss angesprochen werden – leider scheint Alice Schwarzer ihre bekannten Thesen aus aktuellem Anlass einfach mit ein paar frischeren Zahlen aktualisiert zu haben.
Das eigentliche Problem der ganzen Veranstaltung: Seit einigen Wochen begleitet Alice Schwarzer den Kachelmann-Prozess für die BILD-Zeitung. Hätte sie den Namen “Kachelmann” in ihrer Vorlesung nicht fallen lassen, wäre sie eindeutig glaubhafter. Denn wenn das Thema “Männer, Frauen und Gewalt” heißt, gehört dazu einiges mehr als ein Wettermoderator, über deren Schuld oder Unschuld wir bis heute nichts wissen. Wenn Frau Schwarzer den Kachelmann-Fall ziemlich am Anfang einer Vorlesung als “Schauprozess” tituliert, bleibt ein fader Nachgeschmack. Objektivität sieht anders aus.
Gerade weil das Thema des sexuellen Missbrauchs durch den Fall Kachelmann medial wieder präsent geworden ist, muss darüber geredet werden. Doch die Art wie Alice Schwarzer sich als BILD-Reporterin engagiert, lässt Zweifel an ihrer Unvoreingenommenheit aufkommen. Die BILD-Zeitung präsentiert jeden Morgen auf Seite 1 ein neues Nackedei, daneben steht nun die Berichterstattung zu Kachelmann. Gender-Bewusstsein geht anders. Meint man.
Denn Schwarzer sieht darin keinen Widerspruch – vielmehr hat die vermeintlch Kachelmann-freundliche Berichterstattung von Qualitätsmedien wie ZEIT oder SPIEGEL Alice Schwarzer gestört: „Es gab diese beiden gewaltigen Leitmedien, die die Stimmung in Deutschland zum Kippen brachten. An der Stelle habe ich mich eingemischt“, sagt Schwarzer.
Doch wie viel Idealismus hat Alice Schwarzer noch? Ihre Arbeit für die BILD lässt sich vielmehr im Kontext ihres Lebens betrachten: 1978 verklagt Alice Schwarzer zusammen mit anderen Frauen den Stern (sog. Sexismusklage). Die Titelbilder seien zu sexy, ja geradezu sexistisch. Erfolg hatte sie damals wenig, aber es war immerhin ihre erste Aktion gegen pornografische Bilder. 2004 nahm Alice Schwarzer “Die goldene Feder” der Bauer Verlagsgruppe an – ein Verlag, der kurz vorher den deutschen Playboy verlegt hat. 2007 hat Alice Schwarzer Werbung für die BILD gemacht, 2010 schreibt sie selbst Beiträge für das Boulevardblatt.
Immer wieder wurde in den letzten Jahren Kritik an der Vorzeige-Feministin laut. Jeder neuer, moderner Feminismus („Wellness-Feminismus“) wird von Alice Schwarzer abgelehnt und sie geht noch weiter: „Ich bin mit Verlaub nicht abzulösen!“, stellt Alice Schwarzer 2008 fest. Da scheint es fast ironisch, wenn Frau Schwarzer bei ihrer Vorlesung in Duisburg über mangelnde Solidarität bei Frauen spricht.
Alice Schwarzer sagt von sich selbst, sie sei humorvoller geworden und versuche, Vielem eine Prise Ironie entgegen zu bringen. Sie ist vielleicht eine Über-Feministin, am Ende aber nur eine Durchschnittsfrau. Denn nicht nur sie ist humorvoll: Die meisten jungen Frauen heute sind selbstbewusst und das mit einem Augenzwinkern. Sie können den Mann mal als Macho nehmen und mal als Freund. Aber immer als Mensch.
Und auch wenn Alice Schwarzer oft als verbissen bezeichnet wird: Vor ihrer ausgeprägten Toleranz gegenüber Boulevardmedien konnte man sie wenigstens als Feministin ernst nehmen. Durch ihr Verhalten in den letzten Jahren und insbesondere in den letzten Monaten hat Frau Schwarzer ihr Lebenswerk nach und nach degradiert.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet ein Mann das Bedürfnis vieler junger Frauen von heute auf den Punkt bringt, wenn Harald Schmidt ironisch anmerkt: “Wir werden nie vergessen, dass sie den Feminismus nach Deutschland gebracht hat, aber aus dem Tagesgeschäft soll sie sich bitte raushalten.”
Noch bis vor ein paar Jahren war das mit dem Wetter so: Es kam, man ertrug es stoisch, und dann wurde es wieder anders. Gut, wer an der Küste lebte hatte immer mal ein Auge auf Strumfluten, aber ansonsten? Egal. Das hat sich geändert. Das Wetter ist eine Aneinanderreihung von Katastrophenereignissen geworden: Fällt im Sommer zwei Wochen kein Regen, bekommen wir Berichte von traurigen Bauern zu sehen, die etwas Staub durch ihre Hände rieseln lassen. „Das war mein Acker“ sagen sie mit belegter Stimme in die Kamera und man möchte mit ihnen mehr Mitleid haben als mit den Bewohnern der Sahelzone.
Über banale Frühjahrs- und Herbststürme wird heute berichtet wie über feindliche Heere. Sturmtief „Dörte“ kommt nicht einfach, nein, es greift an mit dem festen Willen der Vernichtung. Als ob jemand der Dörte heißt mehr vernichten könnte als eine Packung Butterkekse.
In den nächsten Stunden wird es schneien. Das Tief heißt Petra. Mit einer Petra war ich mal in einer Klasse. Wir haben Winter. Da kommt so was schon einmal vor. Auf DerWesten haben sie einen Liveticker eingerichtet. Die Unwetterzentrale hat die zweithöchste Warnstufe ausgerufen. Bild prognostiziert 20 Zentimeter Neuschnee. Ach, und es soll Eisregen geben.
Es ist eben Winter. Man bleibt nach Möglichkeit zu Hause. Oder ist vorsichtig. Wie immer, wenn es glatt wird und viel schneit. Einen Liveticker, der mir meldet, dass irgendein Trottel nach einer Mutprobe mit der Zunge an einem Laternenpfahl hängen geblieben ist, brauche ich nicht. Ich wünsche mir wieder eine ganz normale Wettervorhersage und keine Frontberichterstattung.
Im September hatte ich zusammen mit meinen Buddies im Kunstmuseum Bochum die 7-Tage-Nonstop-Lesung „Tugend und Laster“ veranstaltet. Das Ganze war als Ruhr.2010-Beitrag (ohne städtische Unterstützung) gedacht und sollte Bochum als „Stadt des Buches“ so ein bisschen profilieren. 168 Stunden wurde durchgelesen. Und so trocken sich das auch anhört, wurde es doch überraschend geil. Nun ist das Buch zur Lesung erschienen. Gedacht als Würdigung aller Beteiligten, besticht es vor allem durch seine Essays. Mir kam die Ehre zuteil, über das Phänomen des Live-Streamings einen (wissenschaftlichen) Beitrag zu verfassen, der im Folgenden kostenfrei zugänglich gemacht werden soll. Digital Natives und Hacktivisten können getrost weiterklicken, denn Neuigkeiten werden dort nicht ausgeplaudert. Vielmehr dokumentiert der Text einmal mehr meinen Unwillen, einem breiteren Publikum mit der nötigen Ernsthaftigkeit entgegenzutreten und generiert – so will ich hoffen – ein gewisses Lesevergnügen.
Eine Tour de Force durch das digitale Dickicht
„Bitte setzten Sie sich so, dass die Kamera Sie sehen kann.“ – Auf der Bühne des Museums Bochum herrschte das Gebot des Blickwinkels. Schließlich wurde die Marathonlesung mittels Webcam ununterbrochen im Internet übertragen. Die Tugend-und-Laster-Lesung war ein lokales Event, an dem die ganze Welt teilnehmen konnte. So kam es nachweislich zu Grußbotschaften aus Paris, Genua, Detroit und Amsterdam. Meine Mutter beglückwünschte mich zu meiner nächtlichen Ellis-Performance via SMS aus Peking, wo sie „zeitgleich“ ein interkulturelles Seminar gab. Wahnsinn. Möglich gemacht hat dieses globale Happening der lokale Kultur-Podcast Ebland. Dazu waren im Vorfeld einige Hürden zu nehmen. So musste beispielsweise noch am Morgen der Auftaktveranstaltung ein leistungsstarker DSL-3000-Internetzugang (50 Meter LAN-Kabel) ins Museum gelegt werden, die Upload-Rate wurde auf 500 kbit/s erweitert. Groß war die Aufregung, das Ergebnis umso zufriedenstellender. Dank des unermüdlichen Engagements der Ebländerinnen Dorette Gonschorek und Britta Maas entstand von der siebentägigen Nonstop-Lesung ein Bild, das sich (weltweit) sehen lassen konnte.
Dabei war der Erfolg des Streamings keineswegs vorhersehbar. Unlängst flankierte der junge niederländische Künstler Dries Verhoeven die Premierenoffensive der neuen Weber-Intendanz am Schauspielhaus Bochum mit einer gewaltigen Life-Streaming-Inszenierung. Ein mobiles Internet-Café wurde auf dem Platz vor dem Theater aufgefahren, zwanzig Darsteller weltweit vernetzt. Die Kritiker sprachen von einem Flop, die Wohlgesinnteren von der Schönheit der Idee. Und auch Resultat der Ruhr.2010-Babel-Vernetzung im Rahmen des ambitionierten Henze-Projektes war ernüchternd. Laut Insiderinformationen seien immense Kosten von ungefähr 20.000 € allein für das Live-Streaming angefallen, dann kam es während der Vernetzung der Kulturstadt-Kirchen zu Übertragungsausfällen. Ja, der Erfolg ist nicht vorprogrammiert, wenn gestreamt wird, und was diese beiden Beispiele belegen, ist, dass Live-Streaming vor allem eines voraussetzt: Risikobereitschaft. Doch wie schreibt man stilsicher über das Phänomen des Live-Streamings? Richtig – im Stream of Consciousness. Fangen wir doch gleich damit an.
Fernrohre, Linsen, Lichtkegel
Der erste Eindruck von der Webcam war desillusionierend: die Logitech Quickcam pro 9000 sah aus wie ein schlecht designtes Babyphone. Wer eine große Kamera erwartet hatte, wurde enttäuscht. Wäre die permanente Übertragungsleistung nicht auf dem Monitor links neben der Lesebühne sichtbar gewesen, wer hätte an die Leistungsfähigkeit der Kamera geglaubt? Doch es lief. Vom Anfang bis zum Ende konnte die Lesung auf der Site des Kultur-Podcastes verfolgt werden; die Homepage der Literarischen Gesellschaft Bochum bot einen entsprechenden Link an. Ein digitales Labsal, besonders wenn einmal der Publikumsansturm ausblieb. Gerade in den langen, mitunter einsamen Nächten war, neben der genialen Graupensuppe, die Daniel Birkner von der Gesellschaft Harmonie gestiftet hatte, das Live-Streaming ein großer Trost. Meine Ellis-Performance fand um 4 Uhr in der Nacht statt. Das Publikum: vier junge Frauen, die ich mit meinen schauderhaften American-Psycho-Passagen bereits nach zehn Minuten vergrault hatte. Doch las ich weiter, da ich wusste, dass immerhin Jasmijn und Lieke in Amsterdam, meine Mutter in Peking, ja sogar der ehrenwerte Professor Durand vom Collège La Guicharde in Sanary-sur-Mer online sein würden – und wer weiß, wer noch? An all diese lieben Menschen musste ich denken, als ich in das kalte Auge der Kamera sprach, hinter der sich die Weite des leeren Auditoriums im Nirgendwo verlor. Die Welt war immer im Raum. Umso größer war naturgemäß die Sorge, wenn die Live-Übertragung auf dem Monitor einmal ausfiel. Mehrmals mussten Dorette Gonschorek und Britta Maas mitten in der Nacht via BlackBerry geweckt werden, um die größten Bedenken aufzuheben. Nein, kein Übertragungsfehler, nur ein Problem mit dem Monitor. Aha. Die Nerven lagen trotzdem blank. – Man hatte sich abhängig gemacht. Ohne Live-Streaming vorzutragen war undenkbar geworden, vor allem in den Nächten.
Doch auch an den Tagen erfreute sich die kleine Logitech Quickcam pro 9000 größter Beliebtheit. Auch heute, mehrere Wochen nach dem Lesemarathon, kommt es bei der Literarischen Gesellschaft immer wieder zu Anfragen der Teilnehmer, ob man ihnen ihren Beitrag nicht gesondert auf DVD zukommen lassen könnte. Die Euphorie könnte nicht größer sein, was natürlich super ist, aber gleichsam auch Fragen aufwirft. Woher kommt diese Affirmation gegenüber der Webcam? Das Wort „Kamera“ ist ja durchaus nicht nur positiv belegt. Vielmehr schwingt im semantischen Kraftfeld auch immer die Dimension der Repression mit. Im öffentlichen Raum wird vor Kameras gewarnt. Die Privatsphäre wurde zugunsten der Sicherheitsbedenken geopfert. Zwar hat der Grad der Überwachung in Deutschland noch nicht das Ausmaß Englands erreicht, wo mittlerweile jeder Hinterhof kameratechnisch erfasst ist, doch auch hierzulande sorgt die anwachsende Kontrolle der Kameras für Unmut. Wie brisant dieses Thema ist, zeigten unlängst die Proteste gegenüber „Google Street View“ und auch die globale Vogelperspektive von „Google Earth“ wird nicht von jedem Zeitgenossen begrüßt. Die Angst vor der Kamera ist nicht unbegründet. Hören wir dazu doch einmal unseren Experten vom Collège de France:
Neben der großen Technologie der Fernrohre, der Linsen, der Lichtkegel, die mit der Gründung der neuen Physik und Kosmologie Hand in Hand ging, entstanden die kleinen Techniken der vielfältigen und überkreuzten Überwachungen, der Blicke, die sehen, ohne gesehen zu werden; eine lichtscheue Kunst des Lichtes und der Sichtbarkeit hat unbemerkt in den Unterwerfungstechniken und Ausnutzungsverfahren ein neues Wissen über den Menschen angebahnt. (Michel Foucault: Überwachen und Strafen)
Eine ganze Welt soll digital gerastert werden. Die permanente Sichtbarwerdung von allem unterminiert die Nischen und leistet den Normierungsstrategien Vorschub. Eine überwachte Welt ist eine arme Welt. Pluralität, Improvisation und auch Kreativität werden geopfert auf den Altären der viralen Ängste. Allein Anpassungsleistungen garantieren die persönliche Aufhebung im Auge der Kamera und suggerieren den Schein von Privatsphäre. Ein totalitäres Endzeitszenario, das George Orwell nicht besser hätte beschreiben können. Aber ist der Zustand der westlichen Hemisphäre wirklich so hoffnungslos? Mitnichten. Vielmehr ist es zum Trend geworden, den Repressionen, wie sie uns im Alltag begegnen, affirmativ entgegenzutreten. Stichwort: Industriekultur – dort, wo einst ausgebeutet und entfremdet wurde, wird heute gespielt und gefeiert. Die Kamera ist immer dabei. SmartPhones drehen kleine Videoclips und über YouTube reproduziert sich das Event tausendfach. Was einst Ausdruck totalitären Machtanspruches war, will heutzutage oft nichts weiter sein als Entertainment. Das Monopol der Unterwerfungstechniken und Ausnutzungsverfahren wird durch eine ausufernde Bilderflut, die nicht gewaltiger sein könnte, gebrochen. Längst hat sich eine Gegenöffentlichkeit etabliert, deren wichtigster Kronzeuge gegenwärtig die Internet-Plattform WikiLeaks des australischen Programmierers Julian Assange sein dürfte. Durch die anonyme Veröffentlichung höchst pikanter Dokumente (Stichwort: US-Depeschen) drehte WikiLeaks das Prinzip der Sichtbarkeit um, respektive: im digitalen Dickicht demokratisierte sich das Repressionsmoment der Überwachung. Doch bei allem Euphemismus sollte nicht vergessen werden, dass dieses Repressionsmoment nicht vollständig demokratisiert, geschweige denn aufgehoben wurde. Immerhin wurden durch das Internet Brücken geschlagen. So verstanden, steht jede neue Webcam für einen weiteren Schritt in eine menschenwürdigere Zukunft.
Die Esoterik-Keule am Bühnenrand
Doch auch auf der Ebene der Subjektkonstitution sind Fortschritte zu beobachten. Denn es ist eben nicht nur so, dass der vermeintlich kalte Blick der Kamera ausschließlich sein Objekt ausliefert, vielmehr kommt es zu reziproken Strategien, da sich das Subjekt im Spiegel der Kameralinse selbst erkennen kann. Sprachen wir einst mit Jacques Lacan vom Spiegelstadium, so sprechen wir heute von der Showtime, denn medientheoretisch ist der Körper ein Projektionsapparat:
Prinzipiell ist dabei die Auffassung, dass man vermittelst eines jeden Apparates, der Schwingungen des Äthers (Licht in unserem Falle) aufzunehmen vermag, umgekehrt auch Schwingungen des Äthers (Licht) produzieren kann oder dass man mit einem Apparat, der für Schwingungen der Luft (Töne) empfindlich ist, auch wieder Schwingungen der Luft (Töne) hervorbringen kann. (Ludwig Staudenmaier: Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft)
So. Fehlt noch was? – Ach ja, die Ontologie. Das Sein steckt in unserem Beispiel natürlich in den Texten selbst, schockgefroren sozusagen. Hier bedarf es der Axt. Beim Vortragen geht der Lesende mit der Axt in den Text hinein und bricht ihn auf. Das kann mal zart, mal hart von statten gehen. Allerdings sollte man nicht allzu zimperlich sein, schließlich soll der Text Funken schlagen. Handelt es sich nun um einen „guten“ Text, dann ist er ontologisch aufgeladen und es kommt zu Synergie-Effekten mit dem Vortragenden, die zusätzlich befeuert werden vom Rauschen der Welt, hineingelassen durch die digitale Schnittstelle der Webcam. Einfach zauberhaft. Und jenen Kritikern, die jetzt mit der Esoterik-Keule am Bühnenrand drohen, sei erwidert, dass all das ja wirklich geschehen ist im Museum Bochum auf der Lesebühne. Als ich um 4 Uhr nachts meine schauderhaften American-Psycho-Passagen vortrug, war ich gleichzeitig der Vortragende Carsten Marc Pfeffer, der Autor Bret Easton Ellis sowie der Protagonist Patrick Bateman. Ein ontologischer Super-Gau als Produkt aus Text, Performance und Webcam. Und wenn ich nun anführe, dass mich am folgenden Tag der geniale Regisseur Hans Dreher, der meine Performance ebenfalls im Live-Stream gesehen hatte, anrief und mir die Rolle des Ellis in seinem neuen Theaterstück anbot, dann tue ich das nicht, um meine Eitelkeit, deren größtes Opfer ich ja selbst bin, weiterhin zu befeuern, sondern allein, um meine Thesen zu untermauern. Bald schon werden alle Lesungen über Live-Streaming im Internet übertragen werden, weil kein Veranstalter mehr auf den ontologischen Zauber der Webcam wird verzichten wollen.
Doch gab es auch Probleme. Denn leider müssen wir Jacques Derrida recht geben, wenn er sagt: „Das Zentrum ist nicht das Zentrum.“ – Ja, es gab Leerstellen. Was heißt beispielsweise „Direktübertragung“, wenn die Bilder zeitverzögert im Internet sichtbar werden? Oder wie verhält es sich mit dem begrenzten Blickwinkel der Webcam? – Ungeheuerliches trat zutage. So wurden die Vortragenden immer nur aus dem Off anmoderiert, derweil sie selbst bereits am Lesepult vor dem Objektiv der statischen Webcam saßen. Wie leicht hätte man dieses Manko mit einem beherzten Kameraschwenk, oder besser noch: einer zweiten Kamera beheben können? Aber wie hätte all das organisiert werden sollen? Allein vier Personen (Museumspersonal miteingerechnet) waren nötig gewesen, um den ordnungsgemäßen Betrieb der Nonstop-Lesung zu gewährleisten, und das 24 Stunden am Tag. Besonders in den Nächten wäre es unverantwortlich gewesen, für einen „Kameraschwenk“ weitere Kräfte hinzuzuziehen. Oft ging es so hoch her, dass sogar die Graupensuppenausgabe im Museumsfoyer vernachlässigt werden musste. So kam es vor, dass ein Gast eine Graupensuppe essen wollte, sich jedoch niemand einfand, ihm diese auszuschenken, weil das Team zu diesem Zeitpunkt mit Organisationsproblemen beschäftigt war. Oft musste umdisponiert und eingesprungen werden. Jedes Mitglied des Organisationsteam ging bis an seine Grenzen und oft auch darüber hinaus. Permanenter Schlafentzug einhergehend mit Schwindel und Fieber waren keine Seltenheit. Vor diesem Hintergrund von einem „Kameraschwenk“ zu reden, wäre grob fahrlässig gewesen.
Das Monopol der Graupensuppe
Doch wollen wir uns angesichts der gelungenen Veranstaltung nicht in Larmoyanz ergehen, sondern einen letzten Blick durch das Auge der Webcam wagen und über die digitale Schnittstelle hinausgehen. Brechen wir also auf ins dezentralisierte Rhizom, ins rhizomatische Labyrinth. Willkommen im Web 2.0, einem Ort, der wie kein anderer, den Status der Ruhrgebietsliteratur in all seiner Vielseitigkeit verkörpert. Denn hier gibt es kein Zentrum, was zählt, das sind allein die Aufmerksamkeitsökonomien. Nur keine Angst, öffnen Sie sich. Lassen Sie die ganze Welt an ihrem Alltag, Projekten und Freundschaftkreisen teilhaben. Social Networks wie der Marktriese Facebook garantieren Ihnen Tuchfühlung zu ihren Freunden, selbst wenn diese soeben den Himalaya besteigen. Verlinken Sie den Live-Stream der Nonstop-Lesung auf ihrem Account. Posten sie ihre Tweets, Smart-Phone-Filmchen oder den neusten Song, den Sie letzte Nacht in einem Anfall von sentimentaler Verzweiflung in das Studio-App ihres IPhones gesungen haben. Verschenken Sie sich. Aber bitte vergessen Sie dabei nicht Sartres Satz von der Selbstverleugnung: „Wenn meine Beziehungen schlecht sind, begebe ich mich in die totale Abhängigkeit von anderen. Und dann bin ich tatsächlich in der Hölle.“ – Also: bleiben Sie bei allem, was sie posten, Sie selbst dabei. Und bitte vergessen Sie Marshall McLuhan – nicht das Medium ist die Botschaft, sondern Sie selbst sind es. Arbeiten Sie an ihrer Performance, denn Sie selbst sind das Geschenk, das Sie der Welt bereiten, und dieses Geschenk sollte von Herzen kommen. In 15 Minuten ist ihr Auftritt. Hölderlin, sagen Sie? Den ganzen Hyperion in zwei Stunden? Das wird ja eine richtige Tour de Force. Ja freilich, das Ganze wird live im Internet übertragen. Ach, Sie haben Freunde im Ausland. Und die schauen zu? Na, die werden sich aber freuen. Stärken Sie sich zuvor im Museumsfoyer mit einer Graupensuppe. Sie ist wirklich gut. Wie bei Proust die Madeleine führte sie bei mir zu einem Epiphanie-Erlebnis. Gleich beim ersten Löffel musste ich an meine leider verstorbene Großmutter und ihre Eintöpfe denken. Ich war ganz verliebt in diese wohldosierte Traurigkeit, so dass ich, immer bevor ich zum Lesen auf die Bühne ging, einen Teller Graupensuppe aß. Immer wenn ich die Lesebühne betrat, hatte ich alles losgelassen. Nur so erreichte ich die höchste Interpretationsleistung der Texte, was mir wichtig war, schließlich war meine Performance auf der ganzen Welt potentiell sichtbar. Epiphanie kann hilfreich sein, egal ob mit oder ohne Kamera. Wobei mit Kamera – wir sagen „Webcam“ – natürlich schöner ist, wegen der Realpräsenz der Bilder. Der französische Filmkritiker André Bazin ging sogar soweit, an ein Transsubstantiationsmoment der Bilder zu glauben. Die Heiligkeit der Bilder… – Vielleicht reden wir später darüber weiter, jetzt müssen Sie auf die Bühne. Bitte setzten Sie sich so, dass die Kamera Sie sehen kann.
Am vergangenen Wochenende überfielen Nazis das Dortmunder Szene-Lolak Hirsch-Q. Am Samstag wird gegen den Überfall protestiert.
Das Dortmunder Antifa Bündnis (DAB) ruft deshalb am kommenden Samstag, den 18. Dezember, um 16.00 Uhr zu einer Demonstration auf. Die Demo startet an der Katharinenstraße Ecke Kampstraße.
Aus dem Aufruf:
Es darf nicht sein, dass in Dortmund wieder Menschen durch anhaltenden Naziterror vertrieben werden: Nachdem im letzten Jahr eine Familie aus dem Stadtteil Dorstfeld wegziehen musste, geht es diesmal um die „Hirsch Q“ im Brückstraßenviertel. Nach dem Naziangriff überlegt der Betreiber der „Hirsch Q“ seine Kneipe zu schließen, da er es nicht mehr verantworten könne, dass seine Gäste um ihre körperliche Unversehrtheit fürchten müssten. „Wir möchten die Demonstration deshalb auch dazu nutzen, die angrenzenden Kneipen und Geschäfte in der Brückstraße dazu aufzufordern, ein deutliches Zeichen der Solidarität mit der „Hirsch Q“ zu setzen,“ so Piehl weiter. „Wir schließen uns deshalb der Mahnung an,
die an der seit Sonntag geschlossenen Kneipe zu lesen ist: „Muss erst
wieder ein Mensch sterben?“
Zusätzliche Brisanz gewinnt der Überfall dadurch, dass sich unter den
angreifenden Neonazis auch Sven Kahlin, der Mörder des 2005 von ihm erstochenen Punkers Thomas „Schmuddel“ Schulz, befand. Kahlin, der nach dem Mord zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war, ist vor wenigen Wochen vorzeitig entlassen worden. Seitdem ist er verstärkt in der rechten Szene aktiv und trat als Redner beim Naziaufmarsch am 23. Oktober in Hamm auf. Außerdem nahm er an Nazidemos am 17.10. in Leipzig und am 4.12. in Dortmund teil.“
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