Das Obdachlosenmagazin Bodo sucht neue Räume. Und langsam wird es eng.
Noch haben der Redaktion und der Verein des Obdachlosenmagazins Bodo Räume im Hochbunker am Springerplatz in Bochum. Doch der wird renoviert, alle Mieter müssen raus. Schon seit längerem such Bodo neue Räume – scheiterte aber bislang an der Ignoranz der Vermieter.
Jetzt hat Bodo noch sechs Wochen Zeit, neue Büros zu finden. Wenn jemand etwas weiß, kann er sich ja bei dem Verein melden. Übrigens: Bodo ist mittlerweile ein richtig gutes Magazin geworden. Schöne Reportagen, ein breites Themenspektrum – unter der Leitung von Bastian Pütter hat sich Bodo sehr gut entwickelt. Damit gibt es mehrere gute Gründe, Bodo zu kaufen.
CDU, Linke und FDP werden in NRW gegen den JMStV stimmen. Was Rot und Grün machen ist allerdings nicht ganz egal: Sie haben normalerweise keine Mehrheit im Landtag. Morgen aber schon.
Neben der FDP und der Linkspartei wird auch die CDU im Landtag gegen den Jugendmedienschutzstaatsvertrag stimmen. Den hat sie selbst mit ausgehandelt. Netzpolitik meldet es gerade – es wurde von der CDU im Landtag bestätigt. Damit könnte der JMStV Geschichte sein – wenn nicht Rot-Grün ausnahmsweise eine Mehrheit hätte. Christian Söder hat uns in einem Kommentar darauf hingewiesen, dass morgen zwei Landtagsabgeordnete der Union fehlen: Rüttgers soll in Italien sein, ein weiterer ist krank. Es müssen also noch Stimmen von SPD und Grünen dazukommen. Und die beraten wie sie sich entscheiden werden. Sollte tatsächlich eine Mehrheit gegen den JMStV in NRW zustande kommen, wäre er Geschichte: Alle Länder müssen ihm zustimmen, damit er am 1. Januar 2011 in Kraft treten kann. Ohne Zustimmung aus NRW kein JMStV.
Ich hätte das nie für möglich gehalten. Es ist eine große Überraschung. Und es ist so unendlich peinlich für SPD und Grüne. Die wollten erst zustimmen, dann doch irgendwie diskutieren und zuletzt wohl wieder zustimmen. Und natürlich diskutieren. Nun sind sie blamiert – und würden mit einer Zustimmung zum JMStV gegen die Stimmen der Union den letzten Rest an netzpolitischer Reputation verlieren.
Ist Häme erlaubt? Ja. Besonders würde mich die mögliche Niederlage für den Medienstaatssekretär Marc Jan Eumann (SPD)freuen, der im Hintergrund alles dafür tat, den JMStV durchzubekommen. Und ich muss mich für eine grandiose Fehleinschätzung entschuldigen. Aber damit, dass die Union kippt, konnte man nicht rechnen. Jörg-Olaf Schäfers schreibt auf Netzpolitik treffend: „Hell freezes over!“
Sepp Herberger hatte doch Recht: Das Spiel dauert 90 Minuten :-).
Richard Holbrooke ist tot. Er starb gestern während einer Operation an seiner Halsschlagader im Alter von 69 Jahren. Barack Obama bezeichnete ihn als einen „wahren Giganten der US-Außenpolitik“, David Petraeus würdigte ihn als einen „Titanen“, Joe Biden nannte ihn den „talentiertesten Diplomaten seiner Generation“ und Hillary Clinton – vergleichsweise nüchtern – den „entschiedensten Verteidiger und treuesten Diener Amerikas“. Jetzt, nach seinem Tod, werden sich die anerkennenden Worte häufen. Dabei kann man über Holbrooke vieles sagen, nur eines nicht. Richard Holbrooke war nicht sonderlich umgänglich.
Holbrooke war nicht der Typ von Kumpel, den man ständig um sich haben möchte. Und ob er, wie Biden formulierte, ein talentierter Diplomat war, ist letztlich eine Definitionsfrage. Obama hatte Holbrooke, dessen Beauftragter für Afghanistan und Pakistan er war, engmaschig kontrolliert, da Holbrooke ständig mit dem außenpolitischen Apparat im Weißen Haus aneinander geraten ist. Petraeus waren Holbrookes Bemühungen um eine Einbindung der Taliban in einen Aussöhnungsprozess ohnehin äußerst suspekt. Holbrookes tiefe Verachtung für Karzai war allgemein bekannt.
Einzig Hillary Clinton stand in letzter Zeit voll auf seiner Seite; Holbrooke war ein enger persönlicher Freund der Clintons. Als er letzten Freitag im Büro der Außenministerin Bericht erstattete, platzte ihm die Halsschlagader. Holbrooke soll seine Beschwerden zunächst heruntergespielt haben, bevor er auf dem Weg zum Arzt zusammengebrochen ist. Der Riss an der Aorta wurde letzte Nacht 20 Stunden lang operiert. Richard Charles Albert Holbrooke, so sein vollständiger Name, überlebte die Operation nicht.
In den Vereinigten Staaten ist es üblich, den Vornamen Richard auf die Kurzform „Dick“ zu reduzieren. Holbrooke mochte das nicht. Weniger wegen der obszönen Verwendung des Wortes für das männliche Geschlechtsteil, was ja dann alle Richards stören müsste. Vielmehr deshalb, weil unter einem „Dick“ ebenfalls ein unangenehmer Mensch verstanden wird. Man denke an den deutschen „Dickkopf“. Die „Naturgewalt der US-Diplomatie“ wollte nicht mit „Dick“ angesprochen werden; dabei konnte Holbrooke verdammt unangenehm werden.
Unvergessen ist Holbrookes Rolle beim Zustandekommen des Dayton-Abkommens, das die Gräuel des Bosnienkrieges beendete. „Diese Soldaten“, stellte Holbrooke US-Militärs in Belgrad Slobodan Milošević vor, „befehligen die amerikanischen Luftstreitkräfte, die bereit stehen, Sie zu bombardieren, wenn wir nicht zu einer Einigung gelangen“. In Dayton (Ohio) pflegte er den serbischen Diktator anzuschreien und übte auch auf die anderen Konfliktparteien einen solch enormen Druck aus, dass ihnen ein Friedensabkommen als das kleinere Übel erscheinen musste – kleiner jedenfalls, als länger ihn ertragen zu müssen.
Mit Richard Holbrooke verlieren die USA einen einmaligen Außenpolitiker – einmalig, aber doch ein Mann der „alten Schule“, insofern, als dass sein Denken und Handeln vornehmlich von der Zeit geprägt war, in der die Vereinigten Staaten als einzig verbliebene Supermacht meinten, der Welt ihren Willen aufdrücken zu können. Es zählt zu den bleibenden Verdiensten Holbrookes, nach dem dramatischen Versagen Europas das Gemetzel in Bosnien beendet und damit seinen Teil dazu beigetragen zu haben, dass der Balkan (jedenfalls bislang noch) nicht in einem mörderischen Chaos versunken ist. Jahrzehntelang war Holbrooke für den Auswärtigen Dienst tätig, u.a. war er 1993 für neun Monate Botschafter der USA in Bonn.
Holbrookes Mutter Trudi Moos war 1933 nach der Machtergreifung der Nazis mit ihrer Familie von Hamburg nach Buenos Aires emigriert. 1939 wanderte sie dann in die USA ein, wo sie Holbrookes Vater kennenlernte, der Ende der 30er Jahre aus Weißrussland in die USA ausgewandert war. Holbrooke hinterlässt eine Frau und zwei erwachsene Söhne.
Alice Schwarzer ist Mercator Professorin der Uni Duisburg-Essen. Das ist für dieHochschule eine größere Ehre als für Schwarzer. Trotzdem regt sich Protest.
Es ist einer der Artikel die einen wütend machen, die man nicht versteht. Die WAZ beschreibt die Proteste gegen Alice Schwarzer, Mercatorprofessorin des Jahres 2010 der Universität Duisburg-Essen.
Die Grüne Hochschulgruppe, der Islamische Studierenden Verein (ISV), der ev. Kirchenkreis Duisburg und das Anti-Rassismus Informations-Centrum werfen ihr vor, sich abwertend über Muslime geäussert zu haben und protestieren gegen ihre Professur.
Nun gut, man könnte meinen jeder blamiert sich gerade so gut wie er kann. Aber das reicht nicht. Denn den Vorwürfen gegen Schwarzer haben ihren Grund in einem tiefen Mißverständnis.
Alice Schwarzer setzt sich für die Emanzipation der Frau ein und genau in diesem Wort liegt der Schlüssel für ihr Denken: Emanzipation. Sie will mündigen, selbstbewusste Menschen die über sich selbst bestimmen. Sie ist gegen jede Art der Unterdrückung – der von Frauen sowieso. Wer ihre Bücher liest, weiß das. Und man sollte ihre Bücher lesen, denn es sind gute Bücher: Klug und brilliant geschrieben.
Wer sich für die Emanzipation einsetzt, hat vom ersten Tag an mehrere Gegner: Die Religionen und autoritäre Ideologien. Hier geht es nun um Religionen. Das Christentum war eine blutige und grausame Religion. Der Wahn der Christen vernichtete beinahe das antike Erbe. Das Christentum wurde in Europa in zahllosen Kriegen und Konflikten niedergekämpft. Die Aufklärung setzte sich gegen die Kirche durch und domestizierte diese grausame Institution.
Wer sich für die Freiheit der Menschen einsetzt, steht im Konflikt mit den religiösen Institutionen. In religiös bestimmten Gesellschaften steht es immer schlecht um die Menschenrechte. Die Lage der Frau, das hat Schwarzer einmal geschrieben, ist ein Indikator, für die Freiheit der Menschen. Wo Frauen unterdrückt werden, gelten die Menschenrechte wenig.
Die Lage der Frauen ist in allen islamisch dominierten Länder katastrophal. Die Menschenrechte haben kaum Bedeutung. Liegt das an den Lehren des Islams? Nein, die sind so vieldeutig wie alle religiösen Texte. Man kann aus ihnen lesen was man will. Es liegt daran, dass der Islam eine Religion ist und Religionen wollen gläubige, nicht denkende Menschen.
Es gibt da einen schönen Satz, ich habe ihn schon einmal zitiert:
In jedem Dorf gibt es jemanden, der das Licht der Erkenntnis anzünden will. Das ist der Lehrer. Und es gibt einen, der will es löschen. Das ist der Priester.
Schwarzer ist eine Lehrerin. Sie will Licht in die Welt bringen. Sie hat sich ihr Leben lang gegen jede Art von Unterdrückung gewandt. Und wenn durch den Islam Menschen unterdrückt werden und Schwarzer dagegen aufsteht ist das ein Problem des Islams. Nicht eines von Alice Schwarzer.
In Schulzeiten ärgerte mich mein Geburtstag, so kurz vor Silvester. Nicht, weil ich nie in den Genuss der üblichen Hausaufgabenbefreiung kam – weil ich sportlich untalentiert war, aber für diese Siegerurkunde bei den Bundesjugendspielen immer ein paar Zentimeter weiter springen und ein paar Sekunden schneller laufen sollte als mein Banknachbar, knapp 14 Tage jünger als ich. Als Versager baut man sich seine Ausreden zurecht.
Als gestern der Runde Tisch Heimerziehung seine Ergebnisse vorstellte, freute ich mich fast. Wäre ich nur zwei Jahre früher ins Heim gekommen, könnte ich mich jetzt in die Schlange stellen, um die jämmerliche Rente oder Entschädigung zu kassieren. Aber der 31.12.1975 ist Stichtag für Ansprüche aus Misshandlungen in staatlicher und kirchlicher Obhut. Ganz ehrlich, ich fühle mich nicht benachteiligt. Ich kam 1977 ins Heim, ich wurde nicht geschlagen, in Keller gesperrt, vom Bauern in der Nachbarschaft als Zwangsarbeiter missbraucht, und einen Erzieherschwanz habe ich auch nie in der Hand gehabt. Was man Kindern in den 70-er Jahren in Heimen antat, war nicht böse oder individuellem Fehlverhalten des Personals geschuldet, war kaum sichtbar und tat nicht weh. Es war systembedingt, zwangsläufig, Ergebnis ordentlicher Verwaltungsakte.
Unser Heim, eine städtische Einrichtung am Rande des Ruhrgebiets, hatte nichts zu tun mit den pädagogischen Strafanstalten der 50-er und 60-er Jahre, deren Insassen vor allem eines vorgeworfen werden konnte: Sie hatten sich zur falschen Zeit die falschen Eltern ausgesucht. Auch wenn solche Einrichtungen nicht im düsteren Gewölbe des gesellschaftlich Verdrängten existieren, sondern immer auch den Common Sense vertreten, waren sie besonders perfide. Kein Kind war freiwillig dort, war aber dem Staat oder seinen subsidiären Einrichtungen schutzlos ausgeliefert. Wie man seit den Horrorgeschichten aus dem Dortmunder Vinzenzheim nicht mehr leugnen kann, war es damit auch vollkommen recht- und würdelos.
Ich ertrage die Erzählungen kaum. Vor zwei Jahren, nachts im Winter auf einer Heimfahrt, lief im Radio der Bericht eines ehemaligen Heimkindes. Das Mädchen bot als Zwölfjährige dem Heimpfarrer an, er könne doch sie missbrauchen, wenn er im Gegenzug dafür von ihrem fünfjährigen Bruder abließe. Ich kam an dem Abend eine halbe Stunde später nach Hause.
Das moderne, demokratische Heim der 70-er Jahre war dagegen ein lichtdurchfluteter Freizeitpark. Im schmalen Bücherschrank neben dem prächtigen Aquarium (Hobby des Sozialpädagogen) standen Werke wie „Studien zur politischen Ökonomie“ und „Fürsorgeerziehung im Kapitalismus“. Die 68-er mussten also hier schon durchgegangen sein. Als ich das erste Mal ein Buch ausleihen wollte, musste der Erzieher erst eine Viertelstunde nach dem Schlüssel für den Schrank suchen.
Der Röttgershof war ein reines Jungenwohnheim, die nie mehr als 20 Bewohner waren zwischen 15 und 19 Jahre alt, hatten die übliche Karriere hinter sich. Man kann die Elemente beliebig zusammensetzen. Desaströses Elternhaus, runtergekommenes Kinderheim, Pflegefamilie, kurzzeitige Rückkehr zu den Eltern, Jugendknast, Psychiatrie, Sonderschule, Bahnhofstrich, BTM, abgebrochene Ausbildung. Wie es sich für solche Einrichtungen gehörte, war das Heim am Rande der Stadt versteckt, nur mühselig zu erreichen. Nebenbei betrieb man dort eine Jugendbildungsstätte, die für uns aber im Mittelpunkt stand. Die Gäste bekamen alles, das bessere Essen, wenn es eng wurde, auch einmal unseren Fernsehraum und jeden Wunsch erfüllt. Die Seminarteilnehmer brachten Auslastung, Belegzahlen, Erfolge, die man im Jugendamt wohlig schnurrend zur Kenntnis nahm.
Das Elend des Heims war luxuriös. Wir hatten ein Fotolabor mit zehn Leitz Focomaten, mein Zimmer wurde zweimal die Woche gereinigt, alle drei Monate kam sogar der Fensterputzer, die Wäsche musste nur noch sauber, gebügelt und notfalls geflickt aus dem Keller geholt werden. Wenn wir mal Lust hatten auf ein Zappa-Konzert in der Westfalenhalle, organisierte ein Erzieher Eintrittskarten und Bulli. Nebenbei fand er Zappa auch klasse und konnte sich den Auftritt bei freiem Eintritt während der Arbeitszeit angucken. Nach 22 Uhr bekam er dafür sogar noch Nachtzuschlag.
Die Rundumversorgung führte dazu, dass der Laden reibungslos lief, die später Entlassenen aber unfähig waren, mehr als eine Dose Ravioli zu erwärmen. Mein Vorschlag, einen Kochkurs einzurichten, scheiterte im Ansatz. Wozu kochen, wenn es doch dafür Personal gab? Die Frauen in der Küche, auf der untersten Lohnstufe des öffentlichen Dienstes angesiedelt, sahen aus wie Beschäftigte in der LPG Schweinemast und benahmen sich angemessen. Sie bekamen täglich eine außertarifliche Leistung. Sie durften herabsehen auf die männlichen Jugendlichen und sie entsprechend behandeln. Mittags gab es fünf Mal die Woche Bratkartoffeln, zubereitet in einer quadratmetergroßen Industriepfanne. Ließ mal dieses Mahl nur einige Minuten stehen, setzen sich Öllachen auf dem Teller ab, man hätte BP im Golf von Mexiko spielen können. Maden in den seltener gereichten Nudeln gab es nicht, die wurden beim Kochen mit der Kelle abgeschöpft.
Kaffee stand nicht im Bedarfsplan. Eine große elektrische Thermoskanne, sieben Tage rund um die Uhr im Betrieb, nahm die Reste der Gäste auf. Am Wochenende wurde sie gereinigt. Schüttetest du Milch in den Kaffee, verfärbte sich er sich nicht goldbraun, sondern trüb grau. Viele der Jungs schütteten regelmäßig Maaloxan in sich hinein. Andere Sachen, die auch nicht auf dem Plan standen, wurden von den Küchenfrauen in prallen Plastiktüten nach Hause geschleppt. Es gehörte zu den Pflichtübungen, in unregelmäßigen Abständen nachts in die Küche einzubrechen.
Ansonsten kümmerte man sich um die Bewohner so liebevoll, wie es der Dienstvertrag vorsah. Nachdem ich etwa ein Jahr interveniert hatte, bekam jedes Geburtstagskind einen Marmorkuchen, in Folie verschweißt, vermutlich aus der Metro, immer genau den gleichen Kuchen. Die Geburtstage wurden manchmal vergessen, dann musstest du um das Gebäck betteln. Gesungen hat niemand, gratuliert eher aus Versehen.
Man war besorgt. Einmal kam mittags ein Anruf eines Religionslehrers, mein Zimmernachbar Georg habe einen Suizid angekündigt, ob man mal nachschauen könne. Man schaute und teilte dem Anrufer mit, Georg schliefe. Am Abend erschien der Lehrer persönlich, Georg schlief immer noch, war aber mittlerweile blau angelaufen. Ihm wurde der Magen ausgepumpt, über die Angelegenheit nie wieder gesprochen.
Auch mich traf die fürsorgliche Betreuung. Regelmäßig erhielt mein Amtsvormund, den ich nie persönlich zu Gesicht bekam, Entwicklungsberichte. „Martins Grob- und Feinmotorik ist normal ausgeprägt“ stand da drin, „er hält sein Zimmer und seine persönlichen Sachen in Ordnung.“ Da fühlt man sich in seiner Persönlichkeit hinreichend gewürdigt. Mein angestrebtes Abitur wurde in die Erfolgsstatistik aufgenommen, obwohl das Heim weniger dazu beigetragen hat als der Fahrer des Linienbusses, der mich morgens meist pünktlich zur Schule brachte.
Versuche, der Institution zu entkommen, wurden nicht verhindert, sondern ungläubig zur Kenntnis genommen. Der Pflegesatz betrug rund 2000 Mark pro Monat. Mein pragmatischer Vorschlag: „Gebt mir die Hälfte, und ich ziehe morgen aus!“, passte nicht ins Konzept. Es ging nicht um die Selbständigkeit der Betreuten, sondern um die Existenz der Einrichtung. Die lebte nicht für die Wünsche der Jugendlichen, sondern von einer guten Belegungsquote. Als das Heim schließlich ein Jahr vor meinem Abitur dicht gemacht wurde, erfuhren wir das gerüchteweise aus dem Erzieherbüro, ansonsten aus der Tageszeitung.
Auch der Versuch, der Armut zu entkommen, war schon lange vor Hartz IV verdächtig. Als ich einmal einen Ferienjob annahm, um für das Leben nach dem Heim etwas beiseite zu legen, wollte das Jugendamt den Erlös nahezu komplett kassieren. 50 Mark hätten mir zugestanden, für die Busfahrkarte, ein toller Überschuss, da ich morgens mit dem Fahrrad zur Zeche fuhr, in deren Eisenlager ich schuftete, na ja, tätig war. Die Erzieher waren in diesem Fall top und sorgten dafür, dass ich der Arbeit bezahlt nachgehen durfte.
Meine anschließende Lohnsteuerrückzahlung habe ich jedoch nie gesehen. Die brachte der Postbote. Was ich erst mit einem Nachforschungsauftrag beweisen musste. Die Mitarbeiterin der Verwaltung, die zuvor schon durch hübsche Pelzjacken aufgefallen war, kam dann irgendwann nicht mehr zur Arbeit. Das Geld bekam ich trotzdem nicht, auch vor Gericht musste ich nicht aussagen. Offensichtlich hatte man sich skandalvermeidend gütlich getrennt, die Frau hatte sich ja nicht wirklich was zu Schulden kommen lassen. Dafür erhielt mein Kumpel Thorsten fortan kleine Geldsendungen seines schwulen väterlichen Freundes, ohne dass die Umschläge aufgerissen waren.
Den anderen Jungs wurde Eigenverantwortung systematisch abtrainiert. Wer Glück hatte, bekam eine Lehrstelle als Anstreicher oder Bäcker, meist bei einem Handwerker, der mit der Stadt auch ansonsten gute Geschäfte machte. Wer die Lehre abschloss, galt als König oder Schleimer. Den kurzfristig Denkenden erschloss sich nicht der Sinn des regelmäßigen Frühaufstehens. Wer liegen blieb, wurde dreimal geweckt und anschließend vom Erzieher zur Arbeit gefahren. Wer sich auch dem verweigerte, hatte fünfzig Mark für die Monatskarte weniger, aber ansonsten ein bequemes Leben.
Niemand von uns erwartet neine Entschädigung, es ist ja nichts passiert. Da sind einfach zwei Systeme aufeinander gestoßen. Hier die Sozialverwaltung, die einen reibungslosen Ablauf liebt, da Heranwachsende, die anerkannt werden wollen, respektiert oder geliebt. Das passt halt nicht.
Nach dem Heim hat man sich eingerichtet oder versucht klarzukommen mit dem Gefühl, nie dazu zu gehören. Man sieht sich kaum. Thorsten hat den Job verloren und trinkt. Er schlägt seine Freundin nicht mehr, seit sie ausgezogen ist. Frank hat den Wechsel von Sozialhilfe auf Hartz IV in einem niedersächsischen Kurort verkraftet, wo er sich ein bisschen was dazu verdient und jedes zweite Wochenende seine Töchter sieht. Peter traf ich mal völlig desorientiert an einem Samstag in der Fußgängerzone, unansprechbar. Am Montag darauf erfuhr ich dann, dass er zu diesem Zeitpunkt schon seine Freundin erwürgt hatte, als sie ihn verlassen wollte. Jahre nach der Haft wurde er in Thailand getötet. Udo hatte im Heim den Sozialpädagogensprech gelernt, pendelte jahrelang erfolgreich zwischen Drogen-, Bewährungs- und Obdachlosenhilfe, ehe er an einer Überdosis starb.
Neulich bei einem putzigen Heimkindertreffen unterhielten wir uns entspannt über dies und das, auch über Bücher. Jugenderinnerungen von Frank Goosen oder Sven Regener versteht keiner so recht. Markus fehlte. Er hatte wegen irgendeiner Streitigkeit ein Haus angezündet, anschließend gesessen und schämte sich wohl. Da ich etwas später kam, verpasste ich Stefan. Man berichtete mir von ihm: „Arme Sau, der ist nach ´nem Unfall im Gesicht total entstellt. Hat aber Schwein gehabt, er sieht es nicht. Er ist ja auch blind seitdem.“ Man versucht halt, irgendwie zurecht zu kommen.
Gabi N. ist 24 Jahre alt und kommt viermal in der Woche in das Altenheim im Gelsenkirchener Stadtteil Feldmark. Im großen Aufenthaltsraum wartet schon ein Grüppchen älterer Damen auf den Neuankömmling. Gabi N. ist eine sogenannte Ein-Euro-Kraft. Sie unterhält sich mit den Bewohnern, begleitet sie auf Spaziergänge und hilft beim Mittagessen.
Für die junge Frau ist die Beschäftigung wichtig: Ihr Tag hat eine feste Struktur und sie hat viele soziale Kontakte. Im Altenheim wird man sie schon bald vermissen. In zwei Monaten läuft die Maßnahme aus und eine Verlängerung gibt es nicht. Es wird auch keine Nachfolgerin geben, denn die Gelder für die Ein-Euro-Jobber werden massiv gekürzt.
„Die Bundesregierung wird die Mittel Arbeitsmarktpolitik im Bereich des SGB II um 1,3 Mrd. Euro auf 5,3 Mrd. Euro vermindern“, sagt Ilona Mirtschin von der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. „Welche Auswirkungen dies auf den Mitteleinsatz vor Ort hat, entscheiden die Grundsicherungsstellen in eigener Zuständigkeit“. Die kommunalen Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) zwischen der Agentur für Arbeit und der Kommune legen vor Ort fest, wo gespart werden muss. Eine wirkliche Wahl haben sie dabei nicht. Im letzten Jahr wurden bundesweit 1,045 Milliarden für diese Maßnahmen ausgegeben. Allein im Ruhrgebiet gab es 2009 rund 20 200 Ein-Euro-Jobs. Im Amtsdeutsch spricht man „Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung“ und kürzt das mit AGH ab. Das ist eine zusätzliche und im öffentlichen Interesse stehende Tätigkeit für Empfänger von Arbeitslosengeld II und soll die Langzeitarbeitslosen an den sogenannten „Ersten Arbeitsmarkt“ heranführen. Ob das klappt, ist unter Arbeitsmarktexperten umstritten. Für die Statistik macht es auf jeden Fall Sinn, denn die billigen Jobber gelten nicht als arbeitslos und werden nicht in der Arbeitslosenstatistik erfasst. Zusätzlich zum Arbeitslosengeld II wird eine „Mehraufwandsentschädigung“ mit Beträgen zwischen 1,00 Euro und 2,50 Euro pro Stunde gezahlt.
Für die Städte im Ruhrgebiet hat die Kürzung schwerwiegende Konsequenzen. In Duisburg gibt es derzeit 2.686 Stellen und davon sollen 1700 gestrichen werden. „Wenn weniger Maßnahmen angeboten werden können, dann wird voraussichtlich auch die statistische Arbeitslosigkeit in Duisburg steigen“, sagt Johanna Muschalik von ARGE Duisburg. Betroffen sind nicht nur die Ein-Euro-Jobber, sondern auch viele der Anleiter bei den Trägern der Maßnahmen verlieren ihren Job: Pädagogen, Sozialarbeiter und Fachkräfte werden nicht mehr gebraucht. Dabei wollte die Ein-Euro Jobs vor fünf Jahre eigentlich niemand: Die Gewerkschaften nicht, die Arbeitgeber nicht, die Politik nicht, die Berufsverbände nicht und die Handelskammern auch nicht. Die Arbeitsloseninitiativen haben die Jobs immer als versteckte Zwangsarbeit abgelehnt und kritisiert, dass keine versicherungspflichtigen Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden.
Bei der Arbeit vor Ort ist man sich der Problematik dieses Instrumentes bewusst, aber man sieht auch den praktischen Nutzen. „Viele der Teilnehmer haben eine ganze Reihe von verschiedenen Problemen, die eine Vermittlung in eine geregelte Arbeit schwierig machen“, sagt Gabriele Ravenstein von der Caritas in Gelsenkirchen. „Bei aller Kritik an den Ein-Euro-Jobs kann das für den Einzelnen ein großer Schritt in die richtige Richtung sein“. In vielen Familien lebt inzwischen die dritte Generation von Arbeitslosenhilfe und Hartz 4-Bezug. Da gibt es keinen geregelten Tagesablauf und morgens muss niemand pünktlich aufstehen. Das wirkt sich auf den regelmäßigen Schulbesuch der hier lebenden Kinder aus und ihre Bildungschancen sinken weiter. Der normale Arbeitsmarkt ist für diese Menschen in weite Ferne gerückt.
Die Bundesregierung hat die vermeintliche Lösung schon fest im Blick und setzt auf das Modell Bürgerarbeit. Nach den Plänen von Ministerin von der Leyen sollen 2011 etwa 34 000 langzeitarbeitslose Menschen gemeinnützige Arbeit leisten. Dafür bekommen sie 900 Euro brutto im Monat und müssen wöchentlich 30 Stunden arbeiten. Wer ein solches Angebot ablehnt, soll mit Sanktionen bestraft werden. Es werden Beiträge zur Sozialversicherung gezahlt und die Jobs können bis zu drei Jahre dauern. Das ist schon wegen der aktuellen Statistik keine wirkliche Perspektive für die große Zahl der Arbeitslosen. So wird es zum Beispiel in Gelsenkirchen 150 Stellen für Bürgerarbeit geben und derzeit leben hier 32 000 Menschen von Hartz 4. In Duisburg sind ebenfalls 150 Stellen geplant und in Dortmund sind es immerhin 400. Die Wohlfahrtsverbände bemängeln die fehlenden Mittel für die Betreuung der Bürgerarbeiter. Ansonsten hält man sich bei den Vertretern der freien Wohlfahrtspflege mit Kritik an der Regierung merklich zurück. Da fallen zwar Vokabeln wie „unsoziale Politik“ und „Spaltung der Gesellschaft“, aber das gehört mittlerweile zum Standardvokabular. Ein Blick auf die Internetseite der Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege ist ernüchternd, denn die letzte Erklärung stammt vom September und beschäftigt sich mit dem Thema Zivildienst. Man will es sich mit den Regierenden und den lokalen Arbeitsagenturen wohl nicht gänzlich verderben – immerhin hängen viele Projekte und viele Mitarbeiter am öffentlichen Tropf.
Die Bundesregierung setzt ihre Politik der sozialen Ausgrenzung weiter fort und wer als nutzlos und untauglich für die „Leistungsgesellschaft“ angesehen wird, der kann nicht mit Unterstützung rechnen. Für Gabi N. wird es in absehbarer Zeit keine neue Beschäftigung geben und damit teilt sie das Schicksal von zu vielen Menschen in diesem Land.
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