Ferrostaal-Chef Jan Secher wollte die Korruptionsaffäre bis zum Jahresende hinter sich lassen. Der Plan wird nun wohl scheitern. Wegen einem Streit im Eigentümerkreis droht sich die Einigung mit der Staatsanwaltschaft München zu verzögern.
Eigentlich sollte der Bußgeldbescheid noch vor Weihnachten in der Essener Zentrale einflattern. Knapp 200 Millionen Euro soll der Konzern dafür zahlen, dass Mitarbeiter über Jahre hinweg massiv bestochen haben. Wie soll aber Ferrostaal die Zeche bezahlen? Wegen der Krise dürfte die Konzernkasse nicht so üppig gefüllt sein. Ich würde mal erwarten, dass die Eigentümer Geld nachschießen oder die Zeche direkt übernehmen. Ferrostaal kann die Strafe aus eigener Kraft wohl nicht begleichen.
Gefragt ist nun natürlich der frühere Mutterkonzern MAN, schließlich gehörte Ferrostaal in der Zeit der dubiosen Zahlungen noch zu diesem. Angeblich ist MAN auch zahlungswillig. Die Kohle sollte als Teil eines Gesamtdeals fließen, so sahen die Pläne aus. Diese sahen auch die Übernahme der bei MAN verbliebenen 30 Prozent durch IPIC vor. Die Scheichs würden damit alleiniger Eigentümer.
Bis zum Jahresende sollte die Transaktion ursprünglich abgeschlossen werden. Das wird nun nicht klappen. Am Wochenende scheiterten Verhandlungen zwischen MAN und IPIC, jetzt soll ein Schlichterspruch Klarheit schaffen. Dass wird locker ein Jahr dauern, schätzen Juristen.
Die Lage bei Ferrostaal mit seinen 4400 Mitarbeitern wird damit nicht besser. Mit der ungeklärten Eigentümerfrage und dem offenen Verfahren wird es für Secher schwer, Vertrauen bei den Kunden zurückzugewinnen.
Als ich Anfang letzter Woche an dieser Stelle das Geständnis abgelegt hatte, so vor zehn, fünfzehn Jahren für den Euro geworben zu haben, bin ich von einigen Lesern dahingehend missverstanden worden, dass ich heute kein Euro-Befürworter mehr sei. Deshalb bitte ich um Nachsicht, dass ich mich selbst zitiere: „Die Folgen eines Scheiterns der Gemeinschaftswährung wären verheerend“, schrieb ich, gleichzeitig aber auch, dass „zu befürchten (steht), dass der Euro die nächsten beiden Jahre nicht überleben wird“. Diese Befürchtung ist in den letzten Tagen nicht kleiner geworden.
Inzwischen ist Irland unter den sog. Euro-Rettungsschirm geschlüpft. Doch auch dort ist mittel- und langfristig keinerlei Rettung zu erwarten. Denn zum einen steigt der Zins, den Irland am Kapitalmarkt zahlen muss, ungebremst weiter. Der „Spread“, also die Renditedifferenz zwischen 10-jährigen irischen Staatsanleihen und deutschen Bundesanleihen, bewegt sich Richtung 7 %, wobei zu berücksichtigen ist, dass inzwischen auch die deutschen Zinsen steigen, weil die Anleger sich um die auf Deutschland zukommenden Belastungen sorgen. Auch dieser Trend ist nicht ganz ungefährlich.
Unter dem „Euro-Rettungsschirm“ zahlt Irland einen Zinssatz von 5,8 %. Das ist weniger als die inzwischen knapp zehn Prozent, die auf dem freien Markt fällig werden, aber mehr als dieses Land auf absehbare Zeit bewältigen kann. Irland hat schon jetzt ein „Minuswachstum“ und deflationäre Tendenzen, und die Regierung musste ein rabiates Sparpaket auf den Weg bringen, was das BIP und die Preise weiter runterdrücken wird. Stellen Sie sich vor, Sie sind pleite und wissen, dass Ihr Einkommen in den nächsten Jahren kontinuierlich sinken wird. Und dann komme ich und biete Ihnen einen Freundschaftskredit mit läppischen 5,8 % Zinsen an.
Inzwischen gilt es als ausgemachte Sache, dass spätestens im Januar auch Portugal den „Rettungsschirm“ wird in Anspruch nehmen müssen. Die Spekulation hat sich längst Spanien vorgeknöpft, schon allein um auszutesten, wie viel all die Rettungsversprechen im Ernstfall wert sind, um in Erfahrung zu bringen, wo man eigentlich mit dem Euro dran ist. Dass damit nebenbei auch leicht Geld verdient werden kann, ist ein angenehmer Nebeneffekt, aber nicht die Wurzel des Problems. Ein europäischer Staat nach dem anderen wird im nächsten oder in den nächsten Jahren bankrott machen. Es steht nirgendwo geschrieben, dass nach Spanien, also nachdem die sog. PIGS-Staaten durch sind, Schluss sein muss.
Mitunter findet man „PIIGS“ auch mit zwei „i“ buchstabiert, womit dann auch noch Italien mit im Boot säße. Wie auch immer: für alle betroffenen Staaten gilt dasselbe wie für Irland. Durch das mit dem „Rettungspaket“ verbundene Spardiktat wird das Wachstum völlig abgewürgt und der Haushalt strukturell gegen die Wand gefahren. Brüderle hat schon recht, wenn er sagt, „der EU-Rettungsschirm sei eine temporäre Hilfe und kein dauerhaftes Transferinstrument“. Genau hier liegt das Problem. Brüderle sagte dies bei der Vorstellung des Buches „Rettet unser Geld“, das sein Parteifreund, der ehemalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel verfasst hat. „Er stimme nur in Teilen zu“, legte der Bundeswirtschaftsminister dar. Wir wissen nicht, in welchen Teilen. Henkel warnt in seiner Neuveröffentlichung vor dem „Totalausverkauf Deutschlands“. Die Bundesregierung setze mit ihrer milliardenteuren Beteiligung an der Rettungsaktion für Irland den Wohlstand der Republik aufs Spiel. Seit Beginn der Währungsunion glänze Deutschland als Zahlmeister, während andere Länder ungeniert kassierten.
Noch widerspricht die Bundesregierung dem Sarrazin-Sympathisanten Henkel, doch letztlich nur halbherzig. Denn bei der Linie, die gegenwärtige Eurokrise mit kurzfristigen Rettungspakten und langfristig mit einer „Insolvenzordnung“ bewältigen zu wollen, handelt es sich – zurückhaltend formuliert – um eine große Illusion. Wenn gleichzeitig eine Transferunion, eine Wirtschaftsunion und damit letztlich auch eine politischen Union Europas entschieden abgelehnt wird, wird die Währungsunion nicht zu retten sein. Henkel verweist an dieser Stelle darauf, dass vor der Einführung des Euro die Welt doch auch halbwegs in Ordnung gewesen sei, dass also ein Auseinanderbrechen der Eurozone, wofür er offen plädiert, ein ökonomischer Segen sei – und zwar ohne größere politische Gefahren.
Henkel plädiert für zwei Eurozonen: eine harte, um Deutschland herum aufgestellte im „Kerneuropa“, und eine andere, in der sich die „Sünder“, die Weichwährungsländer am Mittelmeer versammeln. Ausdrücklich zählt er Frankreich – im übrigen nicht völlig zu Unrecht – zur weichen Zone. Es liegt auf der Hand, dass mit einem solchen Zwei-Eurozonen-Modell die Achse Paris-Berlin (früher Paris-Bonn) der Vergangenheit angehören würde. Im Grunde würde der gesamte politische Integrationsprozess rückgängig gemacht. Ganz abgesehen davon, dass sich mit der Stärke eines D-Mark-ähnlichen Nordeuro die deutschen Exportchancen verdüstern dürften, wären die politischen Folgen dieses Euro-Auseinanderbrechens dramatisch.
Die gegenwärtige Eurokrise verdeutlicht, dass Europa unausweichlich an einer Gabelung angelangt ist. Entweder es werden jetzt rasche und kräftige Schritte auf dem Weg zu einer ökonomischen und politischen Integration gegangen, oder Henkels Wunschszenario wird zunächst schleichend und dann mit einem großen Knall Wirklichkeit. Außenpolitisch hätten wir es auf dem Kontinent mit einer den meisten von uns nicht mehr bekannten Konstellation zu tun. Und innenpolitisch müssten sich nicht nur linke, sondern auch liberale Geister auf eine nachhaltig veränderte Atmosphäre einstellen.
Die Sache ist noch nicht entschieden, doch die Chancen für ein Überleben des Euro stehen nicht gut. Selbst die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua – selbstverständlich „überzeugt, dass der Euro eine große Zukunft hat“ – beschwichtigt, dass „„falls die Krise Spanien überflutet, dann bedeutet dies großen Ärger, aber auch nicht das Ende des Euro“, um dann anzumerken: „Eine Auflösung der Euro-Zone wäre politisch untragbar.“ Wenn sich diese Befürchtung inzwischen schon bis nach China herumgesprochen hat, sollte man sie im direkt betroffenen Gebiet ein wenig ernster nehmen.
Eine Währungsunion aus Deutschland, Benelux, Österreich und ein oder zwei skandinavischen Ländern plus der Schweiz als assoziiertem Mitglied. Grüezi, Bhüeti, Hoi und Moin, liebe Rechtspopulisten alle miteinander!
Warum alles in Sachen elektronischer Clubkultur dem derzeitigen Szene Mekka Berlin überlassen? Maik Olof, der sonst in der Wuppertaler Peter-Kowald-Gesellschaft wirkt, brachte eine die Techno-Avantgarde ins Dortmunder domicil. Denn was dort unter dem etwas konservativen Etikett „Internationale Jazztage“ rangiert, will das Neue und Besondere, das Etablierte weniger. „Wir präsentieren übers Jahr so viele große Namen , da können wir beim Festival ruhig andere Akzente setzen“ sagt domicil-Chef Waldo Riedl zum Konzept der Jazztage.
Da kommen sie aus ihren Nischen hervor, etwa der DJ „DNMK“ vom Essener Goethebunker oder ein Sven Swift vom Bochumer Error Broadcast. Demonstriert wird, dass sich in Genres wie Dubstep oder Garage die Bassdrum über das stoische Vierermetrum zu erheben weiß. Mit Snare-Gewittern und zuweilen verpackt in psychedelische Samples entsteht sowas wie – Swing! Aus Wien nach Dortmund gereist ist Dorian Concept, um weitere Kreise zu schließen, wenn er über die verfrickelten Elektrobeats aus dem Mini-Netbook live auf dem Synthesizer improvisiert. Da ist wohl das gemeinsame Wiener Blut mit dem legendären Joe Zawinul im Spiel. Wer zaubert die wärmsten, durchgestyltesten Sounds aus den Tasten?
„No Blah Blah“ verbreitet die Jazzwerkruhr-Initiative – und setzt bei der aktiven Pflege einer lebendigen Jazzkultur direkt vor der Haustür an. Dank hervorragendem künstlerischen Niveau ist die Ausstrahlung der vielen realisierten Kooperationen innerhalb der freien Szene längst international. Also begegneten sich auf der Bühne im großen Saal junge Talente von Hamburg bis München, aber auch aus Polen, Frankreich, Belgien und der Slowakei. Die im Vorjahr gegründete „Jazz plays Europe“-Werkstatt setzt hier das Begonnene logisch fort. Nadin Deventer, Geschäftsführerin von Jazzwerk Ruhr weiß jedoch zurzeit nicht so recht, wie es mit der Initiative weiter gehen soll. Das größte Manko ist eine fehlende Planungssicherheit, da die notwendige finanzielle Unterstützung vom Land NRW immer nur – und das sehr kurzfristig – für ein Jahr bewilligt wird. Nadin Deventer: „Die Kulturhauptstadt geht, wir bleiben. Aber es ist schwierig, unter solchen Vorzeichen etwas für eine nachhaltige Sicherung zu tun.
Auch sonst widerspiegeln sich aktuelle Trends in Dortmund: Die Schweizer Band Rusconi stellt das überstrapazierte Klaviertrioformat mal eben in den Kontext der berühmten Gitarren-Noise-Band. Wenn sich beim Flügel auf der Bühne auch nicht für jedes Stück die Stimmungen manipulieren lassen, wie es bei den Sonic Youth Gitarren fast für jeden neuen Song praktiziert wird, so überzeugt bei den Schweizern umso mehr die „verschlankte“ und damit umso mehr auf die Lyrik der Songs fokussierte Tonsprache.
Auf dem „WOMAD“-Festival für Weltmusik kaufte sich der Perkussionspieler Nick Mulvey einen Satz schweizerischer „Hang“-Trommeln. Das beschert dem Spiel des Portico-Quartetts gleichsam frische, wie feinfühlig abgedämpfte Farben. Mit wenigen Tönen lassen sich auf diesen Metallelementen Verbindungen bis hin zu mixolydischen oder dorischen Modi kreieren. Das klingt manchmal wie karibische Steeldrum, offenbart dann aber doch mehr Tiefe und viel mehr sphärischen Obertonreichtum. Sie tut wohl, diese bewegliche, leichtfüßige Musik der Londoner. Aber sie laufen auch Gefahr, in der Falle von zu einseitig aufgetragener Süßlichkeit zu landen. Mehr kompositorischer Wagemut und eine stärkere Auseinandersetzung mit exotischen Stilen – und alles wäre perfekt!
Grubenklang.reloaded ist ein aktuelles „Ruhr 2010-Projekt“, bei dem sich gestandene Improvisatoren aus der Region wie Theo Jörgendsmann, Frank Gratkowski oder Dieter Manderscheid wieder zusammen gefunden haben Unter der Leitung von Georg Graewe ist hier nicht zuletzt ein Stück musikalischer Industriekultur entstanden. „Industrial Folk“ nennt es Bandleader Georg Graewe. Sängerin Almut Kühne bot zum Finale einen unter die Haut gehenden Vortrag, der so ganz variabel zwischen subtiler Laut-Abstraktion, expressionistischen Anklängen und raffiniert ins Spiel kommendem Folk changierte. Drum herum zauberte die „Grubenklang“-Formation eine Umgebung, die vor allem die Aura von Reife verströmte. Mal braust der ganze Klangkörper im atonalen Tutti auf, dann stürzen sich einzelne Spieler in solistische Duelle. Die haben in den vergangenen Monaten viel (und intensiv) zusammengespielt. Das hört man!
Was ist das für ein Magazin, das mit Goethes Faust Kreditverbriefung erklärt und dessen Name sich nur mithilfe der griechischen Antike und Douglas Adams verstehen lässt? Eine vierköpfige Redaktion in Sindelfingen gibt seit vergangenem Jahr die Zeitschrift agora42 mit Titeln wie „Schulden und Sühne“ heraus – ein Magazin für Philosophie, Ökonomie und Leben. Bonus-Track: Zehn Fragen an den Chefredakteur Frank Augustin über Verantwortung, Finanzen und fehlende Werbeanzeigen.
Auf dem deutschen Zeitungsmarkt konkurrieren im weltweiten Vergleich die meisten Titel um potentielle Leser. Zudem besitzen 90 Prozent der Haushalte kein Zeitungsabonnement. Einer solchen Ausgangslage zum Trotz gründete das junge Quartett im vergangenen Jahr das Magazin agora42. Allein auf die Substanz ihres Konzeptes vertrauend ließen sie sich nicht vom viel beschworenen „Magazinsterben“ oder der Wirtschaftskrise abschrecken. Stattdessen begann das Team auf einem der größten und härtest umkämpften Zeitungsmärkte der Welt, unerschrocken über philosophische und makroökonomische Themen zu schreiben.
Fast drohte Verzweiflung, als sowohl in Sindelfingen als auch in Böblingen alle Postfilialen Betriebsversammlung hatten und sich die Auslieferung der aktuellen Ausgabe um einen Tag verzögerte. In der vierköpfigen Redaktion hat man ein feines Gespür für Themen, was auch die Leser zu wissen scheinen. Das Team, bestehend aus Frank Augustin, Patricia Nitzsche, Wolfram Bernhardt und Nazim Cetin, will zeigen, wie viele Verknüpfungen zwischen Ökonomie und Philosophie im Alltag möglich sind. Die Autoren sind der Ansicht, die Welt sei komplex und werde nicht von RTL dargestellt.
Attische Demokratie und Douglas Adams
Schon allein der Name des Magazins ist klärungsbedürftig. Das altgriechische Wort ἀγορά (Muttersprachler und Bildungsphilister betonen die dritte Silbe) bezeichnete in der griechischen Antike einen zentral gelegenen Versammlungs- oder auch Marktplatz. Hier hatten die freien griechischen Bürger die Möglichkeit, sich zusammenzufinden, um regen Austausch über politische, philosophische und juristische Themen zu betreiben. Die Agora war der Platz, an dem intellektuelle Diskurse entstanden. Die Zahl 42 stellt eine Anspielung auf Douglas Adams Kultbuch „Per Anhalter durch die Galaxis“ dar. Ein von Außerirdischen erbauter Super-Computer mit dem viel versprechenden Namen „Deep Thought“ spuckt auf die Frage aller Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest die kryptische Antwort „42“ aus.
Kontroverse Meinungen, überraschende Perspektiven
Der Chefredakteur des Magazins, Frank Augustin, studierte Geschichte und Philosophie in Stuttgart und arbeitete vor seiner Tätigkeit für agora42 für das Journal für Philosophie „der blaue reiter“. Augustin sorgt dafür, dass die trockenen Theorieanteile auch für Nicht-Ökonomen und –Philosophen verständlich werden. „In der Ökonomie geht es nicht nur um bloße Zahlen, sondern auch um Philosophie. Gerade die Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass Theorie-Modelle an ihre Grenzen geraten können. Denn der Mensch handelt nicht immer klug und rational. Es ist wichtig, umzudenken, und auch ein neues Menschenbild zu entwickeln.“ Der 40-Jährige sagt, er wolle nicht über Chancengleichheit sprechen, wenn die Grundkoordinaten falsch sind. Nazim Cetin, der Herausgeber des Magazins, sprach im vergangenen Jahr beim Philosophischen Café im Hegel-Haus Stuttgart zum Thema „Philosophie und Psychologie der Finanzmärkte“. Wolfram Bernhardt studierte International Business Administration an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt. Eigentlich arbeitet er als Unternehmensberater bei der Kürn Cetin Capital AG. Auf die Idee zu agora42 sei die Gruppe gekommen, als man erkannte, dass Großbritannien mit „The Economist“ etwas habe, das in Deutschland noch fehlen würde, so Bernhardt. Er hofft, das Magazin werde auch in fünf Jahren noch kontroverse Meinungen und überraschende Perspektiven präsentieren und aktiv an der öffentlichen Meinungsbildung teilnehmen.
Kein binäres Entweder-Oder
Neben Vorreitern wie dem Glocalist Magazine und der Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik (zfwu) ist agora42 das vierte Magazin für Wirtschaftsethik, das auf dem deutschen Markt erhältlich ist. Im Einstiegsteil des Magazins werden immer die wichtigsten Grundannahmen des jeweiligen Magazinthemas in Essayform erklärt, damit auch Fachfremde einen Zugang zum diskutierten Themenfeld des Hefts möglich ist. Weil die Macher komplexe Sachverhalte nicht auf simple Schlagzeilen reduzieren wollen, gibt es zum Ausgleich der Bleiwüste ein entzerrtes und lesefreundliches Layout. Wer die Welt jedoch gerne auf ein binäres Entweder-Oder reduziert, dem ist von diesem Magazin abzuraten. Einfache Antworten werden in den Beiträgen nicht gegeben. Jedes Heft steht unter einem bestimmten Hauptthema, dem Interviews oder Artikel von Gastautoren zur Seite gestellt werden. Die aktuelle Ausgabe des Magazins trägt den Titel „Krieg light“.
Nicht werbetauglich, weil zu kritisch?
Im Magazin finden sich kaum Werbeanzeigen. Vielen potentiellen Werbekunden seien die Inhalte von agora42 zu kritisch, so die Redaktion. Deswegen laute ihr Urteil meist: nicht werbetauglich. Gefördert, etwa durch Stiftungen, wird das Printmedium bisher nicht. Die Zeitschrift der DESA GmbH, erscheint in zweimonatigem Rhythmus bundesweit mit einer Auflage von 10.000 Stück. Für die nächste Ausgabe ist ein Interview mit Günter Wallraff, dem zum Teil umstrittenen Urvater der Sozialreportage, angekündigt – Norbert Blüm hatte kurzfristig abgesagt. Kritisches und Humoristisches kommt im Magazin nicht zu kurz, sondern wird stattdessen kombiniert. So erfährt der Leser in der Rubrik „Gedankenspiele“, dass dem US-Agrarkonzern Monsanto nicht nur 90 Prozent aller genmanipulierten Pflanzen gehören, nein, Monsanto habe nun sogar ein Patent auf zwölf Sexualstellungen angemeldet. In einer Kolumne erklärt Elke Hoff, die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP, welche Vorteile eine Freiwilligenarmee gegenüber der Wehrpflicht biete.
Ich -Ausgeburt des Marktes?
Thematisch widmete sich die Redaktion in einer der vergangenen Ausgaben schon dem „Ich – Ausgeburt des Marktes?“ oder beackerte Fragestellungen zur „Vernunft“. Politisch wollen sich die Macher mit ihrem Magazin jedoch nicht einordnen lassen. Nur in einem Punkt beziehen sie dann doch Stellung: „Wir sind mit der Volkswirtschaftslehre, die zum großen Teil von der Profitmaximierungslogik der BWL dominiert wird, nicht einverstanden.“ Die Frage danach, wie der Mensch der Ökonomie am meisten nutzen könne, sei ebenso zentral wie bedenklich geworden. Ökonomische Argumente werden ihrer Ansicht nach oftmals vorschnell ins Feld geführt, um andere Theorien auszuhebeln und ihren Deutungsansprüchen das Wasser abzugraben.
Es folgt das Interview mit dem Chefredakteur des Magazins, Frank Augustin:
Welches Konzept liegt dem Magazin zugrunde?
agora42 ist ein Magazin für Ökonomie und Philosophie. Es geht darum, das „große Ganze“ unserer durch und durch ökonomisch bestimmten Gesellschaft in den Blick zu nehmen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge sichtbar zu machen. Wir bemühen uns darum, diese Zusammenhänge anhand einfacher Beispiele verständlich zu machen. Wichtige wirtschaftliche Begriffe werden in vom Text gesonderten Layoutelementen („Infoboxen“) erläutert.
Welche Zielgruppe wollen Sie mit ihrem Heft ansprechen und wer liest es tatsächlich?
Im Gegensatz zum üblichen Vorgehen haben wir uns nicht an einer Zielgruppe orientiert. Wir machen einfach das, was uns notwendig und richtig erscheint. Entsprechend sind die Leser der agora42 nicht einzuordnen; es sind Menschen, die die Zeit, in der sie leben, verstehen wollen – auf der Höhe der Zeit sein wollen.
Gab es eine Marktlücke für ein Magazin wie Ihres?
Wir halten es da mit Henry Ford, der sagte: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt ,schnellere Pferde’“. Anders gesagt: Wir machen die Marktlücke auf.
Was unterscheidet agora42 von Magazinen wie „The Economist“?
Nun, da ist zunächst die Höhe der Druckauflage zu nennen, welche die unsrige (noch) um 1.410.000 Exemplare übersteigt. Davon abgesehen verwenden wir besseres Papier und haben das bessere Layout. Und, nicht zuletzt, bezüglich der inhaltlichen Ausrichtung: In der agora42 geht es, viel mehr als im Economist, um die Vermittlung von Grundwissen – es wird also erst die Möglichkeit geschaffen, den Economist richtig zu verstehen.
Rentiert sich ein solches Projekt finanziell?
Josef Ackermann wird auf der nächsten Bilanzpressekonferenz ausführlich darüber berichten.
Trägt man als Redakteur eines Magazins mit wirtschaftsethischen Inhalten eine besondere Verantwortung?
Begriffe wie „ethisch“ sind inhaltsleer geworden. Mit Ethik lässt sich heute noch die größte Ausbeutung bemänteln. Uns geht es darum, erst wieder die Grundlagen dafür zu schaffen, sinnvoll über Ethik, über richtiges und falsches Handeln sprechen zu können.
Lässt sich gesellschaftliche Wirklichkeit durch die Beschäftigung mit philosophischen Fragen verändern? Reicht es aus, die Welt anders „zu sehen“, um realen Wandel zu bewirken? Und: Welchen Beitrag leisten Sie in dieser Hinsicht mit Ihrem Magazin?
Die „Wirklichkeit“ ist ja nichts an sich Existierendes. Was wirklich ist, wird dadurch wirklich, dass an eine bestimmte Wirklichkeit geglaubt wird. So existieren beispielsweise die „Marktgesetze“ nur deshalb, weil Menschen an solche „Gesetze“ glauben und sich dementsprechend verhalten. Insofern ist die Sichtweise gerade das Entscheidende. Darum geht es in der agora42.
Steckt in jedem Mensch auch ein „homo oeconomicus“?
Gegenfrage: was ist der Mensch? Warum sollen wir versuchen, uns krampfhaft eine Definition des Menschen aus den Fingern zu saugen? So wenig, wie er nur ein Wirtschaftsmensch ist, ist er durch eine andere Definition festzulegen. Wir sollten uns mehr darum kümmern, endlich die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen herbeizuführen.
Was bedeutet Ihnen das Projekt persönlich?
Kein Kommentar. Wir dürfen unsere Lebenspartner nicht eifersüchtig machen.
Sind Ihren potentiellen Werbekunden die Inhalte des Magazins wirklich zu kritisch, betreiben Sie zu wenig/keine Werbekunden-Akquise oder woran liegt es, dass man in Ihrem Magazin so wenig Werbung findet?
Bei dieser Einschätzung handelt es sich nicht um unsere eigene Einschätzung, sondern um jene einiger Fachleute. Aber die agora42 ist ja ein noch junges Magazin, es kann sich also auch um einen Vorwand handeln – man setzt lieber auf „Bewährtes“ und wartet ab.
Gestern war „Liegen lernen“, heute zählt „Die Kunst stillzusitzen“ Tim Parks ist ein Skeptiker auf der Suche nach Gesundheit und Heilung. Von Unserem Gastautor Ronald Milewski.
Der Journalist Ronald Reng hat ein Buch über seinen Freund Robert Enke, dessen Todestag sich aktuell jährt, geschrieben. Darf man das? Die Professorin für Corporate Communication Miriam Meckel, Lebensgefährtin von Anne Will, hat schon in der Klinik während der eigenen Behandlung begonnen, ein Buch über ihren Burn-out zu schreiben. Soll frau das? Der Schriftsteller und Übersetzer Tim Parks, hat ein Buch über das Stillsitzen geschrieben: 364 Seiten. Kann man das? Worte machen über das Schweigen?
Tim Parks hat in Cambridge studiert. Tim Parks ist Master of Arts. Tim Parks ist Dozent und lehrt an der Universitá IULM in Mailand. Tim Parks ist ein Pfarrerssohn aus Manchester. Tim Parks hat 20 Romane und Sachbücher veröffentlicht. Tim Parks ist verheiratet und hat drei Kinder. Tim Parks ist ein Meister der Worte. Tim Parks hat die Geschichte der psychologischen Einzelfalldarstellungen um einen höchst interessanten Fall erweitert, um seinen eigenen. Tim Parks hat jahrelang unter Schmerzen, Verspannungen und anderen Symptomen einer typischen Männerkrankheit gelitten. Tim Parks, der Tausendsassa, hat die Bedeutung seines eigenen Ich in Frage gestellt: Sein 21. Buch ist sein persönlichstes.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Die Kunst stillzusitzen“ ist Parks Mitte 50. Seine Beschwerden beginnen mit Anfang 30. Die Broschüre, die er zu diesem Zeitpunkt von seinem ärztlichen Behandler in die Hand gedrückt bekommt, ist voller unguter Suggestionen. So heißt es darin, eine vollständige Genesung sei bei einer Prostataentzündung äußerst unwahrscheinlich, ja, „de facto ausgeschlossen“. Prostatitis-Patienten seien in der Regel ruhelose und unzufriedene Menschen. Schlussendlich lasse die überwiegende Mehrheit solcher Patienten nach jahrelangem, manchmal jahrzehntelangem Leiden unweigerlich ihre Probleme auf dem Operationstisch zurück, „sobald sie die fünfzig oder sechzig überschritten haben“. Tim Parks ist 51, als ihm ebendiese Empfehlung von einem „Schulmediziner“ gemacht wird.
Doch Parks weigert sich – trotz Schmerzen, Sextaner-Blase, nächtlichen Toilettengängen und Druckverlust beim Urinieren. Er erinnert sich an den postulierten Zusammenhang von Persönlichkeit und Erkrankung. Statt sich unters Messer zu legen wird Tim Parks in der Selbstbehandlung experimentierfreudig und fündig. Er probiert Ayurveda, paradoxe Entspannung und punktgenaue myofasziale Release-Massage, respiratorische Sinusarrhythmie-Atmung zur Vorbereitung auf die paradoxe Entspannung und Shiatsu aus. Die Belohnung ist erste Linderung und eine Empfehlung: Meditation.
Parallel kramt er seine – gefühlt – erste literarische Liebe aus und liest auf der Suche nach eigenen kritischen Persönlichkeitseigenschaften Samuel Taylor Coleridges Beschreibung seines Abstiegs (!) vom Scafell Pike im Lake District im Jahre 1802. Diese kann laut Parks „als der erste schriftliche Bericht von einer Bergbesteigung zum Zwecke der Freizeitgestaltung“ gelten. Sie ist gleichzeitig die Geschichte von einem, der ständig krank und von Schmerzen gepeinigt auszieht, das (Körper-) Empfinden zu lernen. Coleridge verlässt dafür vorübergehend Frau und Kind und berichtet einer Angebeteten von seinen Abenteuern.
Parks Lektüre dieses Berichts nährt seine Zweifel am Segensreichtum eigener Wortmächtigkeit und der Wortmächtigkeit des Vaters. Die eigene und dessen körperliche Verkrampftheit werden zu stillen Zeugen der unguten Wirkung der „Erfindung der Sprache“. Und Parks beginnt an die Weisheit des Körpers zu glauben – und an dessen Überlegenheit über den Geist.
In Entspannungsübungen vor die Aufgabe gestellt, den eigenen Körper zu erleben, vertiefen sich seine Zweifel am eigenen Lebensstil. Er entdeckt in seinem Körper vorrangig Anspannung und ertappt sich bei der ständigen Begier, seine Erfahrungen sprachlich zu kategorisieren. Die „Reinkarnation“ seiner Erfahrungen betreibt er zunächst punktuell in seiner Körpermitte, am Ort der Beschwerden. Als Orientierungsrahmen dient ihm wiederum ein Buch, David Wise’ „A Headache in the Pelvis“.
Doch Parks macht nicht bei der symptomatischen Behandlung des Beckens und den Übungen im Liegen Halt. Er wird im Meditationszentrum zum Generalisten. Bei der Vipassana-Meditation gerät sein Körper als Ganzes im Schneidersitz in den Fokus des Gewahrseins. Bühne der Handlung ist ein 10tägiges Schweige-Retreat. Werkzeuge zur Begegnung des Geistes mit dem Körper sind die Atemmeditation, der so genante Body-Scan und die Einübung des liebevollen Gewahrseins für den Mitmenschen, die Metta Bhavana.
Mit der Entdeckung der wohltuenden Wirkung des Stillsitzens in der Meditation umtreibt Parks zeitweilig, die Idee zur vollständigen Genesung, dem Sprachprojekt insgesamt abzuschwören:
„Da hatte ich das Gefühl, eine unwiderrufliche Veränderung in meinem Leben nur erzwingen zu können, wenn ich mich von dem Projekt lossagte, das mich seit ich denken kann angespornt, aufgerieben und krank gemacht hat: DAS PROJEKT DER WORTE.“
Tim Parks fühlt sich genesen, von der Erfahrung in der Meditation mit so enormen körperlichen und geistigen Veränderungen bedacht, dass er beginnt die Krankheit als „Glücksfall“ zu bezeichnen. Und er überwindet stillsitzend die Zweifel an Kategorisierungsgewohnheiten seiner neuen Lehrer, die einerseits zur unmittelbaren Erfahrung auffordern und andererseits die „wahnsinnige Vorliebe“ für Numerierungen pflegen, nämlich in „Drei Juwelen“, „fünf edle Wahrheiten“, „fünf Silas“, „sieben Stufen der Läuterung“, „den achtfachen Pfad der Erleuchtung“, „die zehn Betrachtungen, …“. Sie tun dies laut Parks in typischer Weise als Glaubensgemeinschaft – nicht als Wissenschaft.
Am Ende kategorisiert auch Parks seine Erfahrungen und kehrt so zum Sprachprojekt zurück. Er teilt sie uns in einem Narrativ unter der Überschrift, „Die Kunst stillzusitzen“, mit, so zu sagen in einer Heilsgeschichte. „Ohne dem“ wäre diese Buchbesprechung nicht möglich gewesen. Tim Parks Prostata sei Dank!
Um indes seine Erfahrungen zu teilen, bedürfte es regelmäßiger Praxis dessen, was Parks an Übungen beschreibt. Er wird doch wohl noch üben?
Heinz-Dieter Klink wird als RVR-Chef weitermachen. In zwei Wochen wird er für weitere sechs Jahre gewählt. Und wenn wir Pech haben, hört er nicht einen Tag früher auf.
Eigentlich sollte Christoph Dänzer-Vanotti der nächste RVR-Chef werden. Aber der sagte Krankheitsbedingt ab. Jetzt wird Heinz-Dieter Klink im Dezember für weitere sechs Jahre gewählt. Ob er irgendwann mal Platz macht, wenn man jemanden gefunden hat, der den Job im Gegensatz zu ihm auch kann? Keiner weiß es, mancher wird es hoffen, aber Hoffnung allein reicht nicht. Dem Ruhrgebiet stehen mit Klink weitere Jahre der Stagnation bevor. Aber soll man sich darüber noch aufregen? Vielleicht ist Klink ja genau der Mann, den das Ruhrgebiet an seiner Spitze will: Jemand ohne Ehrgeiz und Ziele, der gerne was von Solidarität erzählt und jammert, dass man mehr Geld von anderen Leuten braucht. Weil ändern will man ja nix. Passt doch irgendwie ganz gut.
Deutschlands Sachbuch-Bestsellerautor Nr. 1 gab sich gestern Abend die Ehre, im Duisburger Lehmbruck Museum die Thesen aus seinem Werk einem geneigten Publikum vorzutragen. Etwa 200 begeisterte Anhänger sind gekommen; sie scheuten weder den hohen Eintrittspreis noch die strenge Personenkontrolle, um ihr Idol persönlich bewundern und ihm zujubeln zu können. Eine „Löwenbräukeller-Stimmung 1933” habe in der Sarrazin-Veranstaltung geherrscht, zitiert xtranews einen örtlichen CDU-Politiker, ohne seinen Namen zu nennen.
Dabei wollen die Blogger auch gehört haben, dass der Duisburger Alt-Bürgermeister Heinz Pletziger (CDU) am Rande der Veranstaltung geäußert haben soll, dass Millionen vergaster Juden im Dritten Reich doch keine Deutschen waren. Dies werde von Pletziger jedoch bestritten, der deshalb auch gegen diese “Verleumdung” juristisch vorgehen wolle. Die Kollegen von xtranews wiederum nennen zwei eidesstattliche Versicherungen ihr eigen, die der Version des Alt-Bürgermeisters widersprechen.
Nun steht Aussage gegen Aussage. Wie auch immer: beide Seiten, also auch Herr Pletziger, sind „sich der geschichtlichen Tragweite durchaus bewusst“. Ehe nun die Gedanken zur Frage abschweifen, welche geschichtliche Tragweite überhaupt und grundsätzlich den Aussagen ausgemusterter Duisburger CDU-Bürgermeister zukommt, ist es nützlich, sich die historischen Tatsachen vor Augen zu halten, um auf dieser Basis die wirklich relevanten Fragen zum Tage stellen zu können.
Ob Pletziger nun darauf hingewiesen haben sollte oder nicht, Fakt ist: Millionen vergaster Juden im Dritten Reich waren keine Deutschen. Nun lässt sich die Anzahl der im Holocaust ermordeten deutschen Juden zwar nicht exakt beziffern. Der bekannte Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz nennt die Zahl 165.000 eine realistische Schätzung. Davon geht auch Burkhard Asmuss vom Deutschen Historisches Museum in Berlin aus. Wikipedia zufolge reicht die Spannweite der Schätzungen von 135.000 bis 195.000 deutscher Juden, die in der Shoa umgekommen sind.
Bei den sechs Millionen, möglicherweise etwas weniger, wahrscheinlich ein halbe Million mehr, handelte es sich um Juden aus allen von den Deutschen besetzten Ländern Europas. Mehr als vier Millionen Menschen stammten aus Polen und der Sowjetunion. Ebenfalls mehr als vier Millionen Juden wurden in den Vernichtungslagern vergast. So weit der grobe Überblick über die außer Frage stehenden historischen Tatsachen. Eine etwaig gestern Abend gefallene Feststellung, die Millionen vergaster Juden seien doch gar keine Deutschen gewesen, wäre folglich im Grunde genommen ganz und gar zutreffend.
Es sei denn, mit dieser Bemerkung sollte unterstellt werden, dass nun gar keine deutschen Juden in Auschwitz umgekommen seien. Dies wäre, wie bereits dargelegt, zweifellos unzutreffend. Viele Namen sind bekannt; Vorfahren auch aus meinem Bekanntenkreis haben dort ihr Leben gelassen. Auschwitz zu leugnen – ohnehin eine Straftat – ist auch, wenn sich diese Lüge „nur“ auf deutsche Juden bezöge, haltlos. Aber, schon richtig: „Millionen vergaster Juden“ waren keine Deutsche.
Zu dieser Anmerkung drängt sich jedoch Frage auf, warum es für nötig gehalten werden könnte, dies festzustellen. Falls es jemand für nötig gehalten haben könnte, dies festzustellen. Denn, wie jedes Zitat, wäre auch dieses selbstverständlich aus dem Zusammenhang gerissen. Sollte es dem mutmaßlichen Autor um die Aufklärung der grundlegenden historischen Sachverhalte gegangen sein, wäre dagegen m.E. naheliegenderweise nichts vorzutragen. Denn sonst würde ich mich ja mit diesem Beitrag strafbar machen oder, was ich schlimmer fände: den Holocaust verharmlosen.
Oder sollte mit der zitierten Feststellung angedeutet werden, dass weil es sich nicht um Deutsche, sondern „nur“ um Ausländer gehandelt hatte, der fabrikmäßige Massenmord nicht ganz so schlimm war? Oder, dass wenn „nicht einmal“ zweihunderttausend Opfer in Rede stehen, keinerlei Anlass zur Hysterisierung bestehe? Ich weiß es nicht. Ich wüsste es aber gern. Vor allem wüsste ich gern, ob diese Äußerung überhaupt – und wenn, dann mehr oder weniger öffentlich – gefallen ist. Sicher ist, dass wenn Herr Pletziger juristisch gegen diese, wie er sagt, „Verleumdung“ vorgehen sollte, eine Straftat vorliegt. Die Frage ist, ob, wenn keine Verleumdung vorliegen sollte, Pletziger also diese Worte über die Lippen gekommen sein sollten, dann auch eine Straftat vorliegt. Es dürfte dann wohl auf den Zusammenhang und die Absicht ankommen, in dem und in der diese historische Aufklärung vorgenommen wurde.
Der größte Teil der deutschen WikiLeaks-Berichte liest sich, als habe ein Praktikant in der US-Botschaft eifrig Geschichten aus dem Spiegel abgeschrieben und eine heiße Quelle dazu erfunden, um so die eigenen Chancen zu erhöhen den Jahresvertrag verlängert zu bekommen.
Die Enthüllung, dass Dirk Niebel als Entwicklungshilfe-Minister eine „schräge Wahl“ sei, dürfte selbst im Passauer Wochenkurier nicht zu Rekordauflagen geführt haben. Grund zum Ärger über diese feine Nachrede, diesen diplomatisch brisanten Klatsch, dürften die haben, die nicht drin vorkommen. Das war schon bei Michael Graeter nicht anders. Auf einen Politiker jedoch, den deutschstämmigen Regenten eines autokratischen Kleinstaates mit geringem Frauenanteil und hoher Kriminalitätsrate, einen Mann mit Religionshintergrund, wartet man bisher vergeblich in den Terramyriaden von Dokumenten. Bislang ist nichts erschienen über Papst Benedikt XVI.
An seiner Stelle würde ich schnellstens die Jungs aus meiner PR-Abteilung zusammenstauchen und ein paar gefälschte Dokumente hinterher schieben, auf sowas versteht man sich im Vatikan traditionell. Was hat dieser spröde, hochgebildete Mann (Tipp für WikiLeaks: „Gut vernetzt und hochintelligent ohne das Charisma seines Vorgängers“) nicht alles getan, um den Klatsch zu bereichern, hat sich als Poster in die Bravo geschmuggelt, in einer Ausgabe mit Tokio Hotel und Masturbationstipps des Dr. Sommer-Teams, hat lächerliche Mützen aufgesetzt, um als Nikolaus der Herzen durchzugehen, finstere Holocaustleugner an die nährende Brust der Kirche gedrückt, Zoff mit Teflon-Angie gehabt und jetzt noch das Wort Kondom in den Mund genommen. Die Reaktion: Lau, lahm, liberal lächerlich. Evangelisch irgendwie.
In besseren Zeiten hätte er Schläge und Schlagzeilen kassiert, wäre zum Gummipapst oder Rubber-Ratzi hochgejazzt worden. Aber ach, kein Mensch zuckt mehr auf die wirren Zeilen in einem Interviewbuch. Dabei schafft es Benedikt XVI., in wenigen Worten vom Kondom über die Banalisierung des Vögelns zu Drogen zu kommen, die man sich selbst verabreicht. Klar ist nach der Lektüre nur, männliche Prostituierte sind im Vorteil. Da mag es begründete Einzelfälle geben, die den Gebrauch des Kondoms rechtfertigen. Das ist mal wieder ganz großes Gedankenschach, Mysterium der Wandlung inbegriffen. Womit die Wandlung von Einstellungen gemeint ist und nicht jene, die aus einer simplen Backoblate den Leib Christi macht. Was ja auch ein neues interessantes Arbeitsgebiet für durchgeknallte Nonnen mit Hang zur Naturwissenschaft wäre. Ich warte noch auf den Versuch aus einer Hostie Jesus zu klonen.
Natürlich war die verschämte Anerkennung des Kondomgebrauchs längst überfällig und bringt den katholischen Kosmos keineswegs ins Wanken. Denn immerhin steht in den Zehn Geboten an zentraler Stelle „du sollst nicht töten“, grundsätzlich ist Sex dort jedoch nicht verboten, und Kondome wirst du in der ganzen Bibel nicht finden.. Nur des Nachbarn Weib sollte man nicht begehren, so wenig wie dessen Haus und Vieh, seinen Besitz insgesamt also. Da sich heute nur noch äußerst idiotische Frauen im Besitz irgendeines Kerls befinden, dürfte der entsprechende Paragraph eigentlich keine Rolle mehr spielen. Und wenn die katholischen Profis noch ein paar Jahrhunderte nachdenken, werden sie vielleicht auch darauf kommen, dass etwa ein außerehelicher Beischlaf viel geringerer Sündenkraft ist, wenn man die Zeugung von Nachwuchs oder Gefährdung des Sexualpartners dabei ausschließt. Benedikts Projekt indes ist die Versöhnung von Glaube und Aufklärung, bis zur Psychoanalyse ist man im Vatikan noch nicht vorgedrungen.
Um das klar zu machen: Ich liebe den deutschen Papst für seine Eindeutigkeit, nicht nur aus beruflichen Gründen. Jeder Dortmunder Kabarettist neidet dem Kölner Kollegen Kardinal Meißner. Der liefert ständig gute Geschichten, in der Westfalenmetropole muss man erst mal googeln, wie der evangelische Superintendent heißt. Der katholische Bischof hat Standpunkte, der evangelische Verständnis. Während im Frühjahr der katholische Pfarrer nach der Messe und vor der Kirche die Porsches, SUVs und die auffrisierten Mopeds mit dem Christopherussegen versieht, auf dass den Fahrern bei Tempo 180 nichts geschieht, predigt der evangelische nebenan noch für die Beachtung der Tempo-30-Zone, weil so die Schöpfung bewahrt wird. Evangelisch zu sein ist ein schlimmes Schicksal. Da kann man gleich in die Gewerkschaft gehen oder in die SPD. Trete mal auf in einer evangelischen Akademie – die lachen da nicht mal über deine fiesen Katholikenwitze. Endgültig erledigt war diese Religionsgemeinschaft, als mir einer ihrer Priester, natürlich ein politisch engagierter, stolz erzählte, er sei deshalb protestantisch, weil für ihn das evangelische Weltbild das mit den wenigsten Fehlern sei. Wenn das Glaube ist, glaube ich ziemlich fest, dass ich so nicht glauben möchte. Die Kunst der Religion besteht doch darin, die moralische Latte möglichst hoch zu legen und dann virtuos drunter her zu kommen, ohne Niveaulimbo zu betrieben. Darin ist die katholische Kirche unschlagbar.
Man merkt, ich bin glücklicherweise katholisch aufgewachsen. Evangelisch hatte nur einen Vorteil: Die Geschenke zur Konfirmation waren wesentlich praller als die Gaben zu Erstkommunion. Das war fetter Cash gegen eine Timex-Uhr, einen Schlafsack und einen Stapel Bücher. Die Protestanten waren aber spätestens nach einem erschütternden Fernsehspiel für mich auf ewig erledigt. Da muss ich so acht oder neun Jahre alt gewesen sein. Ein Junge und ein Mädchen knien in einer Kirchenbank, also in einer anständigen katholischen Kirche, der Bursche zischt ihr zu: „Ihr habt unseren Heiland ermordet!“. Ich war erschüttert. Das hatte man mir bislang verschwiegen, das hatte ich denen nicht zugetraut. . Da ich von Juden und Antisemitismus bis dahin noch nie gehört hatte, war klar: Ihr“, das mussten die Protestanten sein… Was pädagogisch gemeinte Filme doch alles anrichten können.
Ich machte also das ganze katholische Zeugs mit, inklusive Ferienlager, in dem die Teamer noch Führer hießen und im Schlafsaal nachts pubertäre homoerotische Feldforschung betrieben wurde, entgegen aller Vorurteile unter Ausschluss der Führer. Vielleicht, weil ich den anderen zu jung war oder weil ich tagsüber dieses furchtbare Kassengestell von Brille tragen musste, war ich nur am Rande beteiligt, was mich damals ziemlich sauer machte, aber nicht der Grund war für meine Abkehr von der besten aller Kirchen. Deshalb zucke ich begeistert, wenn heute der Papst wieder mal so eine Nummer raushaut. Da springt er in der Sexualmoral um ein paar Jahrhunderte vor, versteckt seine Aussage in einem Interview, übergeht wichtige Themen, den Zölibat, den Schwangerschaftsabbruch, die Frage, ob Vati und Mutti das Licht anlassen dürfen, wenn sie es miteinander treiben, und landet direkt bei männlichen Prostituierten. Der Papst und Arschficken, warum ist das nichts für WikiLeaks?
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