Bizarrstadt Duisburg: Rassistenthesen im Lehmbruckmuseum

Gerade scheint sich der Mantel der Verdrängung über die sterbende Eisenhüttenstadt im Ruhrdelta zu legen. Loveparade: 21 Tote und über 500 Verletzte, eine Stadt-Schranze, die dafür immerhin eine Ketchupdusche erhielt. Jetzt legt sich ein neues Rhizom über die Stadt: Der Spaltpilz. Rassistenthetiker Sarrazin soll im Lehmbruckmuseum lesen. Und im Immigrantenstadtteil Hochfeld heben sie an, obdachlose Sinti und Roma zu vertreiben.

Duisburg: Kantpark
Im Kantpark (mit Lehmbruckmuseum im Hintergrund) Sculptuur "3" (1973) by Alf Lechner in Duisburg/Germany

Lagebild Duisburg. Gestern. Donnerstag. 16.45 Uhr.

Das Riesenrad am Ende der Fußgängerzone läuft auf Test. Noch eine Viertelstunde, dann wird der Weihnachtsmarkt eröffnet. Alles läuft nach Plan.

Oben auf dem Rad kann man in die Chefzimmer des Rathauses sehen. Kein Licht in den Fenstern. Keine Verantwortung.

Im Nettomarkt, achtzig Meter vom Riesenrad klauen die Kids Süßigkeiten, dreissig Meter die Schlange vor der Kasse. Die Kids, zur Rede gestellt: Ich hab doch kein Geld. Und dann schnell verpisst. Alles läuft nach Plan.

Schnell zum Lehmbruckmusem. 400 Meter. In den Junkiepark. Der Bauhausbau in vollem Licht. Hier strunzt die Stadt und das mit Recht.

Es ist schon festzustellen, daß der wunderschöne Bau unter der Ägide von Direktor Raimund Stecker Resonanz erfuhr.

Vom Claim von einst, da redet keiner mehr:

Zentrum von Kleinskulpturen sollte das Museum werden.

Weil sich die Stadt bescheiden wollte: Keine Asche für Großankäufe.

Jetzt, wo Asche nur noch Phantasie ist, muß Stecker klappern.

Und kommt auf dumme Gedanken, des Agenda settings willen.

Beispielsweise wollte er den Lehmbruckpark, in dem Skulpturen leben, Kunst, die auch die Nacht kennt, mit einem Zaun umranken.

Natürlich alles Bullshit, die Idee, der Kantpark ist nicht der Vondelpark, von dem Promogeschnetz redet keiner mehr.

Jetzt ist der Hype vom Dienst:

Stecker läßt Sarrazin auftreten. Im Rahmen von Integration und dissendierenden Thesen soll das laufen.

Zu Kunst soll das gehören. Aber – es ist natürlich der Spaltpilz. Rassisten werden sich bemüßigt fühlen. Läuft alles nach Plan?

Drei Kilometer weiter. Wo die Armut wohnt. Ein Parkplatz gegenüber einer Moschee auf der Wanheimer Straße in Hochfeld.

Da stehen ab vier Uhr morgens Männer rum. Das ist ein Arbeitsstrich für Tagelöhner.

Poliere holen die in Kombis und SUVs für den Bau ab. Für drei Euro Stundenlohn. Viele sind illegal, Sinti oder Rom, da kann man nicht verhandeln. Alles läuft nach Plan.

Aber der Plan ist auch Vertreibung.

Arme hacken auf noch Ärmere, und die Stadt Duisburg ist arm.

Sie hat schon mal Sinti und Roma vertrieben, im letzten Jahr, in einem anderen Stadtteil.

Man hat sich den Mob zunutze gemacht, es wurden Stimmen aus der Nachbarschaft laut. Sehr laut. Alles läuft nach Plan.

Duisburg am Niederrhein, Deutsche Durchschnittsrassisten befördern den Lauf der Welt. Alles läuft nach Plan.

Duisburg-Walsum: die Posse um den Platz geht weiter

Foto: Zwingenberg / Bernis-Blog

In der Posse um die Umbenennung eines Platzes in Duisburg-Walsum wurde am Donnerstag ein weiteres Kapitel geschrieben. Es muss nicht unbedingt das letzte sein.

Wie berichtet, hatte sich die Bezirksvertretung des ehemals selbständigen Stadtteils im Duisburger Norden fraktionsübergreifend darauf verständigt, ihren Rathausvorplatz in „Schalom-Platz“ umzubenennen. Nachdem jedoch der dortige „Heimatverein“ mit dem Hinweis, es gäbe bereits genug Naziopfer-Gedenkstätten, gegen dieses Vorhaben protestiert hatte, beeilten sich die Fraktionen von CDU und SPD, den entsprechenden Antrag von der Tagesordnung des Vorstadt-Parlaments zu nehmen. Kurz darauf bemühte sich der Walsumer CDU-Fraktionschef, eine von ihm auf einer Karnevalssitzung gestellte Suggestivfrage als Volksbefragung zum Thema umzudeuten.

Am Donnerstag, den 18. November, haben sich nach Angaben der WAZ-Stadtteilredaktion die Fraktionsvorsitzenden in der Bezirksvertretung Walsum als Kompromiss auf den Namen „Platz der gemeinsamen Erinnerung“ geeinigt. Damit solle sowohl der jüdischen wie auch der nichtjüdischen Opfer des Nazi-Regimes gedacht werden, aber auch – und wie man annehmen muss: vor allem – der auf der Arbeit umgekommenen Bergleute. Dieser Kompromiss nimmt der ganzen Sache nichts von ihrer Peinlichkeit.

Es kann nicht darum gehen, die einen Toten gegen die anderen auszuspielen. Aller Toten zu gedenken ist ein Fundament jeglicher Kultur. Nur: wo Aller gedacht wird, am gleichen Ort und zur gleichen Zeit, und bei Gedenkveranstaltungen vermutlich auch noch von den gleichen Anwesenden, da wird eigentlich – wenn wir ehrlich sind – niemandem gedacht. Man denkt allenfalls an Vorstadtpolitiker, wie sie in der Bredouille auf einen Namen wie den „Platz der gemeinsamen Erinnerung“ gekommen sein mögen. Einmalig auf der Welt, eine einmalige Peinlichkeit!

Man kann tatsächlich davon ausgehen, dass es vielen Walsumern lieber gewesen wäre, man hätte es bei der Erinnerung an die verstorbenen Bergleute belassen und den Platz in Barbaraplatz umbenannt. Nichts wäre dagegen vorzutragen gewesen, den Kumpeln, die bei der schweren Arbeit ihr Leben gelassen hatten, eine besondere Ehre zu erweisen. Man hätte sich so äußerst fragwürdige Einlassungen wie jener, dass es bereits genug Naziopfer-Gedenkstätten gäbe, guten Gewissens schenken können. Und niemand wäre auf die Idee gekommen, dass im Verhältnis zur deutschen Geschichte etwas nicht stimmt – wenn man sich geäußert hätte, bevor der Vorschlag „Schalom-Platz“ auf dem Tisch lag.

Wenn jedoch bei einem sensiblen Thema wie dem Holocaust einmal eine Einigung erzielt wurde, dann muss man zum interfraktionellen Beschluss auch dann stehen, wenn dieser dem ein oder anderen nicht passt. Wenn aber, wie kürzlich in Walsum geschehen, Alles vorbereitet war, sogar der Termin zur Namenseinweihung schon feststand, und dann noch kurz vor Toresschluss die Absage kommt, dann tut man dem Ansehen seines Ortes keinen Gefallen. Wenn dann Michael Rubinstein, der Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde, meint, dass „es einige Leute zu geben (scheint), die mit einem Schalom-Platz Probleme haben“, dann hat er nichts gegen Nicht-Juden, dann hat er einfach nur Recht.

Und noch etwas: es hat nichts damit zu tun, die einen Toten gegen die anderen auszuspielen, wenn man sich vor Augen hält, dass ein Grubenunglück schon etwas Anderes ist als ein Völkermord. Eine Banalität. Wem bei einer Meldung über verunglückte Kumpel in China oder Chile der Holocaust in den Sinn kommt, tickt nicht richtig. Da ist kein Platz für eine „gemeinsame Erinnerung“. Es ist etwas völlig Anderes. Die nach Auschwitz verschleppten Walsumer Juden waren keine „besseren Menschen“ als die Jungs, die im Bergwerk geblieben sind. Wir müssen uns vor Augen halten, dass eine Gaskammer etwas Anderes ist als Grubengas. Den Toten kann es egal sein. Wenn wir da Blödsinn erzählen und schließlich selbst denken, haben wir das Problem.

„Auschwitz“ ist auch nicht etwas besonders „Heiliges“; Auschwitz war etwas besonders Schreckliches. Es ist schwer, dies mit anderen Grausamkeiten, die Menschen Menschen angetan haben und antun, vergleichen zu wollen. Dennoch: manchmal kann man es tun, manchmal muss man es tun: das absolute Grauen als Maßstab nehmen zur Beurteilung von Scheußlichkeiten, die Menschen offenbar nicht müde werden zu begehen. Srebrenica, Ruanda, Darfur – na sicher: es heißt nicht, deutsche Schuld zu schmälern, wenn in Zusammenhang mit diesen Orten des Schreckens auch Auschwitz genannt wird. Man kann, darf und muss den Holocaust vergleichen. Mit anderen Völkermorden, nicht mit Grubenunglücken.

Das ist alles so banal. Dass es dennoch geschrieben werden muss, ist peinlich. Ärgerlich. Mit Bedacht: auch schlimm. Am 30. November entscheidet die Bezirksvertretung Walsum in einer Sondersitzung. Liebe Leute, meine sehr verehrten Damen und Herren, macht Euch bitte nicht lächerlich! Ich komme jetzt schon aus dem Fremdschämen nicht mehr raus. Ich hätte es nicht nötig, ich kenne Euch nicht, und doch … – tut mir bitte, tut Euch den Gefallen: nennt ihn Barbaraplatz, lasst es beim Kometenplatz, Friedensplatz – sehr gern, muss aber nicht. Schalomplatz ist ja wohl gegessen. Macht, was Ihr wollt! Nur bitte, lasst das mit dem „Platz der gemeinsamen Erinnerung“! Strengt Eure Karnevalsköpfe bitte noch einmal eine Viertelstunde ein wenig an! Lest vielleicht diesen Text noch einmal! Oder stellt Euch einfach nur vor, in welcher „gemeinsamen Erinnerung“ Ihr verbleibt, wenn Ihr Euch wirklich nicht entblöden solltet, diese Peinlichkeit durchzuziehen.

Jamie Lee Bowie

Endlich, seit gestern Nacht kann man endlich der Nachbarin untern Rock, respektive in den Vorgarten linsen, streetview ist online und funktioniert sogar.

Schon verdammt spannend, was man dort zu sehen bekommt, na ja, oder auch nicht. Spannender ist, was man nicht sehen kann oder sehen können soll. Aktuell ist es DAS Thema, wie gut google es auf die Kette bekommt, dem Ruf nach Privatsphäre und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte nachzukommen und Gesichter und Fassaden zu verpixeln. Mir kann das egal sein, mein darkroom geht nach hinten raus.

Allgemein wird stark angezweifelt, daß google das vernünftig hinbekommt, auch weil man ebenso allgemein annimmt, daß sie es gar nicht hinbekommen wollen, sondern planen, irgendwann mit den Daten Schindluder zu treiben. Ok, kann passieren, auch wenn ich mich frage wie man mit bis zu zwei Jahre alten Bildern etwas anstellen will in einer Zeit, in der sich Fische beschweren, daß die Zeitung in die sie gewickelt werden von gestern und somit hoffnungslos veraltet ist.

However… wie die meisten, oder sind wir doch mal ehrlich, wie alle, habe ich mich auch mal in meiner Nachbarschaft umgesehen, weiter geht das Interesse der meisten sowieso nicht, warum auch? Und tatsächlich, genau die Leute, die man schon seit Jahren nicht hat leiden können sind genau die, die ihre Hütte haben verpixeln lassen. Machen wir uns allerdings nix vor, daß Verhalten dieses Leute ist richtig, ein Dienst am ästhetischen Empfinden, deren Kabacken sind eine Beleidigung für das Auge. Schade eigentlich, daß die Nummer mit der Verpixlerei nicht auch in der Realität funktioniert. Aber ich schweife, wie so oft, wie so immer, ab. Wie gut bekommt google es also hin, dem Wunsch nach Anonymität nachzukommen?


Größere Kartenansicht

Wenn man mich fragt, dann bekommen sie es gut hin, sehr gut, vielleicht sogar ein wenig zu gut, jedenfalls die automatische Gesichtserkennung. Ok, ich war mir nie so ganz sicher, wen sie da eigentlich auf die Fassade des Intershop gepinselt haben, Jamie Lee Curtis oder ist es doch eher David Bowie… schade irgendwie, daß mir, basierend auf diesem Bildmaterial, niemand bei der Beantwortung wird helfen können, die Persönlichkeitsrechte von Jamie Lee Bowie oder David Curtis sind jedenfalls bestens gewahrt.

Werbung

Über die Szene des Ruhrgebiets

www.pottspotting.deBerlin, Hamburg oder Köln – das sind eindeutig Szenestädte. Das Ruhrgebiet kann da nicht mithalten. Um jungen Kreativen aus  dem Ruhrgebiet dennoch eine Plattform zu geben, haben Sven Stienen und Sven Neidig aus Bochum das Internet-Blog Pottspotting.de gegründet. Wir haben die Beiden getroffen und mit ihnen über das kreative Potenzial und den Sinn von RUHR.2010 gesprochen.

Was ist Pottspotting?

Stienen: Pottspotting ist ein Internet-Blog, auf dem wir gute Orte im Ruhrgebiet sammeln und vorstellen. Zu den Orten haben sich mittlerweile auch gute Initiativen und gute Leute gesellt. Wir machen das nicht nur an Orten fest, sondern berichten auch etwa über Künstler, Kollektive und Musiker. Alles, was uns auffällt und was wir gut finden.

Wie seid ihr auf die Idee gekommen?

Neidig: Wir haben ziemlich lange darüber gesprochen, ob das Ruhrgebiet eine Metropole ist, auch in Bezug auf die Kulturhauptstadt. Da kam dann auch oft der Vergleich mit Städten wie Berlin auf, wo das mit der Kultur ja scheinbar anders läuft. Und die Idee war, dass wir raus gehen und selbst gucken, was es denn hier alles gibt in der „Metropole“ und ob es nicht doch viel schöner ist, als man gemeinhin denkt. Zum anderen haben wir uns gedacht, immer nur theoretisch über Sachen zu quatschen, bringt ja auch nicht so viel – also muss man irgendwo anfangen und versuchen, irgendetwas zu bewegen.

Was hat euch in diesem halben Jahr Pottspotting am Ruhrgebiet am meisten überrascht?

Sven Stienen und Sven Neidig. Foto: C. HahnStienen: Wir hätten nie gedacht, dass hier wirklich so viel passiert und dass auch so coole Sachen passieren. Im Moment herrscht hier eine Aufbruchstimmung – wir merken das immer wieder in Gesprächen mit Kreativen und Kulturschaffenden, dass die Leute alle voll Bock haben. Die wollen was machen, die wollen was bewegen und das war echt unerwartet.

Neidig: Was mich teilweise überrascht hat, ist, wie viel unternehmerisches Denken da ist und das in einer sehr positiven Art und Weise. Wir haben zum Beispiel ein Feature mit jemandem aus Recklinghausen gemacht, der hat sein Leben lang auf dem Skateboard gestanden und auch in einem entsprechenden Laden gearbeitet. Irgendwann war in dem Laden keine Stelle mehr für ihn da. Jetzt hat er seinen eigenen Laden aufgemacht. Er ist zwar noch relativ jung, aber er hat es jetzt erstmal geschafft und ist Ladenbesitzer.

Es gibt das schöne Schlagwort von der Metropole Ruhr…

Stienen: Das findet bei uns nicht statt. Man wird nicht zur Metropole, indem man nur immer lauter ruft, man sei eine. Zum anderen fehlt eine kritische Masse an Leuten. Man sieht, dass gute Kulturveranstaltungen im Ruhrgebiet immer wieder große Probleme haben, weil das Publikum einfach fehlt. Dann fehlt vielleicht auch das Zusammengehörigkeitsgefühl. Um in so einer Liga konkurrieren zu können, müsste das Ruhrgebiet eine Stadt sein. Jede einzelne Stadt für sich hat nicht das Zeug dazu, eine Metropole zu sein. Aber alle zusammen schon – dazu müssten die Städte erst einmal zusammenwachsen von der Mentalität und vom Denken her, von der Infrastruktur.

Glaubt ihr, dass das Ruhrgebiet mitten im Wandel steckt – vom Kohlenpott zum kreativen Pott?

Neidig: Also wirtschaftlich ist es auf gar keinen Fall noch der Kohlenpott. Von der ökonomischen Basis her musste man sich völlig umorientieren. Das mit der Mentalität ist eine andere Sache. Zu einer Metropole gehört auch ein gewisses Selbstbewusstsein der Bewohner. Nach dem Motto „ich wohne in der Stadt und die hat einen Weltruf und man gehört halt dazu“. Und hier ist die Selbstwahrnehmung eher „wir sind irgendwie am Rand und nicht wirklich wichtig“. Tendenziell denkt man sich hier eher alles klein.

Stienen: Ich glaube, das setzt sich auch auf allen Ebenen fort. Hier wird viel Geld und Energie in Hochkulturprojekte investiert, um das fehlende Selbstbewusstsein aufzupolieren. Man schmückt sich lieber mit großen Leuchtturmprojekten, statt auf die eigenen Potenziale zu setzen, weil einfach das Selbstbewusstsein fehlt.

In ein paar Wochen ist die Kulturhauptstadt vorbei. Was glaubt ihr, was bleibt übrig?

In wenigen Wochen ist das Kulturhauptstadt-Jahr vorbei. Foto: C.HahnStienen: Wir glauben, dass die Kulturhauptstadt an sich viele schöne Projekte und viele schöne Events hatte, aber nachhaltig sind doch eher die Sachen, die ins Kulturhauptstadtprogramm vielleicht nur durch Zufall reingerutscht sind. Gerade die Leute, die von der Kulturhauptstadt enttäuscht waren und gesagt haben „warum werden wir nicht gefördert, wenn endlich mal Geld da ist?“ – gerade diese Leute haben aus Trotz in diesem Jahr unheimlich viel Initiative gezeigt. Diese Projekte sind die wirkliche positive Errungenschaft der Kulturhauptstadt. Das sind die Leute, die auch 2011, 2012 und 2013 weitermachen. Ich glaube, dass da ziemlich viel passieren wird und dass sich in der freien Szene jetzt super viel entwickeln wird.

Aber kann man denn Kreativität wirklich subventionieren und damit auch irgendwo erzwingen?

Neidig: Kreativität kann man nicht erzwingen. Menschen sind kreativ. Meiner Meinung nach muss man kreative Menschen lassen, die brauchen Freiraum. Und das heißt im Zweifelsfall 20 m² Leerstand irgendwo, wo man nicht sofort wieder raus geräumt wird. Wo man nicht so viel Miete zahlen muss, wo man nicht sofort Ärger kriegt, wenn man nicht vorschriftsmäßig einen Wasseranschluss hat oder sonstige Sachen. Das ist eigentlich nicht sehr viel, ist aber für Verwaltungen oft schwierig zu machen. Städte haben gerne Ordnung, aber der Aufwand, der betrieben wird, um ein Kreativquartier künstlich zu erzeugen, ist schon sehr hoch. Ich denke mit ähnlichem oder weniger Ressourcenaufwand könnte man auch Freiräume schaffen, in die man nicht eingreift und die von allein wachsen und sich entwickeln.

Stienen: Gerade dieser Versuch, von oben etwas zu installieren wie ein Kreativquartier, funktioniert nicht. Diese Viertel entstehen, wenn bestimmte Faktoren zusammentreffen. Die Kreativen gehen dorthin, wo es günstig ist, wo sie sich wohlfühlen und wo man sie machen lässt. Es geht nicht immer nur um Subventionen, sondern darum, einfach mal etwas zuzulassen. Und das ist das, was wir mit Pottspotting versuchen: wir dokumentieren und versuchen nicht, irgendwelche Meinungen zu machen. Wir wollen aufzeigen, was hier passiert – sei es, dass etwas gut funktioniert hat oder dass etwas schief gelaufen ist.

Berlin ist für viele die Szene-Stadt schlechthin. Haben wir auch eine Szene?

Stienen: Das Ruhrgebiet hat auch eine Szene, nur die ist sehr klein und sehr auf die einzelnen Städte bezogen. Dortmund hat eine Dortmunder Szene, Essen hat eine Essener Szene, Bochum hat eine Bochumer Szene. Mittlerweile fängt es so langsam an, dass die Leute auch mal in die Nachbarstädte fahren. Es fehlt noch die Masse, um diese Stadtgrenzen zu überwinden. In Berlin, Hamburg oder Köln ist das Ganze schon größer. Das ist die kritische Masse, die man braucht, um andere Leute anzuziehen. Also im Moment ist das Ruhrgebiet auch noch nicht so ein Anreiz für Leute von außerhalb, hierhin zu kommen.

Was machen Hamburg und Berlin besser als wir? Ist es das Image, das eine gewisse Eigendynamik mit sich bringt?

Neidig: Man sieht es ja schon am ganz konkreten Beispiel der Mode. Man ist in solchen Metropolen einfach ein bisschen mutiger. Das fängt schon in Köln an, wenn man dort mit der Straßenbahn fährt, sieht man Leute, die einfach ein bisschen gestylter und cooler sind, als die, die einem hier so begegnen. Das ist einfach ein gewisses Selbstvertrauen, was da mitläuft.

Stienen: Aber auch da spielt die Menge der Leute wieder eine wichtige Rolle. Ich glaube nicht, dass das in Berlin von den Voraussetzungen her anders ist: Das Ordnungsamt macht da genauso Läden zu wie hier. Es gibt da aber auch Beispiele, dass politische Entscheidungen dazu führen, dass man einen Kiez sich einfach entwickeln lässt. In Berlin sind aber auch einfach viel mehr Leute, die Szene entwickelt sich dort viel schneller, Bars, Clubs und Galerien öffnen und schließen in einem schnelleren Rhythmus, da kommen die Behörden nicht immer nach. Auf der anderen Seite hat die Szene dort aber auch eine stärkere Tradition, da haben sich in der Wendezeit Strukturen etabliert, die bis heute eine gewisse Beständigkeit behalten haben, und so etwas fehlt im Ruhrgebiet. Hier fängt das gerade an, hier ist die Off-Szene eine kleine, aufblühende Geschichte. Die Überpräsenz der Regulierungen macht es aber schwer, solche Sachen dauerhaft zu machen. Wenn du hier irgendwas machst, dann steht das Ordnungsamt mit dem Zollstock daneben. Wenn das so läuft, kann aber nichts entstehen. Wo Kreativität und Kunst aufblühen sollen, da kann man nicht immer alles genau abmessen.

Bürgerlich, bürgerlicher, am bürgerlichsten – über das Volk und seine nach ihm benannten Parteien

DER SPIEGEL, Heft 46 / 2010

Nicht die CDU und nicht einmal ihre Vorsitzende, Frau Merkel, wollen erkennen, meint Heribert Prantl, dass „die eigentliche, die bürgerlichste aller bürgerlichen Parteien inzwischen die Grünen sind.“ Das könnte daran liegen, meine ich, dass sie – also die CDU und ihre Vorsitzende – am liebsten selbst „die eigentliche, die bürgerlichste aller bürgerlichen Parteien“ wären. Dass die FDP eine bürgerliche Partei ist und im Rahmen einer bürgerlichen Koalition ein Garant für das Bürgerliche in der bürgerlichen Regierung ist, wer wollte das bezweifeln? 

Nur: in der heutigen Zeit reicht das nicht mehr. Bürgerlich – das ist ja irgendwie Jede und Jeder. Spieglein, Spieglein an der Wand – wer ist der, die oder das Bürgerlichste im ganzen Land? Doch diese Frage ist längst beantwortet. Prantl weiß es, und wenn der Ressortleiter Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung etwas weiß, dann hat das schon etwas zu bedeuten – z.B. für all die Anderen, die noch mehr zu wissen haben als ihre Leser, die qua Werbeslogan ohnehin schon mehr wissen. Richtig: die Rede ist vom „Spiegel“, der in dieser Woche die „Bürgerlichsten aller Bürgerlichen“ auf die Titelseite stellt. 

Die „Spiegel“-Titelseite, charmant gestaltet im heilserwartungsvollen Stil aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, wie wir ihn gegenwärtig nur noch von der MLPD oder den Zeugen Jehovas kennen. Die gleiche Chose – allerdings in Grün: oben scheinen hell- und dunkelgrüne Strahler den Schriftzug „Die neue deutsche Volkspartei“ zu projizieren. Darunter Renate Künast, die die rechte Sozialisten-Faust ballt, und Jürgen Trittin, der rechte und linke Hand umklammert, was einen an das Logo der SED denken lassen soll. Darunter wiederum Demonstranten, die gegen „Stuttgart 21“ und gegen Atomkraft demonstrieren: offensichtlich „bürgerliche“ Menschen, die ihre Pappplakate und Fäuste in die Luft recken. Ganz unten dann die Frage: „Was taugen die Grünen?“ 

Nicht viel, wie wir in der Titelgeschichte erfahren. Dort heißt es, die Grünen stünden für „Normalität, jedenfalls in den bürgerlichen Vierteln, aus denen die Grünen ihre Anhänger rekrutieren“. Das hört sich freilich nicht ganz so locker an. Aber auf jeden Fall „profitieren die Grünen heute vom Konformitätsdruck der bürgerlichen Mittelschicht“, weshalb sie ja – man denke an die Titelseite – jetzt „die neue deutsche Volkspartei“ sind. Wir merken uns: wir sind das Volk, wir sind bürgerlich, woraus zwingend folgt, dass demzufolge das Volk bürgerlich ist. Volkspartei zu sein bedeutet, bürgerlich zu sein, weshalb verständlicherweise auch Sigmar Gabriel darauf besteht, dass die SPD ebenfalls bürgerlich ist. 

Ob denn Sozialdemokraten keine Bürger seien, fragt der Parteichef so rhetorisch wie empört, wenn sich die schwarz-gelbe wieder einmal eine „bürgerliche“ Koalition nennt. Da kann, wie kürzlich auf dem Parteitag, Frau Merkel ihre Leute auffordern, „die Herausforderungen einer veränderten Welt anzunehmen und bürgerliche Politik neu zu begründen“. Wenn mit der CDU die neue Zeit zieht, dann mit der SPD schon mal erst recht. Wenn die Konservativen anfangen, „die Herausforderungen einer veränderten Welt anzunehmen“, bitte sehr, dann sind die Sozialdemokraten eben jetzt auch „bürgerlich“. Das wäre ja noch schöner! 

Einzig die Linkspartei hält stramm Kurs: bürgerlich ist böse. Schluss der Debatte. Und weil alles, was nicht Linkspartei ist, irgendwie bürgerlich ist, ist es auch – gut mitgedacht! – irgendwie böse. Abgesehen von den bürgerlichen Freiheitsrechten, die wiederum irgendwie gut sind – zumindest so lange, wie eine Regierungsbeteiligung nicht in Sicht ist. Deshalb macht die Linke in Ostdeutschland auch nicht so viel Bohei um „bürgerliche Freiheitsrechte“ und so; denn dort ist sie ja Volkspartei. Wir haben gelernt: eine Volkspartei ist qua definitione bürgerlich. Weil ja, wie Sie sich erinnern, das Volk selbst, bürgerlich ist. Was soll es denn auch sonst sein?! 

Zugegeben: wenn alle bürgerlich sind, macht es irgendwie auch keinen Spaß. Genau genommen wird es überhaupt erst möglich, bürgerlich zu sein, wenn es Leute oder Sachen oder Ideen gibt, die eben nicht bürgerlich sind. Aus dem schönsten Konformitätsdruck könnte gar nichts werden, wenn alle, wirklich alle, „so sind wie wir“. Ein Festival der Liebe, gab einst Jürgen Marcus zum Besten, solle unser Leben sein. „Und alle, die so sind wie wir, die laden wir gern ein.“ Und alle Anderen eben nicht. Das ist ja gerade der Clou an der ganzen Angelegenheit. Wer – bitteschön – ist nicht bürgerlich? Jetzt einmal abgesehen von den Leuten von der Linkspartei … 

Richtig: Hartz-IV-Empfänger und so Leute. Die sind nicht bürgerlich. Dafür aber auch uninteressant, womit die soziologische Betrachtung des bzw. der Nicht-Bürgerlichen auch schon durchgenudelt wäre. Deutlich interessanter ist der politologische Blick auf Bürgerliche und Nicht-Bürgerliche. Klar zu erkennen auf Demonstrationen – gegen AKWs, Nazis und all so´n Mist. Die, die mit dem Stadtrat, dem Bürgermeister, dem Pastor und dem Gewerkschaftsboss gehen, sind die Bürgerlichen. Die Anderen, die etwas offensiver an diese Kämpfe herangehen – im bürgerlichen Sprachgebrauch: Krawallmacher, Chaoten oder so – sind es eben nicht. Also: nicht bürgerlich. Politologie einfach, Soziologie uninteressant – historisch betrachtet wird die Sache leider unnötig kompliziert. Deshalb stellen wir uns jetzt einmal ganz dumm und fragen uns, wer oder was der Bürger eigentlich ist. Denn so, wie es ohne Anschau kein „anschaulich“ gibt, gibt es ohne Bürger auch kein „bürgerlich“. Logisch. 

Schauen wir uns das also auf Wikipedia an: da haben wir einmal das Bürgertum, die Klasse der Bourgeois, also die Bourgeoisie, die sich als besitzende Klasse gesellschaftliche Produktion privat aneignet. Das ist gemein, ziemlich bürgerlich und irgendwie auch nicht gerecht. Dann haben wir aber auch noch – neben dem Bourgeois – den Citoyen, also den Bürger, der „die bürgerlichen Ehrenrechte” (Rechte und Befugnisse) genießt, wie z.B. das aktive oder das passive Wahlrecht. Den Staatsbürger eben. Beide, also Bourgeois und Citoyen, können freilich in ein und derselben Person vorkommen, müssen es aber nicht. Und in den allermeisten Fällen tun sie es auch nicht. Die meisten Staatsbürger besitzen nämlich gar keine Produktionsmittel. Und wenn doch: wie viele Aktien muss man eigentlich besitzen, um als Angehöriger der bürgerlichen Klasse gelten zu dürfen? 

Und überhaupt. Wenn Alle, oder sagen wir mal: fast Alle, jetzt bürgerlich sind, haben wir dann eine klassenlose Gesellschaft, also – man wagt es gar nicht zu fragen: leben wir dann – sozusagen jetzt schon – im Kommunismus? Das könnte ja sein. Wenn vor zwanzig Jahren der Tante Frieda oder dem Onkel Herrmann erzählt worden wäre, dass die Grünen heute Volkspartei sind, und dass der Trittin vielleicht Bundeskanzler werden könnte, da wären die zusammen gezuckt und hätten diese Frage ohne zu zögern mit einem Ja beantwortet. Die wussten allerdings damals auch noch nicht, wie chic sich die Grünen anziehen können. Claudia Roth meint, „bürgerlich“ sei, wenn man „wohlerzogen“ ist. So ähnlich hatten sich das Tante Frieda und Onkel Herrmann auch gedacht. 

So dreimal, manchmal auch viermal im Jahr gingen die Beiden auswärts essen. Geburtstag, Hochzeitstag und so – da musste Tante Frieda nicht kochen. Da hatte man sich etwas gegönnt. Gute bürgerliche Küche.

Die Kreativen und die Politik im Ruhrgebiet

Das Thema Kreativwirtschaft interessiert niemanden mehr. Es hat seinen Zweck erfüllt. Nun dreht sich alles um das Klima. Aber keine Sorge: Auch das geht vorbei.

Es war vor ein paar Jahren in Bochum. Ich fragte einen Kommunalpolitiker, wieso für Millionen eine alte Zeche in dem Vorort Gerthe nahe der Grenze zu Castrop-Rauxel zu einem Kreativwirtschaftlichen Gründerzentrum umgebaut worden sei. So etwas müsste doch in die Innenstadt. Das wisse er auch, erklärte er mir. Aber der größte Teil des Geldes käme vom Land und der EU, man habe die Immobilie gehabt und nun sei sie fertig. Nach ein paar Jahren wären die Alibi-Kreativen draußen. Dann würden normale Unternehmen einziehen und man hätte ein schönes, renoviertes Gebäude. Für Kreativwirtschaft hat sich der Mann nicht die Bohne interessiert.

Ähnlich in Dortmund. Dort hielten sie sich die Bäuche vor Lachen, als in Bochum und Essen laut über Kreativwirtschaft nachgedacht wurde. Dortmund setzte auf Mikrosystemtechnik, IT und Logistik und das mit Erfolg. Erst als klar wurde, dass man für den U-Turm nur Fördermittel bekommt, wenn man ihn als irgendwas mit Kreativwirtschaft ausgibt, begann man umzudenken. Aus dem U-Turm Museum wurde ein Kreativwirtschaftszentrum. Nun, wo die Millionen geflossen sind, ist es ein Museum- und Ausstellungsgebäude geworden. Nichts anderes wollte die Stadt haben. Das kann man Betrug nennen, aber es war geschickt. Schön, dass sich die EU nun des Themas annimmt.

Nur zwei Beispiele die zeigen, wie es läuft. Ruhrgebietspolitiker sind Meister im Anwerben von Fördergeldern. Wenn es darum geht an das Geld anderer Leute heranzukommen, sind sie listenreich und gewitzt. Tja, liebe Leser aus Süddeutschland. Wenn ihr immer schon mal wissen wolltet, was mit Eurem Geld so gemacht wird, dass ihr hierhin schickt, schaut mal vorbei. Allein die Route der Industriekultur hat über 1000 Gebäude. Und bei den meisten hat niemand eine Idee, was man mit ihnen anfangen soll – außer Euch die Kohle für neue Projekten aus der Tasche zu ziehen, die natürlich wieder gefördert werden müssen.

Es ging nie um das Thema Kreativwirtschaft. Die Politiker und Wirtschaftsförderer im Ruhrgebiet wissen, wo sie wirklich Chancen haben: Logistik, Energie, IT und ein paar andere Branchen laufen nicht schlecht. Da geben sie sich Mühe und da haben sie manchmal auch wirklich Erfolg. Research in Motion entwickelt Blackberrys in Bochum – nicht in Bietigheim. Aber Kreativwirtschaft war eine gute Chance, an etwas Extra-Geld ranzukommen. Mehr war da nicht. Oder hat einer einmal eine Diskussion mitbekommen, wie man in den Städten hier eine offenere Atmosphäre und mehr Toleranz hinbekommt? Oder wie man junge Leute mit vielen Ideen und wenig Geld halten kann? So ganz praktisch? Eben.

Das Elend um das FZW zeigt das Desinteresse an allem, was im Ruhrgebiet Off-Kultur ist. Der Umgang mit den Besetzern in Essen und Dortmund zeigt die tiefe Verachtung der Politiker im Ruhrgebiet gegenüber Menschen, die Eigeninitiative zeigen. Kultur ist im Ruhrgebiet nur etwas zum Repräsentieren. Interessieren tut sich niemand dafür.

Die Erfolge, die andere erzielen, heftet sich die Politik indes gerne ans Revers: In Bochum erzählen sie, dass die Entwicklung im Viertel-Vor-Ehrenfeld durch die Konzerthausplanung „befeuert“ wurde. Eine Lüge: Als die Macher des Quartiers vor ein paar Jahren mit der Wirtschaftsförderung sprechen wollten, bekamen sie noch nicht einmal einen Termin.

Alles, was das Ruhrgebiet noch lebenswert macht ist gegen die Politik und die Ruhr2010-Hansel geschaffen und durchgesetzt worden. Und darauf kann man stolz sein. Man sollte aber auch den Stolz haben, den Politiker im Revier zu sagen, dass sie keine Gesprächspartner sind, wenn sie kooperieren wollen. Wenn  sie an den Erfolgen Teil haben wollen. Sie sind keine Partner.

Jetzt kommt das Thema Klima. Nicht dass sich dafür einer wirklich interessiert. Es geht wieder um Fördergelder. Es geht wieder darum, anderen in die Tasche zu greifen. Man sollte nichts ernst nehmen, was in den kommenden Jahren gesagt wird. Kein Projekt der Städte wird es wert sein, ernsthaft diskutiert zu werden. Es wird wie immer sein.

Werbung

FZW: Offener Brief der freien Mitarbeiter des FZW an den Dortmunder Rat

Nirgendwo im Ruhrgebiet finden so viele wichtige Konzerte statt wie im FZW. Die Stadt Dortmund ist dabei das FZW zu ruinieren.  Wissen die Verantwortlichen nicht was sie tun? Ist es ihnen egal? Wahrscheinlich beides. Wenn es so weiter geht wie mit UZDO und FZW ist Dortmund bald eine tote Stadt. Wir dokumentieren einen offenen Brief der FZW Mitarbeiter an den Dortmunder Rat:

Sehr geehrte Damen und Herren,

sämtliche freien MitarbeiterInnen des FZW haben sich auf nachfolgendes Statement verständigt, das wir an die Ratsmitglieder der Stadt Dortmund, die im Rat vertretenen politischen Fraktionen und die politische Verwaltungsspitze versenden. Gleichzeitig erfolgt ein Versand an die lokal, regional und überregionalen Medienpartner aus den Bereichen Print, Funk und TV. Leider hat sich die anhaltend ungewisse Zukunft und die zermürbende Diskussion über die Betreiberstruktur des FZW zu zahlreichen existenziell bedrohlichen Zuständen innerhalb der Mitarbeiter geführt.

Mit großem Entsetzen und Erstaunen haben wir die öffentliche Debatte rund um das FZW verfolgt.  42 Jahre Clubgeschichte neigen sich einem dramatischen Ende entgegen und dies auf eine Art und Weise, die  den Mitarbeitern die Zornesröte ins Gesicht treibt.  Eine öffentliche Kampagne gefüttert mit falschen Zahlenwerk und „Halbwahrheiten“ diskreditierten die Akteure und brachten das FZW  immer wieder auf das öffentliche Pressetablett.

Die freien Mitarbeiter des FZW sind vor allem über den plötzlich formulierten Anspruch der „Wirtschaftlichkeit“ sehr verwundert. Bis vor kurzem war nie davon die Rede, dass das FZW Gewinne erzielen solle. Die langjährige Praxis hat sich eher an anderen Zielen orientiert. Und wenn schon „Wirtschaftlichkeit“ gefordert wird, so sollte es den Damen und Herren, die dies fordern, auch klar sein, dass dies eine tragfähige Unternehmensstruktur voraussetzt.

Das FZW wurde am 11.09.2009 auf „Anordnung“ des damaligen Oberbürgermeisters Dr. Gerhard Langemeyer eröffnet, ohne eine rechtlich abgesicherte Betreibergesellschaft zu haben. Mit immer wieder neuen Zwischenlösungen wurde so lange herumgewerkelt, bis die Akteure diskreditiert waren, die Motivation der Mitarbeiter zerstört  war und keiner der Verantwortlichen mehr etwas von den ursprünglich formulierten Zielen wissen wollte.

Umso erstaunlicher ist es, dass trotz des verwaltungstechnischen Chaos das FZW sich bei den Musikern und Agenturen bundesweit den Ruf als bester Live-Club innerhalb eines Jahres erkämpft hat. Hierfür ist ausschließlich privates Engagement, Herzblut und der Wille etwas zu bewegen, verantwortlich.  Diese positive Steilvorlage in Sachen Akzeptanz wurde von der Politik leider bislang weder beachtet, gewürdigt oder honoriert.

Durch Untätigkeit, mangelnde Entschlossenheit und Unvermögen nahm das Chaos seinen Lauf. Hätte man für eine von Anfang an geforderte Unternehmensstruktur gesorgt, hätte das FZW rund 1,2 Millionen Euro an Nettoerlösen vereinnahmen können. Dieser Betrag dürfte den Umsätzen der Gastronomie und des Veranstaltungsgeschäftes für die ersten zwölf Monate gerecht werden.

Kaum zu glauben, dass ein Millionenprojekt wie das FZW ohne klare Vision einer Firmenstruktur eröffnet wurde! Noch peinlicher ist es, dass die Menschen, die den Betrieb ermöglicht und aufrecht erhalten haben, zum 31.12.2010 ihren Job verlieren und existenziell bedroht sind. Die vorläufige „Krönung“ bleibt, dass bis heute noch keine verantwortliche Person zu den freien Mitarbeitern gesprochen hat. Erwartet man von uns, das wir „Danke Dortmund“ sagen und uns anschließend freudig ins Grab legen?

Zur Erfolgsstory des FZW gehört sicherlich auch das den Jugendlichen gewidmete Programm. Wie nie zuvor strömen junge Menschen ins FZW. Im ersten Jahr wurden über 130.000 Zuschauer im FZW gezählt und den örtlichen Veranstaltern wurde eine Plattform gegeben, die rege genutzt wurde. Das Programmangebot wurde durch privatwirtschaftliches Engagement stark bereichert. Auch die Dortmunder Veranstalter profitierten von der Neuausrichtung einer ganzheitlichen Programmsteuerung. Nach jahrelanger Abstinenz konnten die Dortmunder Veranstalter der Visions, Continental Concerts, Nagado Entertainment, RockHard, Keuchel Events, Firestarter Promotion Jaeckel Entertainment wieder für das FZW begeistert werden. Mit Hilfe der NRW-Veranstalter wie z.B. Prime Entertainment aus Köln, Concert Team aus Düsseldort, Headline Concerts aus Bonn, Contra Promotion aus Bochum, Kingstar Promotion aus Münster, Schoneberg Konzertbüro aus Köln und Münster wurde ein erstklassiges Programm angeboten und Dortmund so wieder auf den Tourplan national und international renommierter Acts gehievt.  Das hauseigene Booking setzte zusätzliche Schwerpunkte, die in enger Abstimmung mit jugendrelevanten Kulturveranstaltungen erfolgte. Nicht zu verschweigen sind auch die Jugendkulturveranstaltungen Rockstage und Lauscher.

Nun muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, dass die von städtischer Seite kommunizierten Mehrkosten des FZW im Vergleich zum Standort am Neuen Graben per anno rund 160.000 Euro betragen. Es fällt schwer zu glauben, dass bei einem Milliardenhaushalt der Stadt Dortmund die Summe von 160.000 Euro  die in letzter Zeit schwer zu ertragenden, politischen Verrenkungen rechtfertigt.

Wenn ein  Projekt aus der öffentlichen, städtischen Fürsorge in eine privatwirtschaftliche Führung übergeben wird, dann sollte man auch von einer gewissen Ernsthaftigkeit und Notwendigkeit ausgehen. Angesichts der Historie des FZW erübrigt sich die Notwendigkeit für eine solche Umstrukturierung. Deren Ernsthaftigkeit darf ebenfalls angezweifelt werden. Was ist das für ein Geschäft, wenn ein privatwirtschaftlicher Betreiber eine Veranstaltungsstätte durch verklausuliertes Gegenrechnen zum Nulltarif erhält, die Stadt diese aber weiterhin mitfinanziert und der Etat für Jugendkulturveranstaltungen im sechsstelligen Bereich gekürzt wird?

Leider bleibt nur ein Fazit: Hochkultur von Theater, Schauspiel und Konzerthaus kann in Dortmund auch in finanzschwacher Zeit weiter bezuschusst werden – und zwar in Millionenhöhe! Pop- und Jugendkultur sowie Engagement für die freie Jugendszene werden dagegen weggespart. „42  Jahre FZW – Ade“, das tut weh und beschert sicher  keine tollen Aussichten für das junge Dortmund und den Kreativstandort, für den das Dortmunder U stehen sollte! Das FZW sollte immer integraler Bestandteil der Kreativwirtschaft rund um das Dortmunder U sein. Eine Umsetzung dieser Idee erfordert Mut, Beharrlichkeit und eine klare Vision. Leider sind dies Tugenden, die man zur Zeit vergebens bei der verantwortlichen, politischen Spitze sucht.

Wir fordern hiermit die Fraktionen des Rates der Stadt Dortmund und auch den Rat selber auf, der Wertigkeit einer solchen Institution, die das FZW darstellt, und deren Geschichte und Entwicklung endlich Rechnung zu tragen und es dem zuzuführen, was ursprünglich von der Stadt geplant gewesen ist: Ein jugendkulturelles Zentrum mit einem vielschichtigen, szenerelevanten Programm, das regionale und überregionale Wirkung hat und der Historie der Institution FZW Rechnung trägt.

Wir fordern den Oberbürgermeister der Stadt Dortmund, Ullrich Sierau, auf, sein Wahlversprechen einzulösen, dass er kurz vor der Wahl gegeben hat, und dass FZW nicht zu privatisieren.

Wir fordern das Jugendamt der Stadt Dortmund auf, richtige und verhältnismäßige Verantwortung für das zu übernehmen, was es 42 Jahre lang aufgebaut und installiert hat.

Wir fordern alle Kreativen und Kulturinteressierten auf, nicht wort- und tatenlos zuzusehen, wie eine solche kulturelle und kreative Institution, wie das FZW es jahrzehntelang war, binnen Wochen kaputt gemacht wird.

Die freien MitarbeiterInnen des FZW

Klar ist: Wenn es um das Konzerthaus oder den U-Turm geht, sitzt die Kohle in Dortmund locker. Geht es um Off-Kultur zeigt die Stadt ihr biederes und wahres Gesicht.  Im kommenden Jahr werden wir hier wohl noch häufiger als bislang auf Konzerte in Köln oder Düsseldorf hinweisen.

Der lange Schatten von Datteln

Hundertachtzig Meter hoch wird der Kühlturm im nordrhein-westfälischen Datteln in den Himmel ragen. Nun wirft das geplante Megakraftwerk vom Energieriesen Eon lange Schatten auf die Düsseldorfer Regierung. Der Regionalverband Ruhr (RVR), eine politisch einflussreiche Gruppe in Nordrhein-Westfalen, will den Regionalplan für das größte Kraftwerk Europas ändern und den Bau des weithin sichtbaren Industrieklotzes ermöglichen.

Vor rund einem Jahr hatte Oberverwaltungsgericht Münster der Klage eines Bauern recht gegeben und den alten Bebauungsplan wegen zahlreicher Verfahrensmängel für ungültig erklärt. Nun kann der RVR entscheiden, ob er es dabei belässt oder aber einen neuen Regionalplan entwirft. Die Vorlage für die kommende Sitzung Anfang Dezember sieht vor, den Standort des Kraftwerks nachträglich genehmigungsfähig und den Einsatz von Importkohle möglich zu machen. Die Grünen sind entsetzt über die Vorlage mit der SPD-Handschrift. „Wir wollen nicht im Interesse von Eon handeln“, sagt die Grüne Sabine von der Beck. Notfalls könne die „Koalition mit der SPD nicht durchgehalten werden.“

Platzt Rot-Grün im Essener Ruhrparlament, ist dort politisch nur eine große Koalition aus SPD und CDU möglich. Nach Informationen der Ruhrbarone hat die CDU der SPD schon konkrete Angebote für eine Zusammenarbeit gemacht. „Sie sehen ihre Chance gekommen“, heißt es. Schließlich ist der Vorsitzende der Ruhr-CDU Oliver Wittke gleichzeitig Generalsekretär der CDU in Nordrhein-Westfalen und hat öffentlich mehrfach eine Große Koalition im Lande für wünschenswert erklärt. Das Ende des viel besungenen rot-grünen Wunschbündnisses im Revier hätte unabsehbare Folgen auf das Düsseldorfer Bündnis. Dieses hatte schon bei den Koalitionsverhandlungen den Sprengstoff des Kraftwerkprojekts erkannt und gehofft, die anhängigen Gerichtsverfahren würden eine politische Entscheidung überflüssig machen. Im Vertrag heißt es deshalb allgemein, es werde weder für noch gegen das Projekt Gesetze erlassen. Eine eindeutige Positionierung der Koalitionsparteien im Ruhrparlament macht diese bemüht neutrale Haltung schwer.

Mächtig unter Druck stehen sie auch von Deutschlands größtem Energiekonzern Eon. Der macht beim RVR und in der Landtagsfraktion PR-Arbeit und schickt seine Lobbyisten ins Haus. Erst vergangenen Woche hat der Vorstandsvorsitzende Johannes Teyssen auf einer Bilanz-PK deutlich gemacht, wie wichtig das Projekt für Eon ist. „Nur was in der Heimat erfolgreich läuft können wir auch in der Ferne verkaufen,“ sagte der Manager dort.

SPD und Grüne hingegen können bei dem Megaprojekt nur verlieren. Die Grünen haben vor der Landtagswahl massiv gegen das noch von der schwarz-gelben Vorgängerregierung bewilligte Projekt protestiert. Auf Veranstaltungen verteilte Grünen-Chefin Claudia Roth symbolisch essbare „Datteln“ gegen den „Klimakiller“. Die Grünen könnten ihren Wählern und der Basis vor Ort nicht erklären, warum die zuvor als grüße CO2-Dreckschleuder bezeichnete Anlage von ihnen möglich gemacht wird.

Die SPD hingegen muss ihr wirtschaftspolitisches Gesicht wahren. Aber der „Elefantenfriedhof“, wie die SPD-Veteranen alter Schule intern genannt werden, schläft nicht. Gerade im Ruhrgebiet ist die Verbindung zur Bergbaugewerkschaft IGBCE und ihren industriefreundlichen Ansichten sehr eng. Mit dem Gelsenkirchener Oberbürgermeister Frank Baranowski sitzt ein mächtiger Strippenzieher im RVR, der bevor Hannelore Kraft letztendlich Ministerpräsidentin wurde als ihr Kronprinz vorgesehen war. Die Ruhr-SPD hatte sogar einen Eon-Funktionär zum zukünftigen Direktor des RVR küren wollen, bis dieser aus gesundheitlichen Gründen selbst zurückzog.

Das rot-grüne Düsseldorf versucht die Wogen des zerstrittenen Reviers nun zu glätten und verfasst gemeinsame Erklärungen. „Das Verfahren ist noch völlig offen“, so der frühere IGBCE-Sekretär und heutige SPD-Fraktionsführer Norbert Römer. „Wie bekommen wir die Kuh jetzt noch vom Tisch?“, fragt hingegen ein führender SPD-Genosse aus dem Revier. Denn allen Beteiligten ist klar, dass eine Änderung des Planungsrechts nunmehr schwerlich zu stoppen ist.

Schon einmal ist Rot-Grün in Düsseldorf an einem Industrieprojekt beinahe gescheitert: Ende der 1990er Jahre haben die Grünen letztlich für das Braunkohlekraftwerk Garzweiler gestimmt und die Riesenbagger im Rheinland akzeptiert. Aber heute hat die Partei dreimal so hohe Umfragewerte wie damals und geht selbstbewusst in die Verhandlungen. „Die SPD hat keinen besseren Partner als uns“, sagt der Grüne Fraktionschef Reiner Priggen. Die Koalition im Revier am Kraftwerk scheitern zu lassen wäre eine „Irrsinns-Strategie.“