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Ein Fest für Boris (A-Seite)

Endlich ist es soweit. Heute, am 11. November 2010 erscheint das neue Album von Boris Gott „Es ist nicht leicht ein Mensch zu sein“. Es ist das dritte Album von Boris Gott und es könnte das große Ding werden. Zeit für eine LP-Rezension der etwas anderen Art. Mit einem iPod und meinem Moleskine begebe ich mich nach Amsterdam, um dort die nötige Ruhe zu finden, über die neuen Songs zu schreiben.

Ich schulde Boris mehr als nur einen Gefallen. Die neue LP liegt nun bereits seit mehreren Monaten auf meinem Schreibtisch. Und seit mehreren Monaten denke ich darüber nach, wie ich ihr wohl schreibtechnisch gerecht werden könnte. Immerhin markiert diese Platte einen neuen Approach. Waren die Vorgänger noch vom Blues und Folk geprägt, hat Boris Gott nun den Pop entdeckt. Er wollte immer schon dieses eine Pop-Album machen, hatte er mir damals am Telefon erzählt: fette Streichersätze, eingängige Synthie-Melodien und ausufernde Gitarrenflächen. Das Ergebnis kann sich hören lassen. Songs wie „Mutter“ oder „Niemandsland“ schreien quasi nach Hot Rotation. Der absolute Wahnsinn. Wie immer hat Boris alles selbst gemacht: vom Texten und Komponieren, übers Arrangieren und Aufnehmen, bis hin zu Promotion, Booking und Distribution. Es dürfte schwierig werden, sich gegenüber dem gut geschmierten Räderwerk der Musikindustrie durchzusetzen, aber eines ist bereits nach dem erstmaligen Hören der neuen Songs ganz gewiss: dieses Album hat einen berechtigten Anspruch auf eine Chart-Platzierung. Es ist das Ergebnis einer Jahre andauernden Weiterentwicklung aus Flow, Fleiß und Impetus. Und auch die Texte kaprizieren sich nicht länger auf das Bukowski-Moment der Dortmunder Nordstadt, sondern greifen tief hinein in die urbanen Beziehungskisten, in die Höhen und Tiefen des Großstadtlebens sowie ihre Gleichzeitigkeiten. Zwischen Brunsbüttel und Barcelona schreit sich Boris das Herz heraus nach Liebe, um schließlich zu dem Ergebnis zu kommen: Ich bin ein Hippie, ich brauch Peace.

In den letzten zwei Jahren hat sich unter Journalisten der Trend durchgesetzt, mit Boris Gott durch die Dortmunder Nordstadt zu laufen und zwischen Hartz IV, Büdchen und Wegbier das Wesen seines Werkes anhand der sozialen „Randständigkeit“ dieses Kiezes zu ergründen. Der letzte Text, der so verfuhr, wurde von Barbara Underberg exklusiv für die Ruhrbarone gebloggt: „Gott wohnt in der Nordstadt – Ein Portrait von beiden“ – eine zauberhaft ehrliche Hommage, die ich mit großer Begeisterung gelesen habe. Jedoch werden diese regionalen Portraits dem Musiker nicht länger gerecht. Zwar lebt Gott immer noch in der Nordstadt, aber längst hat sich sein Horizont erweitert. Nach wie vor ist es ihm ein wichtiges Anliegen, gegen jegliche Art von sozialer Ausgrenzung anzusingen, doch seinen Status als Lokalmatador hat der Liedermacher mit dem heutigen Erscheinen der neuen LP hinter sich gelassen. Deshalb habe ich mich für Amsterdam entschieden. Das Kiffer-Paradies an der Amstel ist die europäische Metropole der Jugend dieser Welt, gleichsam sagenumwoben und mit weitreichenden Tabus belegt, kurzum: die urbane Blaupause zur Popkultur. Amsterdam gilt als anrüchig. Immer wieder wird vor den großen Gefahren dieser Stadt gewarnt: „Migrationsprobleme“, Drogen, Prostitution, Mord und Totschlag. –  Die diskursiven Parallelen zur Dortmunder Nordstadt sind evident. Irrationale Ängste werden geschürt, um die Welt in ein totalitäres Irrenhaus zu verwandeln. – Es ist nicht leicht ein Mensch zu sein. Aber dass es leicht wäre, hat auch nie jemand behauptet.

Bahnhofs-Blues

Das Ist Der Alte Dunkle Bahnhofs-Blues

Das Ist Der Ganze Scheiß Durch Den Ich Muss

Ich Geh Den Weg Allein, Nackt Und Zu Fuß

Hurra! Hurra! Ich schreib ne Platte. Aber warum eigentlich zum Auftakt der Karneval-Saison? Oder ist es etwa ein Zufall, dass die neue Gott-Scheibe am 11.11. auf den Markt kommt? Komisch, wir haben nie darüber gesprochen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Boris Gott Karnevalist ist. Eigentlich überhaupt nicht. Weshalb also der 11.11.? Etwa wegen der Schönheit der Zahlenkombination? Während ich meine Sachen für die Reise packe – eine frische Unterhose und ein paar von den 50-Euro-Scheinen, die auf meinem Bücherregal liegen – klicke ich mich bleiläufig durch Wikipedia und komme schließlich drauf. Dreimal in der Geschichte kann mit dem 11.11. ein direkter Bezug zur der neuen LP von Boris hergestellt werden: Im Jahre 1572 entdeckte der dänische Astronom Tycho Brahe im Sternenbild Kassiopeia einen neuen Stern, der sich später als Supernova herausstellen sollte. Aha, klingt schon mal genial, aber es geht noch besser: 1842 wurde in drei Gasthöfen Pilsens, erstmals in der Geschichte des Bieres, Bier nach Pilsner Brauart ausgeschenkt. Und schließlich veröffentlichte Hans Christian Andersens am 11.11.1843 sein Märchen vom hässlichen Entlein. Und gerade diese Gegensätzlichkeit vom süßen kleinen Entlein, das so hässlich ist, beschwor Boris ja immer in seinen Songs, besonders wenn es um die Dortmunder Nordstadt ging. Darauf ein Pils und dann die Supernova. – So, genug geblödelt. In vierzig Minuten geht mein Zug. Schnell noch die neue Gott-LP auf das iPod gezogen, mein Moleskine eingepackt und es kann losgehen. Nur weg hier. Im November stinkt die ganze Stadt nach Scheiße, man merkt es gleich, wenn man das Haus verlässt. Ja, die Stadt hat nach dem geplatzten Cross-Border-Leasing-Deal ihr Kanalsystem von den Amerikanern zurückerhalten, allerdings ist die Stadt pleite und der Geruch, der besonders am Abend im Innenstadtgürtel ausgesprochen enervierend werden kann, lässt Böses ahnen. Irgendwann wird uns hier alles um die Ohren fliegen, es ist nur noch eine Frage von wenigen Jahren. Es wird gut tun, für ein paar Tage aus Bochum herauszukommen.

108,00 Euro zahle ich für die ICE-Strecke Duisburg/Amsterdam und zurück, was ungefähr dem Wert zweier Abendgagen im Ruhrpott entspricht. Im Grunde sollte man als Liedermacher hier gar nicht mehr auftreten. Wer einmal in München oder gar in der Schweiz gespielt hat, der weiß, was es heißt, für seine Kunst bezahlt zu werden. Der weiß, warum Sophie Hunger beim Aufstehen nach Vanille und nicht nach Schweiß riecht. Hier kann man als Musiker ohne Hartz IV kaum überleben und ich bin froh, dass ich noch über andere Talente verfüge, die mir einen relativen Wohlstand garantieren. 50 Euro Gage! – Wenn ich das schon höre. Früher hieß es: Wer tanzen will, muss die Musik bezahlen. Heute heißt es: Komm mach doch mit bei unserem lustigen Slam, kannste frei saufen. Wie hält der Boris das eigentlich aus? Ich mein, der hat sich ja schon voll asketisch zurückgeschraubt: trinkt nicht, raucht nicht, isst zuhause und stemmt dann auch noch die Produktion seiner Platten. Einfach irre. Aber wenn sich eine ganze Region gegen einen wendet, hat man eigentlich nur eine Chance: man muss sich für sich selbst entscheiden. Dass Boris dabei so viel Zuversicht und Liebe ausstrahlt, lässt mich immer wieder wundern. Er lebt hier gerne. Ich hingegen lebe hier nur aus der perversen Lust heraus, den schleichenden Untergang zu beobachten, die Schmierenkomödie des Kulturhauptstadtjahres, die um sich greifende Ignoranz und Eitelkeit. Zwanzig Romane könnte ich schreiben voller Zynismus, Wut und Verzweiflung, allein wenn ich an die vielen Toten der Duisburger Loveparade und die Ignoranz der Verantwortlichen denke. Sorry, aber für einen Liebesroman hat es hier echt nie gereicht. Wie anders ist dagegen Boris. Woher nimmt er bloß diese Stärke? Boris Gott ist ein Künstler der Liebe und der Zuversicht. Ich hingegen bin ein Künstler der „différance“. Boris Gott wird man eines Tages in der Dortmunder Nordstadt ein Denkmal errichten. Ich hingegen werde mir eines Tages eine Kugel durch den Kopf jagen. Und so grausam das auch klingen mag, so finde ich all das doch super. Nein, nichts daran ist unfair. Jeder sollte eben so machen, wie er kann und muss. Hauptsache der Output bleibt dabei authentisch. Doch in seiner Philanthropie wird mir Boris immer ein Rätsel bleiben. „Schreib doch mal ein Liebeslied“, sagte er neulich im Tonstudio zu mir, als ich mal wieder versuchte, den Punk neu zu erfinden. – Ein Liebeslied! Ein gottverdammtes Liebeslied!!!

Dortmunder Bahnhofs-Blues oder Glamour?

Der Regional-Express bringt mich von Bochum nach Duisburg. Der Anschluss ist so bescheuert, dass der ICE gerade weg ist und ich kotzen könnte, da um diese Uhrzeit die Verbindung gen Amsterdam Centraal nur alle zwei Stunden geht. Ich hab eigentlich schon jetzt keinen Bock mehr auf diesen ganzen Scheiß. Man will was für die Umwelt tun, und zum Dank wird man von der Bahn permanent gefickt. Was soll das? Was soll ich denn jetzt mit meiner Zeit anfangen? Etwa mir am Zeitungsstand stundenlang Pornos anschauen, wie dieser gestrandete Alkoholiker in diesem Boris-Gott-Song? Oh, mon dieu! Fin de siècle ante portas. – Kleiner Zeitcheck: 10.40 Uhr, viel zu früh für ein erstes Bier. Brrrh. Vielleicht ein kleiner Snack. Wenn ich die nächsten zehn Jahre überleben will, sollte ich mir überhaupt das Frühstück wieder angewöhnen. Also los jetzt.

Während ich mit einem Coffee-to-go und einem widerlichen Aufback-Croissant mit Käse-Schinken-Füllung versuche, mir die Zeit zu vertreiben, betrachtet mich Mario Barth von dieser riesigen Plakatwand neben der Bahnhofsuhr. Mario macht in diesem Monat Werbung für Media Markt und läutet somit gleichsam das Weihnachtsgeschäft ein. Es ist so eine fürchterlich sexistische Werbung, die sich, wie immer bei Mario, hinter einem halbinfantilen Augenzwinkern zu verbergen versucht. Was denkt sich so ein Mensch eigentlich, wenn er einmal mit sich alleine ist? Dass er ein Player sei? Ein Künstler sogar? Dass sein Wirken auf dieser Erde etwa von irgendeiner Bedeutung wäre? Damals in Berlin machte er bei Siemens eine Ausbildung zum Telekommunikationsanlagen-Elektroniker, danach absolvierte er eine sogenannte Schauspielausbildung. Ist heutzutage Marios Angst etwa so groß, dass er gar nicht anders kann, als jeden Fick-Job anzunehmen? Hehe. Aufmerksamkeitsdefizit in der Kindheit und so, haha. Hat endlich den Respekt von seinem Pappi bekommen, hehe. Als Dummschwätzer, haha. Hat nur manchmal diese Stimmungseinbrüche, hehe. – Ach, wie ist das herrlich! Kurzer Realitätsabgleich und schon geht es wieder. Warum war ich eigentlich den ganzen Morgen so scheiße drauf? Wieso musste Boris die Platte mit so einem kaputten Song wie dem Bahnhofs-Blues eröffnen? Heute ist ein großer Tag. Ein Tag der Freundschaft. Noch einen Coffe-to-go und eine Selbstgedrehte, dann wird der ICE schon kommen.

T.H.E.O. (Nirgendwo ist Lodsz)

Sitz Ich Auch Im Dunkeln

Ist Mir Kalt Und Fehlt Das Licht

Weiß Ich Doch, Dass Es Rockmusik

Und Liebe Für Mich Gibt

Vor dem permanenten Taubentiefflug im Duisburger Hauptbahnhof flüchtet man sich am besten auf den Bahnsteig, Gleis 13, Richtung Amsterdam. Coole Leute hier: bekiffte Studentinnen mit riesigen Jack-Wolfskin-Rucksäcken, Dreadlock-Hipster, die HipHop-Fraktion, dazwischen immer wieder Businesstypen und verliebte Sightseeing-Pärchen ab fünfzig. Großartig. Es gibt Augenblicke, da liebe ich alle Menschen. Nur komisch, wie das immer wieder kippt. Hat das was mit meinem Vaterkonflikt zu tun, oder ist es das Leben im Kapitalismus überhaupt? Echt keine Ahnung: alles gelesen und alles erlebt und doch bin ich da keinen Schritt weitergekommen. Warum schleicht sich da ständig diese Verachtung ein? So denke ich, und verachte mich selbst dabei, wegen dieser fürchterlichen Hippie-Attitüde. Vielleicht hätte man in den 90ern weniger feiern sollen. Vielleicht… Da kommt auch schon der Zug.

So fahren wir. Kein WLAN ab Emmerich, dafür jetzt das flache Land. Wehe wenn die Gletscher schmelzen. Wolfheze crossing Autobahn. Die ersten Windmühlen. Ein Paradies für Pferde, nur dann und wann ein Wohlstandgefälle. Jetzt aus dem Kopfhörer: „Theo, nirgendwo ist Lodsz.“ Postmorderne Architektur: Westermeijer Group. Magerkrankes Pastellterzett. Die kühle Blonde liest weiter Paul Auster. Ich bestimme ihr Alter anhand ihrer Haut. Zwei Gabbas Richtung Rotterdam. Bereits nach einer Stunde: weißes Rauschen Wolkenhein, Haus aus Zack samt Kufe, verzettelte Industrie gleitstrommastenrhythmisiert. Schafe da didi dada, da die Raumverdichtung. Ciscobuilding, Ankunft in zehn Minuten. – Es ist immer wieder das gleiche erhebende Gefühl, wenn man in Amsterdam einfährt, egal ob man dem ICE oder mit dem Auto kommt. Ich kann mich noch erinnern, wie ich mit Natalie vor einigen Jahren über die Autobahn gekommen bin. Wir hielten Händchen als wir den Zubringer verließen und aus den Boxen dröhnte „Black Star“ von Radiohead, wir hatten während der Fahrt die ganze LP gehört. Ich hatte das mit Liebe verwechselt, aber das Gefühl war dasselbe gewesen. Später befürchtete ich, nie wieder Radiohead hören zu können, ohne an die Falschheit, ja an die Krankheit unserer Gefühle zueinander erinnert zu werden. Aber Blödsinn – Radiohead war viel stärker, als es dieser Irrtum jemals hätte sein können. Oder etwa nicht? – Sicherheitshalber klicke ich Boris auf dem iPod kurz weg und wechsle zu dem File mit der The-Bends-LP. Der erste Song „Planet Telex“: anschwellendes Rauschen, Synthie-Zucken, Gitarrengewitter und dann die Stimme von Tom York – nein, da ist gar nichts mehr von ihr. Glück gehabt.

Es ist schon erstaunlich, wie nah Amsterdam liegt. Man ist von Bochum aus viel schneller dort als etwa in Hamburg oder Berlin. Und doch wirkt die Stadt viel weiter entfernt. Es ist diese libertäre Atmosphäre, die Amsterdam in der Vorstellung dem Ruhrpott so weit entrückt. Und vielleicht irrt Boris an dieser Stelle, denn für mich ist hier Lodsz. Für jeden gibt es ein Paradies auf dieser Welt. Man muss es nur suchen, oder besser noch: vor der eigenen Haustür für paradiesische Zustände sorgen. „Woanders ist es auch scheiße“ – diesen fürchterlichen Satz, den sich Frank Goosen anlässlich der Ruhr.2010 aus den Fingern gesaugt hat, sollte man sich nicht zu eigen machen. Diese selbstgerechte Bierärschigkeit ist in mehrfacher Weise anstößig. Denn es ist ja nicht so, dass versucht wird, die vorgefundenen Strukturen lebenswerter zu gestalten. Im Gegenteil wird versucht, an dieser sogenannten Scheiße zu partizipieren, sich in diesen fürchterlichen Strukturen einzurichten und diese somit zu verfestigen. Das jedoch hat mit Kunst überhaupt nichts zu tun. Gerade der Pop-Kultur war auch immer ein Umbauplan zur Welt immanent. Komisch, dass so ein erfolgreicher „Pop-Autor“ wie Frank Goosen das nicht weiß oder eben nicht wissen will. Trotzdem wollen wir ihm alles Gute wünschen. Er sei ja soeben in den Aufsichtsrat des Vfl Bochum gewählt worden, wie mir Kurti am Tresen des Zachers erzählte… Genug davon.

Langsam fährt der ICE in den Bahnhof ein. Mit dem Blick auf die Amstel erhebe ich mich von meinen Sitzplatz. Es ist ein Sonnentag im November. Großartig. Irgendwann sollte ich hier einmal mit Boris ein paar Tage verbringen. Vielleicht könnten wir sogar produktiv werden. Die „Amsterdam-Tapes“ und so. Schön low-fi ins Handy reingesungen und dann im Netz verschenken. Fertig. Wir werden sehen…

Tanz Auf Dem Vulkan

Bereits am 27. Oktober veröffentlichte Boris den Song „Tanz auf dem Vulkan“ als kleinen Vorgeschmack auf das kommende Album. Einen Monat zuvor hatte er mich angerufen und gefragt, welchen Song er zur ersten Singleauskopplung nehmen sollte. „Mutter“, hatte ich ihm geraten, aber auf keinem Fall „Tanz auf dem Vulkan“. Nun ja, zumindest kann man nicht behaupten, dass Boris meinem Musikgeschmack nicht vertrauen würde…  Ich frage mich, ob ich heute wirklich kiffen sollte. Man muss doch nicht unbedingt kiffen, nur weil man in Amsterdam ist, oder? Besonders ich sollte das nicht. Ansonsten würde ich nämlich wieder anfangen, mit imaginären Hunden zu kommunizieren, kryptische Gedichte zu schreiben und auf irgendwelchen Discotoiletten die sexuelle Revolution nachzuspielen. Na ja, das lässt sich spontan entscheiden, denke ich, als ich langsam vom Stationsplein Richtung Oosterdok schlendere, um mich auf der Vertigo einzuchecken. Das Boot-Hostel gehört zu meinen größten Amsterdam-Entdeckungen. Billiger geht es nicht, schöner kaum. Der Kapitän heißt Konrad und kommt aus Bochum. An Bord sind meist junge Franzosen. Die Kojen sind sauber und das Frühstück könnte nicht großzügiger sein: Pindakaas, Honigkuchen, Hagelslag und so. Durch Zufall entdeckte ich die Vertigo im letzten Herbst in dieser verregneten Nacht, nachdem man mich ausgeraubt und zusammengeschlagen hatte. Ich dachte erst, ich hätte einen Lungenriss, weil ich die ganze Zeit Blut hustete, aber dann war alles doch nur halb so schlimm. Auch hatte ich noch ein paar 50-Euro-Scheine in meinem Gürtel versteckt. Ich wusch mir auf einer Kneipentoilette am Leidseplein das Blut aus dem Gesicht und trank wegen der Schmerzen im Brustkorb eine Flasche Genever. Dann rauchte ich im Rokerij ein paar Haze-Joints wegen des Kopfwehs und machte mich anschließend auf die Suche nach einer Bleibe für die Nacht, denn eigentlich hatte ich geplant, an diesem Abend Amsterdam zu verlassen und bereits im Rembrandt Hotel ausgecheckt. Stundenlang war ich durch Regen und Kälte geirrt, bis ich schließlich am Oosterdok auf die Boot-Hostels gestoßen bin. Irre. Was war ich glücklich, als ich schließlich in der Koje lag. Naturgemäß schaukelte das Boot bei Wellengang und auch spuckte ich noch ein bisschen Blut, aber ich wusste, dass mir diese Geschichte niemand mehr nehmen konnte. Seitdem checke ich immer, wenn ich in Amsterdam bin, auf der Vertigo ein. So auch heute. Konrad freut sich immer, wenn ich komme. Zuallererst muss ich mit ihm ein paar Heineken in der Kapitänskajüte trinken und ihm das Neuste aus Bochum erzählen. Heute erzähle ich ihm von meiner Gott-Mission und er will natürlich sofort das neue Album hören. Ich spiele ihm auf meinem iPod den Bahnhofs-Blues vor. „Geile Scheiße“, sagt Konrad. „Das ist ja richtig aus’m Leben.“ Er bestellt gleich vier CDs bei mir, und ich verspreche, ihm diese zu schicken, sobald ich von meiner Mission zurückgekehrt bin. Konrad ist wirklich großartig. Wir sind sogar vom selben Gymnasium geflogen, dieser befickten T.K.S. in Bochum-Linden. Und auch wenn Vera immer behauptet, dass Korrelationen noch lange keine Kausalität ergeben, so weiß ich doch insgeheim, dass all das kein Zufall sein kann. Irgendetwas ist da draußen, das mich stets den geilen Geschichten entgegentreibt, oder ist es etwa irgendetwas in mir? Noch als ich ganz klein war, hatte ich mir gewünscht, einmal ein wildes und gefährliches Leben zu führen. Mittlerweile gehe ich auf die Vierzig zu und kann auf ein wildes und gefährliches Leben zurückblicken. Ich wurde nicht enttäuscht. Und auch wenn ich mal so richtig auf die Fresse bekomme, weiß ich doch, dass es Rockmusik und Liebe für mich gibt. Ich hab halt eine Tendenz zum Glück, daran können auch keine gebrochene Nase oder ausgeschlagene Zähne etwas ändern. Und das ist genau das, was ich meinen Fans immer wieder sage: Wer was erleben will, der darf sich nicht hängen lassen. Wenn ich kann, spiel ich mit vollem Einsatz und ich habe noch nie verloren. Vielleicht mal das Herz, aber auch nur, um den Neuanfang umso mehr genießen zu können. – Jesus, was bin ich nur für ein geiler Typ.

So langsam mache ich mir echt Sorgen. Diese LP-Rezension nimmt so sonderbare Wendungen an. Eben erst habe ich eingecheckt. Es ist noch nicht viel passiert, aber wenn ich jetzt auch noch meine Amsterdam-Runde drehen sollte, läuft das Ganze Gefahr vollständig aus dem Ruder zu laufen. Boris könnte echt sauer werden. Ich mein, der hat ja fast zwei Jahre an seinem neuen Album gearbeitet und jetzt komm ich daher und hole mir auf seine Songs einen runter, so als hätte er das Album allein für mich aufgenommen. Ich mach mich voll zum Ginsberg-Arschloch. Aber was soll ich tun? Ich kann halt nur so. – Besser ich rufe ihn noch einmal an, um wirklich sicher zu gehen, dass er mir hierfür nicht die Freundschaft kündigt:

„Hey, Mr. Pepper.“

„Ey, Boris, ich bin jetzt in Amsterdam und zieh das durch.“

„Wovon sprichst Du?“

„Die Platte.“

„Du meinst die CD?“

„Richtig.“

„Gut. Mach mal.“

„Nee, nix gut. Das wird total scheiße. Ich dreh schon wieder total ab und gleich werde ich bestimmt auch noch Drogen nehmen.“

„Lass die Drogen doch einfach weg.“

„Ach, Boris…“

„Hey, ich vertrau dir. Mach einfach.“

„Und Du bist nicht sauer, wenn ich die ganze Zeit nur so ne Scheiße schreibe?“

„Ach, Pfeffer, mach einfach und schick mir den Link. Ich freu mich drauf.“

„Echt?“

„Echt.“

„Na gut, dann schreib ich einfach weiter.“

„Gut. Du, ich muss jetzt weiter machen, ist grad ziemlich stressig hier…“

„Ok, ich meld mich wieder.“

S.C.H.L.U.S.S.

Before the Goldrush

So, dann will ich mal meine Runde beginnen. Es ist immer die Gleiche: vom Oosterdok die Prins Hendrikkade Richtung St. Nicolaaskerk hinauf. Großzügig den Red Light District mit all diesen zugesoffenen Hooligan-Touristen umgehen und schließlich am Anfang der Singelgracht das erste Matjesbrötchen auf die Hand. Gleich zwei Filialen der wichtigsten Coffee-Shop-Ketten befinden sich hier: The Bulldog und das Rokerij, wobei The Bulldog die bessere Auswahl hat, wie etwa Bubblegum Kush oder das hauseigene Bullshark. Doch leider ist der Laden zu erfolgsverwöhnt. Vorgedrehte Joints gibt es hier nur im 5er-Pack – was soll man damit? Joint kaufen, Joint rauchen – so geht der Deal. Fürchterlich, wenn ich die Kids sehe, die sich für 50 Euro Weed einpacken lassen. Worum sollte man in Amsterdam mit mehreren Gram Gras entlang der Grachten wanken? Das zieht doch nur Unheil an. Wenn man Bock hat, geht man einfach in einen Shop und raucht sich einen Joint. Fertig. Aber ich bin ja nicht zum Kiffen gekommen, sondern zum Musikhören. Den großen Kick sollte ich mir für die B-Seite aufbewahren. Es wäre zu früh, jetzt schon mein Urteilsvermögen zu manipulieren, schließlich geht es hier um meinen Freund Boris und sein neues Album.

So schreite ich durch eine verlassene Seitenstraße zur Herengracht, meiner Lieblingsgracht. Das Karma des Baujahres 1613, respektive 1664 hat sich hier noch lange nicht ausgehaucht. Große geile Giebelhäuser drohen umzufallen, sind schräg und krumm erbaut. So will man meinen. Für ein paar Meter schwankt man mit. Der Schwindel und die Angst davor, ein ewiges Sehnen und Verlangen. Vor der sich kreuzenden Raadhuisstraat fällt es mir wieder ein: hier hatten wir uns das letzte Mal geküsst. Und dass jetzt ausgerechnet Boris‘ „S.C.H.L.U.S.S.“ aus meinem iPod in die Kopfhörer drückt, macht die Sache nicht einfacher. Es ist der Song, der beim ersten Hören des neuen Albums den größten Eindruck bei mir hinterlassen hatte. Spätestens ab „S.C.H.L.U.S.S.“ hatte ich verstanden, dass es hier um Pop geht. Der Song könnte glatt als Liquido-Nummer durchgehen. Aber da war noch etwas, das zu mir sprach und mich letztendlich überzeugte, über dieses Album schreiben zu müssen. Es war diese Montage aus Blumfeld-Zitaten im Rückkopplungs-Intermezzo. Einfach irre. „Immer wenn Jochen zu mir spricht.“ – Dasselbe hatte ich in meinem Ruhr.2010-Blog „A local Hero’s Diary“ geschrieben. Diese nachhaltige Beeinflussung von Jochen Distelmeyer, die nunmehr die Passagen unserer Sprachlosigkeit auf eine enervierende Weise zwar mit schönen, doch letztendlich fremden Worten ausfüllt. Genau das hatte ich beschrieben. Und Boris hatte ein paar Kilometer weiter in der Dortmunder Nordstadt gesessen, die Gitarre in der Hand und genau dasselbe gedacht. Absolute Gedankenübertragung. Ich glaub eigentlich nicht an so eine Scheiße, aber Wow! – was soll ich sagen… Vielleicht ist es ein bisschen so wie John und Yoko damals beim großen Sleep-in im Hilton an der Apollolaan mit Blick auf den Amstelkanaal. Oder wie man bei uns im Ruhrpott sagt: Zwei Doofe, ein Gedanke. – Wie schön wäre diese Erinnerung jetzt, wenn ich bei diesem Song nicht zwangsläufig auch an Natalie denken müsste. Ich schalte den iPod aus, doch es ist schon zu spät, der Rhythmus der Trauer hat mich bereits umfangen. Der Schwindel ist zurückgekehrt. Ich halte mich an dem Geländer der Gracht fest, atme tief durch und summe:

You can force it but it will not come

You can taste it but it will not form

You can crush it but it’s always here

You can crush it but it’s always near

Ja, und da ist sie wieder. Verdammt. Jetzt bin ich doch noch in die Radiohead-Falle gelaufen. Doch weiß ich, dass dieses Epiphanie-Erlebnis von ephemerer Natur sein wird. Nur ein Augenblick, nur ein ganz kleiner Schmerz, dann ist es wieder vorbei.

Es hatte damit begonnen, dass ich Kopfschmerzen bekam. Kopfschmerzen über Wochen, bald Zitteranfälle und Schwindel. Da wusste ich, dass es zu Ende geht. Ich hatte das Alphabet ihrer Körpergerüche solange einstudiert, bis ich mit ihm Gedichte schreiben konnte. Wie Hunde, die sich gegenseitig den After beschnuppern. Es war Poesie und es sollte ein ganzer Zyklus werden, aber ihr permanentes Vor- und Zurückweichen hatte mir bald jeden Flow eigener Hebung und Senkung genommen. Allein ihren Rhythmus der Trauer nahm ich noch wahr. Ich hatte mich angesteckt, doch war ihr Leiden nicht von dieser Welt. Der Schwindel und das Zittern wurden täglich stärker. Bald konnte ich nicht mehr schreiben, keine Gigs mehr spielen, ja selbst das Aufstehen viel mir schwer. Doch je mehr ich schwankte, desto stärker hielt ich mich an ihr fest. Ganz sicher wäre ich gestorben, wenn sie sich nicht schließlich erbarmt hätte. Sie sprach: „Das ist das Ende und ich kann nichts mehr tun. Ich hebe die Hände, denn wir sind am Ende.“ Fortan waren der Schwindel und das Zittern verschwunden. Schier unglaublich, aber genauso ist es geschehen.

Sonnenschein (Amstel-Remix: A Blogging-Love-Affaire)

Ich begann, besser auf mich aufzupassen. Ich hatte eine intellektuelle Liebe gesucht und eine Blogging-Love-Affaire gefunden, so denke ich, während ich weiterhin entlang der Herengracht promeniere, konzentrisch um die Altstadt Amsterdams herum. Denn als Vera begonnen hatte, über mich zu bloggen, war Natalie schnell vergessen gewesen. Auf einmal hatte ich da eine Feindin im Netz. Von Anfang an war mir das unheimlich gewesen. Jeder konnte ihre Beschimpfungen in ihrem Blog lesen. Mit der größten ihr zu Verfügung stehenden Leidenschaft schrieb sie, ich sei ein homosexueller Junkie, das ewige Kind und dabei völlig vom Testosteron getrieben, einfach ein Arschloch und so weiter und so fort. Ein großer Hate-Speech-Approach eigentlich, aber leider immer noch irgendwo im Tante-Emma-Land verfangen. Trotzdem hatten sich die Funken bei mir verfangen. Worauf wollte diese Vera eigentlich hinaus, fragte ich mich alsbald immer dringlicher. Schließlich rief ich sie an und gab ihr ein Date. Wir trafen uns im Zacher und ich sagte frei heraus, dass ich ihre Schreibe ausgesprochen geil fände, warnte aber vor dem Moralisieren, forderte mehr Dialoge und bat sie letztlich, meinen Namen aus ihren Schweinereien rauszuhalten. Sie dürfe ruhig weiter über mich bloggen, müsse mir aber ein Pseudonym geben, damit mein Ruf nicht allzu sehr unter ihren sexuell aufgeladenen Mädchenphantasien leide. D’accord. – Sie sah hinreißend aus.

Auch über dieses Treffen bloggte Vera. Es ist ein wundervoller Text geworden: Erst macht sie sich selbst so ein bisschen heiß, schreibt wie bitchy sie sei, richtig irre drüber, wegen der scheiß Typen und so. Es folgen vulgäre Kontemplationen über das Fernsehen, Spielkonsolen, chemischen Drogen, seltsame Printmedien und das Ficken. Alles super borderline. Schließlich beschreibt sie unser Treffen im Zacher. Carsten Marc Pfeffer wird in ihrem Text jetzt nur noch „Er“ genannt – Dritte Person Singular, maskulin. Kurzum: ich war zu dem Mann in ihrem Leben geworden. Und das war genau diese Art von krasser Scheiße, der ich noch nie widerstehen konnte. Hat vielleicht mit meiner Punk-Sozialisation zu tun oder so. Besonders mit der Schlusspassage ihres Textes hatte sich Vera direkt in mein Herz eingeschrieben:

„Auf dem Heimweg hallt nach, was Er gesagt hat: In meinem Wolkenkratzer gibt es keine Fahrstühle, kein 73. Stockwerk, wo man sich aus dem Fenster stürzen kann. Wenn man des Hinaufsteigens müde wird, ist man im Arsch. Es ereignet sich nichts Neues. Es sind immer dieselben alten Geschichten, die von immer neuen Menschen erlebt werden. Wir sind Uhren ohne Zeiger und Schuhe ohne Bänder. Ich rede immer von meiner Freiheit und meine nur meine Angst vor einer Liebe, die größer werden könnte als mein Egoismus. Das Ergebnis des heutigen Tages: 3 Tannenzäpfle und fünfmal Sambuca. – Alles bezahlt, bis es Liebe wird.“

Ja, sie hatte mich wirklich dort abgeholt, wo ich mich eingerichtet hatte, in meiner Melancholie, meiner Verzweiflung und in meinem Herzschmerz. Was für ein Wahnsinn. Ich begann mich mit Vera regelmäßig zu treffen, ich zog regelrecht in ihr Leben ein. Es war ja schon Herbst geworden und allgemein konnte man beobachten, dass die Menschen näher zusammenrückten. Ich mag das, wenn Frauen Pullover tragen, dunkelblaue Jeans in cognacfarbenden Stiefeln und so. So wurden wir die besten Freunde. Und ich werde es ihr wohl noch sagen müssen, dass ich sie liebe. Doch sie liest das hier ja sowieso, was wirklich irre krass ist. Was so irre krass ist, dass mir der Tastendruck des Netbooks über meine Fingerspitzen direkt in den Schwanz fährt. Und während ich all das hier schreibe, denke ich fortwährend: Baby, ich blog dich. Baby, ich blog dich.

Niemandsland

Nach mehrmaligem Hören der LP ist „Niemandsland“ mein absoluter Lieblingssong geworden. Zuerst war mir dieser gewaltig inszenierte Euphemismus peinlich gewesen, besonders das Rumpelstilzchen-Zitat und dieser Kinder-Chor am Ende. Doch plötzlich fuhr ich voll darauf ab. Mag sein, das liegt daran, weil ich so fürchterlich verknallt bin. Aber umso besser, denn genau hier liegt der Schlüssel zu dem Song: Lebensbejahung, Glück und Zuversicht. – Das volle Boris-Gott-Wohlfühl-Paket. In diesem Song entfacht sich sein großes Talent, denn die Textzeilen sind ja durchaus nicht positiv belegt. Im Gegenteil wird am Zustand der Welt nichts beschönigt. „Jeder weiß es: this is nowhere“ – allein der Groove verrät bereits, dass am Ende alles gut wird. Nicht etwa wegen der Welt, sondern aus der eigenen Zuversicht heraus. So wird das zitierte Niemandsland zum nicht markierten Projektionsort der großen Wünsche, zum „Wir-Revier“, denn allein machen sie dich ein. Doch wird hier mehr beschworen als das kleine private Glück. Denn in der Abgrenzung zur deprimierenden Gegenwart, wird diese gleichsam immer wieder eingeholt. Auch die Welt muss sich verändern, wenn wir glücklich werden wollen. Diese Art von privater Global-Strategie ist schließlich dem Status des Liedermachers selbst angemessen. Boris Gott ist auf dem Sprung. Im Gitarrenkoffer: der Umbauplan zur Welt, die Liebe und die Zuversicht. In „Niemandsland“ kulminieren die großen Erregungsfelder, die Boris in den letzten Jahren energetisch aufgeladen hat. Ein Song, der über sich selbst hinaus wächst. Dieser fürchterlich kitschige Synthie-Ausbruch nach dem Rumpelstilzchen-Zitat nivelliert den Kitsch als solchen, kraft seiner kompromisslos affirmativen Sendung. Deshalb funktioniert es. Es ist die Kompromisslosigkeit, die Unnachgiebigkeit der Güte, der verheißende Kinderchor die logische Konsequenz: Pop as Pop can be. – Das muss Boris erst einmal einer nachmachen.

Ich freue mich. Bald schon werde ich das Mellow Yellow an der Vijzelgracht erreicht haben. Das Gelb der Giraffe, ein Bananen-Shake, der großartige Star-Wars-Flipper… – Dort werde ich Station machen und mich auf die B-Seite vorbereiten. Noch 6 Songs und ein Hidden Track. Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Scheiße nochmal, was bin ich glücklich…

So. Hier endet die A-Seite. Wann kommt die B-Seite? Keine Ahnung, aber ganz sicher noch bevor Boris und ich am 3. Dezember das Rottstr.5Theater in Bochum rocken werden. Bis dahin gibt es für Euch viel zu tun: kommt am 13. November zur Release Party ins FZW in Dortmund, kauft das neue Album von Boris Gott und lernt alle Lieder auswendig, damit Ihr am 3. Dezember lauthals mitsingen könnt. Es ist nicht leicht ein Fan zu sein, aber keine Angst – Gott ist bei Euch, drückt einfach auf PLAY.

Literaturnobelpreisträger Günter Grass im Interview: „Die Geldelite verhält sich asozial“

Ich habe kürzlich Günter Grass in Karlsruhe zu einem Interview getroffen. Es war ein ausgesprochen interessantes Gespräch, in dem wir sowohl über Literatur als auch über Politik sprachen. Grass bekannte, dass er sich nach der Veröffentlichung seines jüngsten Buches Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung „leergeschrieben“ fühle. Er denke zwar jedes Mal, dass es sein letztes Buch gewesen sei, „dieses Mal aber ist es, glaube ich, eine von mir zu recht angestellte Vermutung, dass ich nicht mehr die Zeit haben werde, an ein langwieriges episches Konzept heranzugehen.“ Das Ende des Lebens fürchte er aber „überhaupt nicht“. Er habe nie gedacht, dass er einmal 83 Jahre alt werde. „In diesem Alter ist jeder Tag, jedes Frühjahr ein Geschenk.“

Auch der unvermeidliche Thilo Sarrazin und seine Thesen zu integrationsunwilligen Migranten waren ein Thema unseres Gesprächs. Der Nobelpreisträger grenzte sich entschieden von seinem (Noch-) Parteikollegen ab. Vielmehr noch als muslimische Integrationsverweigerer seien die Parallelgesellschaften der Reichen in Deutschland ein gewichtiges Problem. „Sich nach amerikanischem Muster in bewachten Wohnbezirken abzuschotten, dort sein Eigenleben zu führen und die Konten ins Ausland zu verlagern – meines Erachtens ist das asozial.“

(…) Seitdem, Herr Grass, mischen Sie sich ein und ergreifen nach wie vor unermüdlich Partei für die Demokratie. In Grimms Wörter kritisieren Sie zum Beispiel, dass in der Bundesrepublik Grundrechte schwinden und unsere Verfassung zunehmend in Gefahr gerät. Woran genau machen Sie diese Tendenz fest?

In der Verfassung heißt es, dass die vom Volk gewählten Abgeordneten unabhängig sind. Tatsächlich aber verlässt kein wichtiges Gesetz unseren Bundestag, ohne dass die Lobby ihren Einfluss geltend gemacht hätte – sei es die Atom-, Pharma- oder Hotellobby. Diese Einflussnahme beschädigt unsere Verfassung grundlegend. Man darf sich nicht wundern, wenn sich immer mehr Wähler fragen, ob es überhaupt noch Sinn macht, zur Wahl zu gehen und sich mit politischen Prozessen auseinanderzusetzen.

Der politische Diskurs in der Bundesrepublik wird seit mehr als zwei Monaten maßgeblich von Thilo Sarrazins Aussagen über muslimische Zuwanderer bestimmt. Viele Bürger sind ihm dankbar dafür, dass er endlich ein Problem thematisiert habe, das die Politiker zu lange totgeschwiegen hätten. Wie stehen Sie zu den Thesen dieses Sozialdemokraten?

Ich verfolge diese Debatte mit großem Überdruss. Thilo Sarrazins Analyse, warum es mit der Integration nicht klappt, mag zum Teil richtig sein, durch seine biologistischen und vulgärdarwinistischen Einlassungen aber werden sie entwertet. Zudem kann ich im Gegensatz zu Sarrazin nicht erkennen, was problematisch daran sein soll, wenn Einwanderer Teile der Kultur ihrer Eltern behalten.

Das allein wird von Sarrazin nicht als problematisch bezeichnet. Was er beklagt, sind jene 10 bis 15 Prozent Integrationsverweigerer, die in einer Parallelgesellschaft leben.

Diese Ausnahmen von der Regel gibt es, kein Zweifel. Zugleich aber lebt die sogenannte Geldelite Deutschlands in einer Parallelgesellschaft. Sich nach amerikanischem Muster in bewachten Wohnbezirken abzuschotten, dort sein Eigenleben zu führen und die Konten ins Ausland zu verlagern – meines Erachtens ist das asozial.

In Wahrheit also sind es die Superreichen, die – um in Sarrazins Diktion zu bleiben – Deutschland abschaffen?

Ich will diesen Kreisen nicht die Kraft zusprechen, dass sie dazu in der Lage wären. Mir kommt es lediglich darauf an zu sagen, dass auch die Geldelite in einer problematischen Parallelgesellschaft lebt. Es wird mit zweierlei Maß gemessen. Die einseitige Fokussierung auf Integrationsdefizite der Muslime finde ich bedenklich, das unentwegte Beschwören des christlichen Abendlandes unerträglich.

Warum?

Die Geschichte des Abendlandes ist durch und durch blutig. Das ist für uns kein großes Ruhmesblatt. Ohne die Vorarbeit muslimischer Gelehrter wäre die Renaissance in Europa nicht denkbar.

Diese Hochzeit der islamischen Kultur gab es unstrittig, doch seitdem scheint es in vielen Bereichen eine Art Stillstand zu geben…

… und auch unzählige Muslime bedauern, dass sie anders als Europa den Prozess der Aufklärung nicht gehabt haben. Aber wenn wir mit uns ehrlich sind: Ist die Aufklärung bei uns ganz und gar angekommen? In Spanien steht die Trennung von Staat und Religion auf der Kippe, in Polen ebenfalls, und von Italien mag ich gar nicht erst reden. Bevor wir diese Trennung von den Muslimen immer wieder einfordern, sollten wir erst einmal vor der eigenen Tür kehren. Gegenwärtig wird die Integrationsdebatte in einem Ton geführt, den ich unsäglich finde – insbesondere in Bayern.

Sie spielen auf Horst Seehofer an, der einen Stopp muslimischer Zuwanderer forderte, obwohl die Bundesrepublik schon allein aus demographischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen ist.

Ja, und um es ganz deutlich zu sagen: Ich halte Thesen dieser Art für hochgefährlich. Um den Beifall von bestimmten Schichten zu erhalten, bedient Horst Seehofer eine Art von Fremdenfeindlichkeit, die in Deutschland schon immer einen Nährboden hatte. Und die Kanzlerin…

… die Seehofer in seiner Forderung nach einem Zuwanderungsstopp beipflichtete und das Projekt Multikulti für tot erklärte…

… sagt mal dies und mal das. In ihrer Position wäre ein klares Wort notwendig gewesen. Stattdessen richtet sie sich mal nach dem und dann wieder, wenn es ihr gerade nutzt, nach jemandem wie Herrn Seehofer.

Ist das das Dilemma einer Kanzlerin, die sowohl die Forderungen der CSU als auch der FDP berücksichtigen muss, ohne den Markenkern ihrer eigenen Partei zu vernachlässigen?

Nein. Das ist das Dilemma einer Kanzlerin, die über keine Strategie verfügt. Eine solche Konzeptlosigkeit wird früher oder später vom Wähler abgestraft (…)

Das Interview erschien, in anderer Version, zuerst auf Cicero Online.

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Update: Die Kunst des Scheytterns

Oliver Scheytt, Geschäftsführer der RUHR.2010 GmbH, Foto: Ralf Schultheiss

Verzweifelt sucht Oliver Scheytt, der Geschäftführer der Ruhr2010 GmbH, nach einer beruflichen Perspektive für die Zeit nach der Kulturhauptstadt. Sein neuer Plan: Er will die Klima-Expo für das Ruhrgebiet organisieren.

Es geht immer weiter. Irgendwie. Und natürlich: Es ist blöd wenn man nicht weiß wie. Kennen wir alle. Und so geht es Oliver Scheytt. Sein Kollege, Kulturhauptstadt-Direktor Dieter Gorny, ist da schon weiter: Der hat mit dem Europen Center für Creatice Economy  (ECCE) ein Rettungsboot für sich und die Seinen gebastelt. Aber das ist nur für die Gorny-Gang und zu der gehört Scheytt nicht.

Also sucht Scheytt nach Alternativen für sich und die böse Zeit nach  dem Ende der Ruhr2010 GmbH. Vor ein paar Monaten wollte er sich zum Chef einer Kulturgesellschaft für das Ruhrgebiet machen. Das wollte aber niemand.

Heute hat er dem Kulturausschuss des Ruhrparlaments einen auch von Fritz Pleitgen unterschriebenen Brief, der uns vorliegt, eingereicht. In demschlägt er vor  seiner Ruhr2010 GmbH die Klima-Expo zu überlassen. Er warnte davor, dass der RVR sich bei diesem Projekt an die Spitze setzt – was dem natürlich zusteht.

Auch auf Partner will Schyett zugehen. Zum Beispiel auf den Initiativkreis Ruhr. Die wollen aber gar nicht mit Scheytt zusammenarbeiten und sind von seinem Versuch, sich auch ihr Projekt Innovation City unter den Nagel zu reißen nicht amüsiert.

Update: Der RVR kann sich auch eine Zukunft ohne Scheytt vorstellen. Und der wird  ab 2012 freiberuflich tätig sein, wie er uns mitteilte.

Wer verübte das Ketchup-Attentat auf Duisburgs OB-Sauerland? Das Interview mit dem Attentäter

Der Rheinhauser Sozialarbeiter Rolf Karling, der auch mal als Kameramann in Kriegseinsätzen tätig war, bespritzte heute Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) mit Ketchup. Aus Protest gegen Sauerlands Verhalten nach der Loveparade. Gerade habe ich mit Rudolf Karling gesprochen.

Rolf Karling: Ketchup für Sauerland
Rolf Karling: Ketchup für Sauerland

Her Karling, Glückwünsche wären nicht statthaft – aber irgendwie kann ich klammheimliche Freude nicht verhehlen.

Karling: Wobei ich persönlich nicht stolz auf die Aktion bin. Ich konnte nur nicht anders: Der OB hat ja bislang alles nach der Loveparade ignoriert, ich wollte ihn halt symbolisch treffen.

Wie war der Ablauf der Aktion?

Heute hatte der OB einen Außentermin zur Einweihung des neuen Marktplatzes in Duisburg-Rheinhausen, da wohne ich um die Ecke. Ich habe also der Lokalpresse Bescheid gesagt – kommt mal vor Ort, es wird ein paar gute Bilder geben.

Bilder von Ketchup, die wohl das Blut symbolisieren sollen, das aus Ihrer Sicht am Duisburger OB wegen der Loveparade klebt.

Ich habe eigens Kinderketchup genommen, nichts Scharfes, nichts mit Curry oder Pfeffer, ich wollte den OB natürlich nicht verletzen.

Seit er wieder Termine in der Bevölkerung macht macht, wird Duisburgs OB Sauerland von Pfeif- und Sprechkonzerten begleitet.

Das wird auch meiner Sicht bis zu seinem Rücktritt so bleiben. Die Stadt ist immer noch von den Folgen der Loveparade traumatisiert.

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Post von Dieter Gorny

Dieter Gorny, ECCE

Die Betreiber des Blogs Unruhr haben Post von Dieter Gorny bekommen. Gefreut haben sie sich nicht.

Unruhr ist sicher eines der besten Blogs des Ruhrgebiets, wenn es um Pop-Musik geht. Und vor ein paar Tagen bekamen die Macher Post von Dieter Gorny. Besser: von seiner Kollegen-Versorgungsanstalt mit dem imposanten Namen „European Center for Creative Economy“ (ECCE). Die Lebenserfahrung sagt einem ja, dass hinter so einem Namen immer aufgeblasener Quark steckt, für den die Steuerzahler blechen müssen, um ein paar Nieten davor zu bewahren, sich auf dem Arbeitsmarkt begeben zu müssen. Das sehen die Kollegen von Unruhr wohl ähnlich:

Menschen wie Dieter Gorny oder Bernd Fesel geht es gar nicht um die Kreativen oder Menschen hierzulande. Nein. Sie wollen Strukturen schaffen, Kopfgeburten umsetzen und ihre Idealmodelle endlich realisiert sehen. Die einzigen, die dabei stören, sind wir, die wir das alles anders machen woll(t)en.

Sie haben über ECCE und den Brief von Dieter Gorny einen Text geschrieben. Und der ist toll. Bitte lesen.

Update: auch wir von den Ruhrbaronen haben den Gorny-Brief bekommen. Aber direkt weggeworfen. Weil sich das ECCE mit der Werbung versucht, einen Resonanzboden zusammenzustoppeln. Sprich: wenn sich Kreative auf den Brief melden, wird ECCE in Zukunft so tun, als würde es für die Kreativen im Revier sprechen. Das ECCE wird Fördermittel im Namen der Kreativen einfordern und Mitsprache-Rechte. Damit will Gorny politische, nicht durch Wahlen, sondern allein durch Postwurfsendungen legitimierte Macht. Als nächstes werden Beiträge eingefordert und dann ein Kreativparlament. Er will damit sein ECCE als Konkurrenz und Kopie zur IHK aufbauen. Die hat auch keine Wahlbeteiligung vorzuweisen und spricht doch für die Wirtschaft in Deutschland.

Davon ab, war der Brief unsagbar schlecht. Auf miesem Papier seitenlang, eng bedrucktes Geschwurbel von Kowi-Komikern. Unlesbarer Schund. Wahrscheinlich von Kommunikations-Amateuren wie Fesel, der auch Millionen für das Lab2010 verballern darf.