Wie wird die SPD wieder sexy?

Es gibt Aufgaben, die man sich nicht aussucht. Nie würde ich auf die Idee kommen, Einsteins Relativitätstheorien mit der Heisenbergschen Unschärferelation vereinen zu wollen. Aber nicht immer kann man sich solchen Herausforderungen entziehen.

Und dann klingelt das Telefon und Uwe Knüpfer, der frischgebackene Chefredakteur des SPD-Magazins Vorwärts, ist dran. Ich wollte mich gerade dafür entschuldigen, dass ich ihm nicht wie versprochen die Telefonnummer von Martin Kaysh  geschickt habe, weil ich seine aktuelle E-Mail-Adresse nicht kenne, da fragt er mich: „Wie macht man die SPD wieder sexy?“. Mein Herz setzte aus und meine Kippe fiel in den Fußraum meines gerade über die A42  rasenden Opels. Ein paar Nahtoderfahrungen später frage ich nach: „Sie wollen von mir wissen, wie man die SPD wieder sexy machen kann?“ Fröhlich bejahte Knüpfer seine Frage und wir verabredeten, dass ich darüber etwas schreibe.

Und hier nun Antwort auf die Frage: Die SPD wird nie wieder sexy sein. Und wenn sie das auch nur versucht, macht sie sich lächerlich. Ein paar Anläufe der Reerotisierung der Partei gab es ja: In den 90ern die Anzeigenkampagne mit einem schwulen „Love-Juso“ auf Rollerskates. Und dann noch den Techno tanzenden Oscar Lafontaine auf irgendeinem Juso-Kongress. Das Video suche ich regelmäßig auf Youtube, um die Anhänger der Linkspartei auf den Ruhrbaronen demütigen zu können – bislang leider  vergebens.

Ich kann die SPD ja verstehen – irgendwann einmal in den 70er Jahren fühlte man sich auf der Höhe der Zeit: Willy Brandt Buttons steckten an den Parkas irgendwelcher Frauen, die aussahen wie Uschi Obermaier und an den Parkas irgendwelcher Männer, die aussahen, als ob sie lieber Haarwuchsmittel als Bier trinken würden.

Damals war die SPD natürlich groovy. Irgendwie. Und wer die Zeit als Sozialdemokrat mitbekommen hat, wird sie sich vielleicht zurückwünschen. Aber malt die Erinnerung auch hier nicht mit goldenen Lettern?

Die Konflikte um den Radikalenerlass, den Ausbau der Kernenergie und nur wenig später der Nachrüstung sorgten dafür, dass die SPD kurz darauf  ihren Status als Zeitgeistpartei verlor. Genosse Trend war ausgetreten. Viele der  Männer mit der Vorliebe für Haarwuchsmittel wechselten zu den Grünen. Wo die Frauen, die wie  Uschi Obermaier aussahen, geblieben sind, wird wohl noch Generationen von Historikern beschäftigen.

Der damals begonnene Fall der SPD konnte bis heute nicht gestoppt werden. Die Grünen und die spätere Linkspartei nahmen der SPD in nicht unerheblichem Maße Stimmen ab. Viele einstige Stammwähler blieben bei Wahlen einfach zu Hause. Die Begeisterung für die SPD schlug zum Teil in ein kaum zu erklärendes Maß an Verachtung um. Ich kenne einen heutigen Landtagsabgeordneten der Linkspartei, der schon über die SPD herzog, als er noch für Jahre ihr Mitglied sein sollte. Er hatte der Partei und ihrer Politik alles zu verdanken: Die Möglichkeit, das Abitur nachmachen zu können, das Studium auf einer Gesamthochschule, die Umwandlung des Graduierten-Abschlusses in ein Diplom und den späteren Job im Kulturamt einer Kleinstadt – lukrativ und wenig anstrengend. Seine Mittagspause – eine halbe Stunde von zwölf bis zwei, wie er uns Schülern augenzwinkernd erklärte – nutze er, um vor dem Tschibo-Kaffeeausschank in der Fußgängerzone jedem zu erzählen, was für ein elender Haufen die Sozialemokratie doch sei. Ich hielt ihn für undankbar.

Begeisterung ist für eine Partei ein süßes Gift. Ein Blick in Niccolo MachiavellisDer Fürst“ – das dünne Bändchen sollte seinen Platz auf dem Nachttisch jedes Realpolitikers haben – reicht aus, das Problem zu erfassen:

Und die Menschen nehmen weniger Anstand, Einen, der sich lieben macht, zu beleidigen, als Einen, der sich fürchten macht; weil die Liebe an einem Bande hängt, das, da die Menschen schlimm sind, auf jeden Anlaß des eignen Nutzens zerrissen wird; hingegen die Furcht hängt fest an einem Schrecken vor Strafe, welches dich niemals verläßt.

Lassen wir mal die Furcht beiseite, zeigt sich bis heute, dass der Florentiner Politikberater sein Handwerk verstand. Und ersetzen wir die Furcht mit all ihren beschriebenen Konsequenzen durch den Verstand, sieht man, wohin die SPD gehen muss:

Sie muss ihren Wählern klar machen, dass es ihnen mit ihr besser geht,  als wenn andere Parteien regieren. Und sie muss es aushalten, dass immer einer kommt, der, wie die Linkspartei, das Blaue vom Himmel verspricht. Ja, die Linkspartei hat Fans. Auf ihren Parteitagen geht es zu wie auf einem Phil Collins-Konzert: Alte Menschen tragen lächerliche T-Shirts und fühlen sich wie 20jährige. Das ist schön für sie. Aber wenn die Party zu Ende ist, werden sie es zu schätzen wissen, dass da jemand ist, der sich um die Kostenerstattung für die künstliche Hüfte und die Therapie des Bandscheibenvorfalls kümmert. Und zwar nicht in einer fernen, utopischen Welt oder auf Cuba sondern heute Nachmittag in Wanne-Eickel.

Wenn die SPD diese Partei ist, wird sie keine Probleme haben. Es geht nicht um Sex, es geht nicht um den idealistischen Rausch. Es geht um Vertrauen – und sei es um das Vertrauen, mit der SPD das kleinere Übel zu wählen. Auch diese Stimmen zählen.

Den Menschen zu erklären, dass man sich für ihre Bedürfnisse einsetzt und das mit Augenmaß, Ernsthaftigkeit und Vernunft ist das Gegenteil von sexy. Aber wer möchte Lady Gaga als Kanzlerin haben? Oder Oscar Lafontaine?

Und vor allem ganz einfach das Marketinggeschwätz vergessen: Partei als Marke, sexy, Ich AG, Teams für Arbeit  und all diesen Quatsch. Das Schlimmste an der Agenda 2010 war  diese Sprache. Die Menschen fühlten sich für dumm verkauft. Der Kern der Agenda ist übrigens für die SPD ein guter Grund, stolz zu sein. Für die Versuche, sie den Menschen zu erklären, muss sie sich allerdings schämen.

Wird die SPD damit wieder zu ihrer alten Größe zurückfinden? Natürlich nicht. Diese Zeiten sind vorbei – für beide Volksparteien. Die Gesellschaft ist unübersichtlicher und vielschichtiger geworden. Analysen darüber gibt es genug. Ich persönlich halte das für einen Fortschritt. Und 30 Prozent der Wählerstimmen sind auch noch eine ganze Menge. Und das ist drin. Manchmal sogar vielleicht noch mehr. Auch in Zukunft.

Natürlich reicht leidenschaftsloses Vertrauen der Wähler alleine nicht aus. Eine Partei lebt von ihren Mitgliedern – und davon, immer neue Mitglieder binden zu können. Ein großes Problem sind die Ortsverbände.  Sie schrecken Neueinsteiger ab, die sich engagieren wollen. Vorträge von Handwerkern, Streuselkuchengelage und ab und an eine halbverbrannte Bratwurst auf einem Sommerfest – damit begeistert man niemanden. Da muss man sich etwas einfallen lassen: Mehr Arbeitskreise, in denen Politik zumindest auf lokaler Ebene direkt mitbestimmt werden kann, wären eine Lösung. Mitgliederbefragungen, Vorwahlen, Online-Foren, virtuelle Ortsverbände und vieles mehr müssen verstärkt genutzt werden. Nicht alles wird klappen. Die Menschen, die wissen wie das geht, hat die SPD. Ein paar kenne ich. Ihr Wissen und ihr Engagement sollte genutzt werden. Auch wenn sie nicht unbedingt sexy sind…

Wattenscheider Schule: Ein Schauspieler und ein Journalist ziehen in die Welt…

Wattenscheider Schule live Foto: Matthäus Dolibog

Max beklagte in einem Kommentar die Lieblosigkeit im gestrigen Text über die Wattenscheider Schule. Er mag in der Tendenz Recht haben. Denkt man, wenn man den Text liest. Ein Schnellschuss. Stefan Laurin ist kein Kulturkritiker. Das war ein grandioser Abend am Mittwoch in der Rottstraße. Nach kleinen Vorpremieren gab es die Wattenscheider Schule erstmals bei einem Heimspiel, das immer als Auswärtsspiel zählen wird, im Herzen der Bochumer Innenstadt.

Schlange und Joswig, gebürtige Gesinnungswattenscheider, erzählen die Geschichten aus dem Revier und bereisen aus dem Revier heraus die Republik. Reportagen sind das angeblich, so sehen diese Stories auf den ersten Blick auch aus. Faktensicher, in der Zeit und mehr der Wahrheit als der Wirklichkeit verpflichtet, stehen sie dabei ganz nebenbei in der Tradition von Egon Erwin Kisch, der die Wirklichkeit gerne mal der zu erzählenden Wahrheit unterordnete. Wenn ab Neujahr von der Nachhaltigkeit der Ruhr.2010 wenig übrig geblieben sein wird, werden die Reportagen der Wattenscheider Schule weiter zu lesen sein. Man kann nur hoffen, dass es sie auch weiter zu hören gibt. Wenn sich Koloniebewohner, Taubenväter, Stahlkocher und Bergleute endgültig verabschiedet haben, wird der Kern des Ruhrgebiets übrig bleiben: Haltung.

Das Duo ist genial, nicht nur bei den Lesungen, die nie die erzählenden Typen hinter den Texten verstecken. Ein Schauspieler und ein Journalist ziehen in die Welt und setzen sich den Absonderlichkeiten des modernen Lebens aus, bleiben stets Außenseiter, Loser, auch oder gerade in der Masse. Dazu wenden sie wirkungsvoll einen simplen Kunstgriff an, der nun mehr Schauspiel ist als Journalismus. Das Duo Bastian Schlange und Patrick Joswig inszeniert das Duo Schlange/Joswig. In ihren Texten umgehen sie das reporteronkelhafte: “Wir… betreten den Raum”, wenn der Schreiber eigentlich sich meint, aber um jeden Preis das peinliche “Ich” vermeiden will, und verfallen auch nicht in das nicht weniger dumme “der Berichterstatter schaut verwundert”, um eine leere Hülle der Objektivität vorzutäuschen. Sie schreiben von sich in der dritten Person, aber diese beiden Dritten sind fein und genau gezeichnet, irgendwie tölpelig, versoffen oder verkatert, zumindest vollkommen verpeilt. Das leben sie nicht nur im Außen-, sondern auch im Binnenverhältnis aus. Mal trägt der eine zum Ärger des anderen die nützlichen langen Unterhosen beim Auswärtsspiel der SG Wattenscheid, mal zeigt einer sich als Festivalprofi (“Jesus Freaks”) und packt die rettenden Flipflops ein. Und wechselseitig hilft man sich bei alkoholgeschuldeten Aussetzern weiter. Was da im einzelnen Pose und was Geschehenes ist, bleibt uns Zuhörern verborgen. Egal. Wichtig ist die Story, denn, das wusste schon Alfred Polgar: “Geschichten werden niemals richtig erlebt, nur manchmal, sehr selten, richtig erzählt.” Das tun die Beiden.

Erstaunlicherweise entsteht gerade aus ihrer charmanten Deppenperspektive der klare Blick des inszenierten Außenseiters. Das ist ein alter Comedian-Kunstgriff: “be vulnerable”, sei angreifbar, verwundbar. So funktioniert Komik. Journalismus ist eher das Gegenteil.

Die Wattenscheider interessiert die Masse, und auch hier steht, scheinbar widersprüchlich, der Außenseiter im Fokus. Sie fahren mit der SG Wattenscheid im Linienbus zum Auswärtsspiel statt in der Schalker Nordkurve zu stehen, besuchen die Jesus Freaks statt beim Hurricane abzuhängen und betreten die absonderliche Welt des Halterner Prickinghofs, wo andere Disneyland ansteuern würden. Entsprechend ist das Personal der Reportagegeschichten, eher abwegig, seltsam, verloren. Über die Schönen und Reichen der Republik sollen andere schreiben, die aus Frankfurt kommen, oder aus Düsseldorf.

Das großartige Label der “Wattenscheider Schule” scheint weniger Gag als berechtigte Einordnung. Komisch wie die Neue Frankfurter Schule, Pop wie die Hamburger Schule und Philosophie wie die Mutter aller Schulen, die Frankfurter. Wer das Reporterduo ergründen will, schaue nur einmal in Siegfried Kracauers “Ornament der Masse”.

Kritik soll auch sein, gerne. Vor Veröffentlichung sollte an seine Texte noch einmal gegenlesen lassen. Es sind Winzigkeiten. So gibt es zu Bauer Ewald eben keine Butter-, sondern Kaffeefahrten, beides ist beileibe nicht synonym. Ein Jungsozialist würde im SDAJ-Pfingstcamp nicht viel Freude haben, gemeint ist auch ein junger Sozialist. Das sind Lächerlichkeiten, da zuckt der Klugscheißer kurz beim Zuhören. Wirklich schade ist, dass Joswig und Schlange manchmal ihren Texten nicht trauen. Der schmierige Kellner vom Prickingshof etwa muss nicht auch noch “menschenverachtend” gucken. Der Text hat uns längst verraten, was dort geschieht. (Dieser Absatz sollte vor allem der Glaubwürdigkeit der Kritik dienen, bewahrt er doch den Lehrsatz: Nie mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit der Guten.)

Der Rezensent hat alle drei Lesungen der Jungs nüchtern mitbekommen. Er hat jedes Mal in den vermeintlich bekannten Texten Neues entdeckt. Jede Lesung war besser. Am Mittwoch mussten wir die Veranstaltung leider kurz vor Schluss verlassen, es gab noch eine Geschichte zu erleben in Dortmund.

Mieterforum Ruhr gegen THS Privatisierung

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die RAG-Stiftung die RAG in ihre Einzelteile zerlegt. Auch die Wohnungsbaugesellschaft THS könnte dann einen neuen Besitzer bekommen. Und das macht dem Mieterforum Ruhr Sorgen.

10 Milliarden muss die RAG-Stiftung zusammen bekommen, um die Ewigkeitskosten des Bergbaus zu stemmen – und selbst das wird wahrscheinlich nicht reichen. Um das zu erreichen, muss sie verkaufen was sie hat: Evonik. Der Mischkonzern besitzt eine Chemieunternehmen (Degussa) betreibt Kraftwerke (Steag) und ist einer der größten Immobilienbesitzer Deutschland: Evonik-Wohnen und THS. Das passt alles nicht zusammen und ist in seinen Einzelteilen wertvoller als als Konzern. Für einen Börsengang keine gute Aussichten. Also zerschlagen.

Einige Stadtwerke des Ruhrgebiets planen bei der STEAG einzusteigen, die Chemiesparte wird man verkaufen oder einzeln an die Börse bringen können – bleiben die Wohnungsbauunternehmen.

Sowohl Evonik-Wohnen als auch THS haben einen großen Teil ihres Bestandes in der Emscher-Lippe-Zone – der unattraktivsten Region des Ruhrgebiets. Wegzug und niedrige Mieten bestimmen hier das Bild auf dem Immobilienmarkt. Die Perspektiven sind schlecht. Wer kauft sowas? Jemand der schnell Kasse machen will und die Bedeutung des Wortes Investition erst einmal im Wörterbuch nachschlagen muss. Das haben in den vergangenen Jahren die Erfahrungen mit Unternehmen wie Gagfah oder Deutsche Annington gezeigt, die ganze Siedlungen erworben haben. Man könnte eine Bibliothek füllen, mit den Skandalen rund um dieses Unternehmen.

Und dass die Geschichte der missratenen Privatisierungen weiter geht, ist die Sorge des Mieterformus Ruhr, einem Zusammenschluss von Mieterinitiativen aus dem Ruhrgebiet. Sie fürchten, das der Evonik-Anteilseigner CVC die THS übernimmt. Das machte das Mieterforum gestern in einer Pressemitteilung deutlich. Das Mieterforum fordert, das die THS bei der Stiftung bleibt:

Mieterforum Ruhr fordert, dass die Wohnungen dauerhaft bei der RAG-Stiftung und unter besonderem Einfluss von Land und IG BCE bleiben. Helmut Lierhaus, Sprecher Mieterforum Ruhr: „Nach den zahllosen negativen Erfahrungen mit Finanzgesellschaften auf dem Wohnungsmarkt ist es nicht zu verantworten, den wechselhaften Kapitalmarkt an einem Wohnungsunternehmen zu beteiligen, das sozial und ökologisch ausgerichtet sein soll. Es ist zwar positiv, dass IG BCE und RAG Stiftung, wo ein großer politischer Einfluss besteht, u.a. durch Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, im Boot bleiben wollen und auch ein Börsengang der Wohnungen ausgeschlossen werden soll. Mit einem „Wolf im Schafspelz“ im Wohnungsunternehmen bleibt die Beunruhigung bei den Evonik- und THS-Mietern aber bestehen.“

Und nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre haben die Mieter auch jeden Grund sich für den Fall, das CVC die THS übernimmt, Sorgen zu machen.

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Pinkwart lässt uns mit Papke allein

Oberster Ampel-Fan Andreas Pinkwart

Andreas Pinkwart war ein hölzerner Parteisoldat, der Studierenden als Wissenschaftsminister in Nordrhein-Westfalen viele Schulden eingebracht hat. Trotzdem war der Professor mit der immerwährenden Igel-Frisur eine wohltuende Ausnahme unter den dumpfen neoliberalen FDPlern im Lande

Nun sind die lautstarken Liberalen wieder unter sich: Der Vize-Chef der Liberalen Bund, Andreas Pinkwart, wird sich aus der Politik zurückziehen und zum 1. April 2011 die Leitung der Handelshochschule Leipzig übernehmen. Diese Aufgabe sei „zeitlich nicht mit herausgehobenen Parteiämtern zu vereinbaren“, sagte Pinkwart. Er wird auch den Vorsitz der NRW-FDP aufgeben. Damit verlässt ein Mann aus dem Hintergrund die politische Bühne, der einen leisen Gegenpart zum populistischen Parteichef Guido Westerwelle bildete.

Zwar bedauerte Westerwelle den Rückzug von Pinkwart am Donnerstag „persönlich sehr.“ Allzu groß ist die empfundene Trauer beim Chef-Liberalen aber sicherlich nicht: Pinkwart galt intern als aussichtsreicher Konkurrent für den umstrittenen Außenminister der FDP. Pinkwart ist der graue und seriöse Gegenentwurf zum grellen Guido Westerwelle. Die beiden waren lange Zeit aufeinander angewiesen, galten aber als herzlich entfremdet.  eine mit einer 80er-Jahre Igelfrisur, der andere mit gestyltem Haarschnitt, würden freiwillig zusammen ein Bier trinken. „Menschlich passte das gar nicht“, so ein Wegbegleiter von Pinkwart.

Auch auf nordrhein-westfälischer Landesebene prallten mit Pinkwart und NRW-Fraktionschef Gerhard Papke zwei unversöhnliche Strömungen aufeinander. Auf der einen Seite der beißende Populist Papke, der mit den Grünen nicht einmal in der Düsseldorfer Parlamentskantine gesehen werden möchte, und auf der anderen Seite der Modernisierer Pinkwart, der durchaus auch eine Ampel für möglich hielt. Als der Professor nach dem uneindeutigen Ergebnis der NRW-Landtagswahl vom 9. Mai eine Zusammenarbeit mit SPD und Grünen befürwortete, wurde er von Papke öffentlich zurück gepfiffen. Zwar fanden die Sondierungen zwischen den drei Parteien trotzdem statt, aber die Liberalen sprachen konsequent „mit zwei Stimmen“, erinnerten sich Teilnehmer. Die Gespräche scheiterten schließlich.

„Die beiden sind wie zwei Platzhirsche immer wieder heftig aufeinander getroffen“, sagt FDP-Landesvorstandsmitglied Stefan Romberg dieser Zeitung. Beide hätten seit Jahren um die Macht gerangelt. Nun hat die NRW-FDP nur noch eine wahrnehmbare Stimme: Die der neoliberalen Hardliner. Papkes Gruppe ließ schon in den ersten hundert Tagen der rot-grünen Minderheitsregierung keinen Zweifel daran, dass sie zu keiner Zusammenarbeit mit dem Kabinett von Hannelore Kraft (SPD) bereit sei. Pinkwarts Abgang zementiert nun die Regierung ohne eigene Mehrheit: Eine alternative Ampel ist mehr denn je ausgeschlossen.

Pinkwart hat den nach Jürgen Möllemanns Abgang und späteren Tod niederliegenden FDP-Landesverband wieder aufgebaut. Sein größtes Projekt als NRW-Wissenschaftsminister, die Autonomie der Hochschulen und die Studiengebühren von 1000 Euro pro Jahr, hat Pinkwart geschickt umgesetzt. Er lenkte die Wut der Studierenden über das kostenpflichtige Studium auf die Hochschulen, die selbst über die Höhe der Campusmaut entscheiden konnten. Und so protestierten die Studenten nicht vor dem Landtag sondern vor den Büroräumen der Rektoren.

Die rot-grüne Landesregierung wird nun den Pinkwart-Nachlass einkassieren und die Gebühren wieder abschaffen. Sicherlich hat Pinkwart das als Schmach empfunden. Aber der Düsseldorfer Landtag hatte für den Lebensabschnitts-Politiker ohnehin keine Zukunft parat: In aktuellen Umfragen dümpeln die NRW-Liberalen weit unter der 5-Prozent-Hürde bei drei Prozent herum.

Die abgewählte schwarz-gelbe Koalition von Jürgen Rüttgers ist nun auch personell Geschichte. CDU und FDP suchen augenblicklich beide einen neuen Vorsitzenden.

Noch mal Innovation City

Ich möchte noch mal ein paar Worte zum Streit um Formalien sagen. Wegen Innovation City. Warum? Nun, weil sich die Oberbürgermeister von Essen, Bottrop und Bochum darüber ärgern, dass Gelsenkirchen und Herten sich eben nicht an die Formalien bei der Bewerbung um Innovation City gehalten haben.

Innovation City ist ein Großprojekt im Pott. Der Innovationskreis Ruhrgebiet, der Zusammenschluss der wichtigsten Unternehmen in der Region, will eine Stadt gezielt aufmöbeln, um zu zeigen, was möglich ist, wenn man wirklich will. Das Projekt kann über eine Milliarde Euro an Investitionen für eine Gemeinde mobilisieren. Und das Projekt hat auch eine Zukunftschance. Wenn Innovation City funzt, kann das Vorhaben zum Motor werden für eine neue Weltausstellung im Ruhrgebiet, die unter dem Thema Klimastadt diskutiert und vom Gelsenkirchender SPD-Oberbürgermeister und Chef der Ruhr-SPD, Frank Baranowski, vorangetrieben wird. Eine fette, lohnende Sache also diese Innovation City für jeden Bewerber, der mitmacht.

Aber zurück zu den Formalien. Hertens Bürgermeister Uli Protest sagt, es sei „Kinderkram“, wenn man sich nicht an die Spielregeln einer Bewerbung hält. Schließlich gehe es nicht um die Form, sondern um die Inhalte. Gelsenkirchen und Herten hatten fast doppelt so viele Seiten wie erlaubt abgegeben, als sie ihre Bewerbungsschrift für die Innovation City abgaben.

Aber genau die Formalien sind der springende Punkt. Wer sich nicht an die Formalien hält kann mehr Inhalte bringen als die anderen, die sich an die Spielregeln halten. Und genau deswegen ist die Nummer mit den zuviel abgegeben Seiten kein Kinderkram.

Bochum, Bottrop und Essen mussten Projekte streichen, weil ihre Bewerbung sonst zu dick geworden wäre. Sie mussten die Entwicklungspotentiale von ganzen Stadtteilen weglassen, weil sonst das vorgeschriebene Format gesprengt worden wäre. Sie mussten weniger zeigen als sie hatten, um die Spielregeln einzuhalten.

Herten und Gelsenkirchen haben drauf geschissen und haben alles gezeigt, haben mehr Viertel mit aufgenommen als sie eigentlich konnten, haben mehr Projekte gezeigt, als eigentlich rein gepasst hätten in die Bewerbung. Sie haben sich also nicht konzentriert und fokussiert, sondern haben sich ergossen über viel mehr Seiten als erlaubt.

Damit haben Herten und Gelsenkirchen ihre Mitwettbewerber gleich zweimal betrogen. Einmal haben sie die Spielregeln gebrochen, an die sich alle in einem faireQn Wettbewerb halten sollten. Und dann werfen sie den Leute, die auf den fairen Wettbewerb pochen auch noch vor, dass ihre Proteste „Kinderkram“ seien, weil es ja schließlich um Inhalte ginge und nicht um Formalien. Ihre Inhalte sind aber nur oppulenter, weil sie die Regeln gebrochen haben und mehr abliefern als erlaubt.

Anders ausgedrückt meint Paetzel wohl: Ihr seit doch nur doof, wenn ihr euch an die Regeln haltet und eure Inhalte beschränkt, weil das die Regeln so fordern.

Diese Arroganz muss Folgen haben.

Pinkwart wird Ossi

Oberster Ampel-Fan Andreas Pinkwart

Er war neben Jürgen Rüttgers (CDU) der große Verlierer der NRW-Landtagswahl: FDP-NRW Chef Andreas Pinkwart. Jetzt verlässt er die Politik und wird Ossi.

Pinkwart  erklärte  seinen Rücktritt als Vorsitzender der FDP in NRW und als stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP. Sein Landtagsmandat gibt er im kommenden Frühjahr ab.

Eine verlorene Wahl und danach die Demütigungen durch die eigenen Leute, die Pinkwart nicht zum Fraktionsvorsitzenden wählten und seine Ampel-Avancen nicht mittragen wollten – das macht keinen Spaß und tut weh.

Den einstigen Wissenschaftsminister des Kabinetts Rüttgers zieht es zurück in di Wissenschaft. Pinkwart ist Professor für Volks- und Betriebswirtschaftslehre und wird zum 1. April eine Professur an der privaten Handelshochschule Leipzig (HHL) annehmen. Darauf einen Broiler.

Sag Nein zu den Jesus-Freaks

Joswig und Schlange hatten gestern im Rottstraßen Theater ihre Lesung. Wie es war? Gut natürlich.

Drei Stücke haben Bastian Schlange und Patrick Joswig aka Wattenscheider Schule gestern in der Rottstraße gelesen. Lange Reportagen, sprachmächtig und bildreich. Die Tour mit den besoffenen Fans der SG Wattenscheid 09 zum Auswärtsspiel nach Köln war eine harte Nummer. Nicht nur für die beiden, die fast auf die Nase bekommen hätten. Die Schilderung der Versuche diverser Wattenscheider in einem wackeligen Bus auf der Autobahn in eine Cola-Flasche zu pinkeln zeigten, dass Fantum eine harte Sache sein kann.

Und dann die Tour zum Prickingshof nach Haltern. Eine Kaffeefahrt, bei der Rentner wie Vieh über den Hof getrieben und ausgeplündert werden. Und sich auch noch darüber freuen, wenn ihnen irgendein pickeliger Schmierlapp  Matratzen andreht. Menschenverachtung pur.

Am Ende gab es den Bericht einer Tour zu einem Festival der Jesus-Freaks. Christliche Fundamentalisten, die sich wie übriggebliebene Hippies aus den 70ern geben und mit Jesus-Terror-Force-Shirts durch die Gegend laufen. Und sehr  unangenehm werden können. Abgründe des Wahnsinns taten sich auf.

Die Prickingshof- und die Jesus-Freaks Geschichte sind auch im nächsten Ruhrbarone-Print-Ding, das bald erscheint.

Über zwei Stunden dauerte die Lesung. Und anschließend ging es zur Aftershow-Party in den Intershop.

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100 Tage mindere Macht

Macht korrumpiert. Herrschaft verbiegt und verwandelt sympathische Personen in überhebliche Alleingänger. Warum die unsicheren Machtverhältnisse der rot-grünen Minderheitsregierung Parteien und ihre Politiker in NRW schon nach 100 Tagen verändert haben.

Früher kam es auf das Skatspiel an, wenn in Nordrhein-Westfalen Gesetze erlassen wurden. Der inzwischen verstorbene Landesvater Johannes Rau lud seine Genossen vor wichtigen Entscheidungen zum Kartenkloppen ins Hinterzimmer. Sein späterer Nachfolger Wolfgang Clement hielt die Diskussion um seine wahnwitzigen Projekte wie den Metrorapid gar für überflüssig und drückte sie gegen alle Widerstände durch – bis sie letztendlich scheitern mussten. Die Düsseldorfer Landesregierungen waren lange Zeit ein Biotop der Arroganz. Die in dieser Woche hundert Tage regierende rot-grüne Minderheitsregierung von Hannelore Kraft (SPD) hat dem Dünkel ein Ende gesetzt. Die mächtigste Frau im Land muss für jedes noch so kleine Gesetz – und sei es die Farbe der Polizisten-Uniform – um eine Mehrheit kämpfen. Sie benötigt immer eine Stimme oder Enthaltung aus der Opposition.

Gerade an Rhein und Ruhr mit der fast vier Jahrzehnte lang ungebrochenen Mehrheit für die SPD haben viele Genossen arrogant ihre Macht ausgeübt. „Die anderen“ wurden in Diskussionen gar nicht erst mit einbezogen, sämtliche Ämter vom Regierungspräsidenten bis zu den Bankern der Landesbank an SPDler vergeben. Und die CDU schien innerhalb ihrer kurzen Machtblüte der vergangenen fünf Jahre ähnlich selbstvergessen zu werden. Ex-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers konnte noch Wochen nach seiner krachenden Niederlage nicht einsehen, dass es keine Große Koalition unter seiner Führung geben wird.

Diese gestörte Selbstwahrnehmung hat das uneindeutige Wahlergebnis nun jäh zerstört. Die nach zähen Sondierungen gefundene Minderheitsregierung ist auf den Dialog angewiesen. „Das schützt auch ein bisschen davor, arrogant oder überheblich zu werden,“ sagt Grünen-Fraktionschef Reiner Priggen. Bei einem satten Vorsprung müsse man sich nicht um die Opposition bemühen. Ausgerechnet mit der Partei, denen noch im Wahlkampf absolute Unfähigkeit attestiert wurde, muss nun gemeinsame Sache gemacht werden. Längst sprechen alle Fraktionen mit der Linken, auch wenn CDU und FDP aus ihrer Ecke der Kalten-Krieger nur langsam hervorkriechen. Anfang Oktober hätte es den ersten von CDU und Linken gleichermaßen befürworteten Antrag zum den sozialen Wohnungsbau gegeben- wenn nicht sechs Christdemokraten, darunter Jürgen Rüttgers, der Abstimmung fern geblieben wären.

Aber dies war mehr ein organisatorischer Fehler als ein Boykott. Denn die potentielle Möglichkeit, bei Gesetzen Zünglein an der Waage zu spielen und so irgendwie doch Macht ausüben zu können, beschwingt auch die starre CDU. Erstmals hat ihr Fraktionschef Karl-Josef Laumann nun angekündigt, nicht mehr an der Hauptschule fest halten zu wollen. Eine Revolution in den Reihen der Konservativen. Aber wer bei der Schulreform mitspielen will, muss sich wenigstens ein bisschen auf dem Spielfeld der Macht bewegen.

Regieren mit wechselnden Mehrheiten ist langsam, auch das haben die ersten drei Monate gezeigt. So brüstet sich die Landesregierung zwar damit, bei bisher 59 Abstimmung im Landtag „keine einzige verloren zu haben“, so der SPD-Fraktionsvorsitzende Norbert Römer. Allerdings wurden viele Anträge in die Ausschüsse verwiesen – und die abgestimmten betrafen landespolitisch harmlose Forderungen wie nach einem Atomausstieg oder verbesserten Hochschulchancen für Frauen.

Die zentralen Wahlversprechen aber muss sich Rot-Grün noch hart erkämpfen. Die Linke will die Studiengebühren von 1000 Euro jährlich schon im Sommersemester statt zum Winterhalbjahr 2011 abschaffen und droht mit einem Nein. Die größte Reform aber, nämlich die Gemeinschaftsschule bis zur zehnten Klasse, will Kraft offenbar nicht im Landtag einbringen. Der neue Schultyp soll ohne Gesetz als Experiment eingeführt werden. Die Opposition ist empört. „Das Parlament wird ausgeschaltet und nicht ernst genommen“, sagt der parlamentarische Geschäftsführer der NRW-FDP, Ralf Witzel. „Und das nur, weil sie Angst vor einer parlamentarischen Niederlage haben.“ Letztlich aber gibt Rot-Grün ihre Entscheidung nach unten weiter. Nun entscheiden Kommunen und Schulen vor Ort, ob sie ihre Schulen zusammen legen wollen.

Die Opposition findet dies „unsäglich“ und will einen Volksentscheid gegen die Reform starten. Dann wäre die Minderheitsregierung nicht nur auf Stimmen aus der Opposition angewiesen, sondern auch auf die Zustimmung der Bevölkerung zwischen den Wahltagen. Auch dies ist neu an Rhein und Ruhr.