Auch nach der Räumung ist das DGB-Haus in Essen attraktiv für Kreative und alle, die was machen wollen.
Gut, die Verhandlungen zwischen Freiraum 2010 und der DGB Tochter VTG sind gescheitert. Dabei ist das DGB-Haus an der Schützenbahn eigentlich nicht schlecht. Es gibt keine Vermarktungsperspektive, es hat viele Räume und im Erdgeschoss ist Platz für eine Galerie und ein kleines Café. Der Bau ist gut zu erreichen, man ist in der Innenstadt. Vielleicht hätte man ja gar nicht auf bewährte Heißluftproduzenten wie Dieter Gorny bei den Verhandlungen setzen sollen. Der sprach mit der VTG – die Besetzer waren nicht dabei. Für Dieter Gorny gab es nichts zu holen. Die Gespräche scheiterten.
Es kann aber auch anders laufen: Man kann ja auch Druck auf den DGB ausüben und mit den Menschen reden, die den VTG-Chefs sagen, was sie zu tun haben. Ein lohnender Ansprechpartner wohnt sogar im Ruhrgebiet: Claus Matecki wäre da jemand, mit dem man mal reden könnte. Matecki sitz im Bundesvorstand des DGB und ist dort auch für die VTG zuständig. Matecki wohnt in Herdecke und stammt aus Wanne-Eickel. Wäre doch schön zu wissen, warum er es als Gewerkschafter und Sozialdemokrat gut findet, wenn ein Haus, für das es keine wirtschaftliche Perspektive gibt, vor sich hin gammelt. Und warum die DGB-Tochter gleich nach der Besetzung durch die Freiraum-Leute mit Räumung drohte. Nur eines sollte man Matecki ersparen: Sich mit Dieter Gorny abgeben zu müssen.
Großes kündigt sich an. Das erste Mal soll das Volk über ein technisches Großprojekt in Deutschland entscheiden. Und das ausgerechnet in Dortmund. Und ausgerechnet über den Flughafen. Das kündigt die lokale SPD an. Und die kontrolliert in Dortmund alles.
Der Paukenschlag könnte kaum lauter sein. Um Zustände wie in Stuttgart zu vermeiden, fordert der SPD-Fraktionschef Ernst Prüsse einen Bürgerentscheid über den Ausbau des Flughafens. Bislang war die defizitäre Betonpiste eine heilige Kuh in Dortmund. Jetzt stellt sich die SPD mit Prüsse an die Spitze der Bewegung und damit gegen den SPD-Oberbürgermeister Ulli Sierau, der bislang das teure Ding immer verteidigte.
Wir bei den Ruhrbaronen freuen uns über Dortmund 21. Lasst das Volk entscheiden, schließlich muss es auch jeden Tag rund 60.000 Euro für den Erhalt des Verlustbringers bezahlen.
Hier zunächst die vollständige Pressemitteilung von Prüsse zum Thema und anschließend die Stellungnahme vom Volksbegehren-Verein Mehr Demokratie.
Stuttgart 21 zeigt: die Menschen wollen über Großprojekte mitentscheiden. Beschlüsse über die Köpfe der Betroffenen hinweg werden nicht länger akzeptiert. Zahlreiche Parteien und Gruppierungen fordern deshalb eine Volksabstimmung über Stuttgart 21. Ihnen wird entgegen gehalten, dass es dafür zu spät ist, da alle Grundsatzentscheidungen bereits vor Jahren getroffen und Verträge geschlossen worden sind.
„Ich will keine Stuttgarter Verhältnisse in Dortmund. Deshalb möchte ich die Menschen frühzeitig über die Zukunft unseres Flughafens entscheiden lassen“, so SPD-Fraktionsvorsitzender Ernst Prüsse. „Darum fordere ich baldmöglichst eine Volksabstimmung über den Dortmunder Flughafen. Noch sind keine endgültigen Entscheidungen getroffen und Verträge geschlossen worden, noch stehen wir ganz am Anfang der Planungen. Deshalb ist jetzt der richtige Zeitpunkt.“
Prüsse will, dass alle wahlberechtigten Dortmunderinnen und Dortmunder anstelle des Rates über die Zukunft des Flughafens entscheiden. Nicht 96 Ratsmitglieder, sondern 450.000 Wahlberechtigte sollen darüber befinden, ob die Betriebszeiten des Flughafens verändert werden bzw. ob es eine Verlängerung der Start- und Landebahn geben soll.
Deshalb will Ernst Prüsse in der SPD-Fraktion und bei den anderen Fraktionen dafür werben, dass es einen sogenannten Ratsbürgerentscheid gibt. „Der Rat kann mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Zahl der Mitglieder beschließen, dass über eine Angelegenheit der Gemeinde ein Bürgerentscheid stattfindet (Ratsbürgerentscheid)“ heißt es dazu in § 26 der Gemeindeordnung NRW.
„Ich wünsche mir, dass der Rat in seiner nächsten Sitzung einen entsprechenden Beschluss fasst, damit baldmöglichst eine Volksabstimmung zum Flughafen stattfinden kann“, so Prüsse.
Abgestimmt werden soll, so die Vorstellung von Ernst Prüsse, getrennt über zwei Fragestellungen. Bei der einen Frage soll es um die Änderung der Betriebszeiten gehen, bei der anderen um den Ausbau der Start- und Landebahn. „Die Bürgerinnen und Bürger haben also zwei Stimmen und damit die Möglichkeit, differenziert abzustimmen.“
Zustimmen muss jeweils die Mehrheit der Abstimmenden; und diese Mehrheit muss mindestens 20% der Stimmberechtigten – also knapp 90.000 – ausmachen. „Die Frage ist in dem Sinne entschieden, in dem sie von der Mehrheit der gültigen Stimmen beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit mindestens 20 vom Hundert der Bürger beträgt.“ heißt es dazu in der Gemeindeordnung.
Für Ernst Prüsse ist jetzt die Zeit reif für eine Volksabstimmung zum Flughafen. „Nachdem alle Parteien eine klare Beschlussfassung zum Flughafen getroffen haben und jetzt auch der Aufsichtsrat des Flughafens eine Positionierung vorgenommen hat, ist der richtige Zeitpunkt gekommen, die Bürgerinnen und Bürger entscheiden zu lassen,“ so Ernst Prüsse abschließend.
Und jetzt der Verein Mehr Demokratie:
Mehr Demokratie begrüßt Vorstoß von Dortmunder SPD-Fraktionschef
Die Initiative „Mehr Demokratie“ begrüßt den Vorstoß des Dortmunder SPD-Fraktionschefs Ernst Prüsse zur Durchführung eines Ratsbürgerentscheids über den Ausbau des Dortmunder Flughafens. „Der Vorschlag ist prinzipiell richtig, vorher müssten aber noch einige Hindernisse beiseite geräumt werden“, sagte Landesgeschäftsführer Alexander Slonka mit Verweis auf die für Ratsbürgerentscheide in NRW geltenden Themenausschlüsse.
Danach dürfen die Bürger nicht über Angelegenheiten abstimmen, die im Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens zu entscheiden sind. „Um solch eine Angelegenheit handelt es sich aber beim Ausbau der Start- und Landebahnen des Flughafens“, erläuterte Slonka. SPD, Grüne und Linke im Landtag befürworten laut Mehr Demokratie aber eine Reform der Bürgerentscheid-Spielregeln, durch die auch Abstimmungen zu solchen Fragen möglich werden könnten.
Der SPD-Fraktionschef begründete seine Initiative für einen Ratsbürgerentscheid mit den Vorgängen um das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“. „Ich will keine Stuttgarter Verhältnisse in Dortmund. Deshalb möchte ich die Menschen frühzeitig über die Zukunft unseres Flughafens entscheiden lassen“, so Prüsse. „Darum fordere ich baldmöglichst eine Volksabstimmung über den Dortmunder Flughafen. Noch sind keine endgültigen Entscheidungen getroffen und Verträge geschlossen worden, noch stehen wir ganz am Anfang der Planungen. Deshalb ist jetzt der richtige Zeitpunkt.“
Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD), will am 18. November einen Beschlussvorschlag zum Flughafen in den Rat einbringen und diesen darüber abstimmen lassen. Prüsse will hingegen, dass alle wahlberechtigten Dortmunderinnen und Dortmunder anstelle des Rates über die Zukunft des Flughafens entscheiden. Nicht 96 Ratsmitglieder, sondern 450.000 Wahlberechtigte sollen darüber befinden, ob die Betriebszeiten des Flughafens verändert werden und ob es eine Verlängerung der Start- und Landebahn geben soll. Prüsse will in der SPD-Fraktion und bei den anderen Fraktionen für einen Ratsbürgerentscheid hierzu werben. Eine Zweidrittel-Mehrheit der Mitglieder des Dortmunder Rates müsste eine solche Abstimmung aller Bürger unterstützen.
Damit ein Ratsbürgerentscheid gültig ist, muss die Mehrheit für oder gegen den Flughafenausbau mindestens 20 Prozent aller Stimmberechtigten ausmachen. Das Quorum läge in Dortmund bei rund 90.000 Stimmen. In Nordrhein-Westfalen gab es nach Angaben von Mehr Demokratie seit der Einführung dieses Demokratie-Instruments 2007 vier Ratsbürgerentscheide.
Um 20.00 Uhr geht es los. Patrick Joswig und Bastian Schlange, die beiden Jungs der Wattenscheider Schule, lesen aus neuen und alten Werken. Vieles war hier schon bei den Ruhrbaronen zu lesen. Wir würden uns freuen, wenn die Hütte voll wird. Bis nachher.
Johan Galtung, ein Großer der Friedenswissenschaften, blickt auf 80 Lebensjahre zurück. Von unserem Gastautor Ronald Milewski.
Am 24. Oktober dieses Jahres vollendete Johan Galtung, einer der Begründer der modernen Friedens- und Konfliktforschung, sein 80. Lebensjahr. Während Galtung seinen Jubeltag feiert und Thilo Sarrazin in aller Munde ist, wird zeitlich parallel in Hagen das Institut für Frieden und Demokratie an der Fern-Universität, dem der norwegische Jubilar lange Jahre Mentor war, in ziemlicher Stille „abgewickelt“. Prof Dr. Hajo Schmidt, Direktor des Instituts geht in Rente und mit ihm nach aller Wahrscheinlichkeit das Institut, das er 1995 mitbegründet hat. Friedenswissenschaften gehören nicht zum Grundfächerangebot einer deutschen Universität. Die FernUniversität hat sich zu einer „Nicht-Weiterführung“ der Studienangebote entschlossen. In der Hoffnung, dass mehr als der Geist des Instituts weiterwirkt, haben dessen Mitarbeiter daraufhin Anfang dieses Monats zu einer „Bilanztagung“ eingeladen.
Johan versus Thilo
Galtung, norwegischer Weltenbummler in Sachen Friedensforschung und -stiftung, ist der Ruhrregion seit nunmehr 15 Jahren durch sein Engagement am Institut für Frieden und Demokratie der FernUni Hagen verbunden. Einerseits indem er für die Studiengänge dort einen umfassenden Studienbrief mit dem Titel „Frieden mit friedlichen Mitteln“ verfasst hat, andererseits indem er regelmäßig zu Präsensseminaren zur Einführung Studierender in die von ihm entwickelte „Transcend-Methode der Konfliktbearbeitung“ herkommt. Zudem feiert der Norweger seine besonderen Geburtstage im Rahmen von Tagungen in Iserlohn oder Schwerte nach oder nahm, wie im Jahre 2001 geschehen, die Ehrendoktorwürde der FernUni entgegen. Die Liste der Auszeichnungen, Vermittlungsmissionen und Veröffentlichungen, Gast- und Honorarprofessuren des 1930 in Oslo geborenen Mathematikers und Soziologen ist lang. Dennoch sind ihm und seinem Ansatz bei Wikipedia lediglich drei Seiten gewidmet, Thilo Sarrazin derer neun. Johan: trois points, Thilo: neuf points. Dabei hätte Johan einiges mehr als Thilo zum Thema Integration zu sagen. Was ist da falsch gelaufen?
An der Fähigkeit zu polarisieren kann es bei der Minderpräsens im Online-Portal kaum liegen. Auch Galtung, Arztsohn aus gutem Hause, ist dafür bekannt, kein Blatt vor den Mund zu nehmen und Tacheles zu reden. In einem Interview mit Spiegel Online acht Tage nach den Angriffen auf das World Trade Center fordert er bereits 2001, in Afghanistan auch mit den Taliban, wie er es selbst zuvor als Vermittler getan hatte, zu reden, nennt Huntingtons Buch über den „Clash der Kulturen“ einen Etikettenschwindel, den globalen Konflikt stattdessen einen Klassenkonflikt zwischen armen und reichen Ländern, Henry Kissinger den „Bin Laden Chiles“ und Joschka Fischer einen Nationalisten. – alles in einem Abwasch. Gleichzeitig warnt der Träger des Alternativen Nobelpreises und des Gandhi-Preises einmal in Fahrt gekommen vor einer kriegerischen Intervention in Afghanistan, entwirft einen Alternativplan am Verhandlungstisch und erinnert daran, dass auch Extremisten Gründe für ihr Verhalten haben. Ökonomen, einen schönen Gruß an Herrn Sarrazin, bezeichnet der Interviewte umgekehrt als Fundamentalisten, wenn sie „monochromatisch denken, also einem Text oder einer Lehre hörig sind“ und vermutet, dass westliche Ökonomen durch ihre Lehre mehr Menschen demütigen oder sogar töten „als die so genannten islamischen Fundamentalisten“.
Galtung als Prognostiker
Keilt Galtung im Gegensatz zu Thilo in die falsche Richtung aus? Ist er zu undiplomatisch für einen Friedenforscher, um ausführlicher Erwähnung zu finden? Als Wahrsager hat er sich immerhin insofern bewährt, als er 1980 für 1990 den Fall der Mauer vorhersagte und das sich anschließende Ende der Sowjetunion. Für den Fall des Eisernen Vorhangs sagte er obendrein mit immerhin 50prozentiger Trefferquote als neues Feindbild den Islam bzw. die Grünen voraus. Ich selbst durfte auf einer der Veranstaltungen, bei denen ich Mitte der Dekade Galtung in der Evangelischen Akademie Iserlohn erlebte, die Korrektur einer anderen seiner Vorhersagen life erleben. Galtung korrigierte seine im Jahr 2000 gemachte Prognose für den Untergang des US-Imperiums aufgrund der Präsidentschaft von George W. Bush von „2020 bis 2025“ auf „vor 2020“. Der Gast aus Norwegen, der sich seit Jahrzehnten theoretisch und praktisch um das Konzept des „Friedensjournalismus“ kümmert, bewies wieder einmal, für eine markige Schlagzeile gut zu sein. Dennoch machen Journaille und Talk-Shows aktuell einen Bogen um den Jubilar und stürzen sich auf Thilo.
Direkte, strukturelle und kulturelle Gewalt
Vielleicht liegt es auch an Galtungs Lebenswerk. Vielleicht ist es zu umfangreich, zu kompliziert, birgt zu wenig einfache Erklärungen? Galtung hat über mehr als fünf Dekaden verteilt zahlreiche innovatorische Konzepte entwickelt. Zöge man sie heran, könnten diese die aktuelle Integrationsdebatte befruchten, so z. B.:
– die Unterscheidung zwischen direkter, struktureller und kultureller Gewalt als Ursachenfaktoren von Konflikten und das Aufzeigen der Zusammenhänge zwischen diesen Dimensionen;
– die Unterscheidung zwischen Penetration, Segmentierung, Marginalisierung und Fragmentierung zur Kennzeichnung struktureller Gewalt;
– die Unterscheidung von vier menschlichen Bedürfnisklassen nämlich Überlebens-, Wohlbefindens-, Identitäts-, Freiheitsbedürfnissen, die bei Frustrierung zu Gewaltausbrüchen führen;
– die Unterscheidung zwischen uns allen als menschlicher Spezies gemeinsamen Universalia, z. B. der physiologischen Basis des Verstandes, und „tiefenkulturell“ geprägten Partikularia, die weitgehend un(ter-)bewusst Einstellung, Annahmen und Verhalten von Menschen verschiedener Kulturen in unterschiedlicher Weise prägen.
Wer es einfacher haben will bei seinen Erklärungen, greife halt zu Thilo. Immerhin stellen die genannten Konzepte nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt aus einem erheblich größeren Instrumentarium zur Analyse von Konflikten und Gewaltausbrüchen dar. Dazu liefert die Transcend-Methode der Konfliktbearbeitung dem Berater das Handwerkszeug zum Umgang mit Konflikten. Den Anwendungsbereich für die Methode sieht Galtung umfassend sowohl im „Mikrobereich des inneren Menschen und der Familie“, im „Mesobereich der Gesellschaft“ und im „Makrobereich zwischengesellschaftlicher und überregionaler Konflikte“.
Globalisierung, Migration, Integration
Doch bleiben wir auf der mittleren Ebene und bei der Integrationsdebatte. Bereits 1997 beschäftigt sich Galtung mit den Konsequenzen dr Globalisierung und veröffentlicht seine Überlegungen in dem Buch „der Preis der Modernisierung“. Ein zentrales Anliegen ist ihm darin die soziologische Analyse innergesellschaftlicher Prozesse, die die Betrachtung der Bedeutung von Migrationsbewegungen einschließt. Diese sieht Galtung als potentiell geeignet den Übergang von der modernen zur postmodern geprägten Gesellschaft mit den Folgen soziale Desintegration, Atomie, sprich Auflösung von Strukturen, und Anomie, sprich Verlust von Normen und Werten, zu beschleunigen.
Wie gewohnt belässt es der Norweger nicht bei der Analyse, sondern schlägt gleich die Therapie vor, nämlich sich in Auflösung befindende hierachische Strukturen zu rekonstituieren („some big is necessary“) und durch horizontale Beziehungsnetzwerke in Arbeit und Freizeit („small is beautiful“) zu humanisieren. Um die Kulturbildung zu fördern und die Entkulturalisierung umzukehren, schlägt er zudem vor, „immanente und transzendente Religionen zu fördern“. Seinem Misstrauen gegenüber den Buch-Religion und seiner Sympathie für den Buddhismus ist die Ergänzung zu verdanken, „die sanfteren Aspekte der Religionen zu fördern und die härteren zurückzudrängen“. Wie gesagt, dieses hier äußerst grob umrissene Programm zum innergesellschaftlichen Umgang mit Globalisierungs- und Migrationsfolgen ist 13 Jahre alt. Daran gemessen räumt Angela Merkel mit ihrem apokalyptischen Fazit vom 16.10.2010, die Multikulti-Gesellschaft sei „absolut gescheitert“, nach 5 Jahren Kanzlerschaft vor allen Dingen das eigene Scheitern ein, Integrationsmechanismen auf den Weg zu bringen.
Dabei hatte Galtung 1997 noch den Konservativen die bessere Diagnose der Situation attestiert – wegen deren Augenmerks für strukturelle und kulturelle Komponenten. „Liberale, Marxisten und Grünen“ hatte er dagegen davor gewarnt, sich auf Fragen der Distribution von Rechten und Pflichten, Macht und Privilegien zu konzentrieren, und den „Linken“ ausdrücklich empfohlen, Kultur, Ethos und Religion ernster zu nehmen:
„Nichts von alldem wird sich von selbst ergeben, und in Krisenzeiten mag es geschehen, dass sich die Menschen auch den härteren Aspekten der Religionen mit ihren Botschaften der Abgrenzung … zuwenden.“ (aus: Johan Galtung: Der Preis der Modernisierung)
„Zentrale Korsettstange“ und „eierlegendes Wollmilchschwein“
Galtung schaut inzwischen auf mehr als 50 Jahre aktive Friedensarbeit und –forschung zurück: Nach Kriegsdienstverweigerung und Gefängnis gründete er bereits 1959 das Internationale Friedenforschungsinstitut PRIO in Oslo, 1964 das Journal of Peace Research. Bereits Ende der 60’er Jahre wurde er dann auf einen Lehrstuhl für Friedensforschung an der Universität Oslo berufen, einen der ersten auf der Welt. Seit 1992 ist er zudem Direktor des von ihm gegründeten Transcend-Netzwerks für Frieden, Entwicklung und Umwelt, dessen zentrale Aufgabe in der praktischen Konfliktmediation nach der Transcend-Methode liegt.
Maßgeblichen Anteil an Galtungs Lehrtätigkeit am Institut für Frieden und Demokratie in Hagen hatte seit Gründung des Instituts 1996 der Hagener Philosophieprofessor und Direktor de Instituts Hajo Schmidt, der gleichzeitig Leiter der an der FernUniversität angesiedelten Arbeitsgemeinschaft Friedenswissenschaft in NRW (LAG). Zur Bedeutung Galtungs für das Institut befragt nennt Schmidt diesen„eine zentrale Korsettstange unseres Lehrprojekts“. Zwar habe das Institut immer auch konkurrierende Theorien studienverbindlich gemacht, doch habe sich Galtung stets dadurch hervorgetan, dass sich an ihm „eine ganz ungewöhnlich effiziente und glaubwürdige, für einen deutschen Professor fast unmögliche Verbindung von Theorie und Praxis belegen ließ“. Zudem habe Galtung in nicht unerheblichem Maße als Scharnier zwischen der deutschsprachigen und der internationalen Community und Diskussion fungiert.
Der Haken an der ganzen Sache: Galtung wird nun 80 und Schmidt geht in Rente. Anfang Oktober hieß es daher: „Was bleibt!? Bilanztagung der Hagener Friedenslehre“. Das Team des Instituts für Frieden und Demokratie lud alle diejenigen, „die das friedenswissenschaftliche Studienprogramm mit aufgebaut und durchgeführt haben, die es in der einen oder anderen Weise inhaltlich qualifiziert haben, und vor allem diejenigen, die an dem einen oder anderen Programm als Studierende teilgenommen haben“ in die Evangelischen Akademie Villigst ein. Spätestens im März 2012 sollen nun die letzten Masterstudierenden in Friedenswissenschaften ihren Studiengang beendet haben. Die FernUniversität will das Projekt aus studienorganisatorischen Gründen nicht weiterführen. Bezweifelt wird zudem die ökonomische Überlebensfähigkeit der Studienangebote und die Chance ein ähnlich universal einsetzbares „eierlegendes Wollmilchschwein“ (Originalton Hajo Schmidt) für die Nachfolge zu gewinnen.
Inzwischen bieten andere Universitäten vergleichbare friedenswissenschaftliche Angebote an. Doch Hagen ist und war insofern etwas Besonderes, als es sich bei den Studierenden um Postgraduierte, ‚in the field’ Tätige handelte, die um wissenschaftliche fundierte Reflexion und Optimierung der eigenen Praxis bemüht auf das Fernstudium angewiesen waren. Die Mitarbeiter haben letztlich zu einer „Bilanztagung“ eingeladen, weil es weiterhin Bemühungen gibt, das Institut an einer anderen Universität oder im außeruniversitären institutionellen Rahmen anzusiedeln.
Stuttgart 21 statt Ostermarsch?
In jedem Fall bleibt, maßgeblich von einem zweiten wissenschaftlichen Mitarbeiter des Instituts, Lutz Schrader, gefördert, ein unter dem Namen „Transcend Netzwerk für Konflikttransformation und Friedensförderung“ gegründeter eingetragener Verein. Dieser hat inzwischen mehr als 40 Mitglieder und sich u. a. die Ausbildung zum Konfliktberater bzw. Trainer in der Galtungschen Transcend-Methode der Konfliktbearbeitung zur Aufgabe gemacht. Der deutsche Transcend-Ableger ist Teil des internationalen Transcend-Netzwerkes aus 350 WissenschaftlerInnen, TrainerInnen und AktivistInnen in über 80 Ländern. Diese leisten zurzeit konkrete Friedens- und Entwicklungsarbeit auf dem Westbalkan, im Kaukasus, in Sri Lanka, Uganda, Ecuador und im Nahen Osten tätig sind. Das Transcend-Verfahren ist gleichermaßen für die internationale Konfliktbearbeitung und die Bearbeitung innergesellschaftlicher Konflikte geeignet.
An der FernUniversität bleibt andererseits ein formal vergleichbar angelegter Weiterbildungs-Studiengang, nämlich der in den Umweltwissenschaften, erhalten. In diesem Zusammenhang sei ein knappes Dutzend Jahre nach dem historischen rot-grünen „Sündenfall“ im Kosovo und angesichts wahrlich zu respektierenden Bürgerprotests, siehe „Stuttgart 21“, eine ketzerische Bemerkung erlaubt: Ist uns inzwischen, um es mit Galtungs Worten zu sagen, das Engagement gegen „Gewalt gegen die Natur“ soviel wichtiger als das gegen „Gewalt gegen Menschen“, dass ein potenter Anbieter von Weiterbildung wie die FernUni Hagen die Ware Umweltwissenschaften für profitabler als die Ware Friedenswissenschaften hält? Immerhin „boomen“ mit der Rückkehr bewaffneter Konflikte auf den europäischen Kontinent die Entwicklung von Konzepten zur Traumatherapie und von sich offenbar rechnende Angeboten zur Ausbildung von TraumatherapeutInnen: „Honi soit qui mal y pense?
Kritiker
Zurück aber zu Johan Galtung, Im Rahmen der Abschlussveranstaltung der derzeitigen Transcend-Weiterbildung findet im Dezember in der Evangelischen Akademie Villigst ein Symposium zu dessen 80. Geburtstag statt. Und natürlich hat Galtung auch seine Kritiker, mich zum Beispiel. Ich tue mich in seinem multidisziplinären Ansatz besonders mit den Anleihen bei den Medizinwissenschaften und der Utilisierung psychoanalytischer Modelle schwer. Daraus resultieren m. E. fragwürdige Tendenzen in der Theorie Galtungs, nämlich Nationen als „krank“ zu bezeichnen und ganzen Staatsgebilden „Syndrome“ zu unterstellen. Wer setzt sich schon „krank“ an den Verhandlungstisch?
Die aus diesen Anleihen resultierende Metaphorik führt Galtung gar in Sarrazins Nähe, wenn Galtung von einem sozio-kulturellen Code spricht, der dem genetischen Code vergleichbar sei:
„Die Kosmologie einer Zivilisation ist auch der sozio-kulturelle Code dieser Zivilisation, der die wesentlichen Botschaften transportiert, wie die Wirklichkeit zu konstruieren ist. Die biogenetische Parallele zum genetischen Code ist offensichtlich und beabsichtigt.“(aus: Johan Galtung, Frieden mit friedlichen Mitteln)
An dieser Stelle zeigt sich m. E. die Missverständlichkeit und Gefährlichkeit der Anleihe bei medizinischen Modellen in der Darstellung großer Systeme. Suggeriert wird die in einem klassischen Verständnis von Genetik unbeeinflussbare Partikularität von Kulturen. Mit dem gewählten Sprachspiel gerät Galtung in die Nähe einfacher Erklärungsmuster Sarrazinscher Prägung.
„Karma“ statt „Trauma“?
Umgekehrt suggerieren die Anleihen bei tiefenpsychologischen Modellen deren universale Gültigkeit und erheben westliche Modelle zum Maßstab, dem sich alle anderen Zivilisationen zu beugen haben. Somit hätten wir das gleiche Problem, das wir seit der Verkündung der universellen Gültigkeit westlich geprägter Menschenrechte haben. Es ist psychoanalytisch gesprochen mit Widerstand derjenigen zu rechnen, die aus einer anderen Tradition heraus andere Erklärungsmuster für menschliches Verhalten gebrauchen: „Karma“ statt „Trauma“, „Thanatos“ oder „Unbehagen in der Kultur“.
Immerhin sollen „die, mit dem Karma-Glauben“ pauschal gesehen die friedlichsten Erdenbürger sein und stehen statistisch gesehen aktuell in der Bundesrepublik beim Integrationserfolg trotz der weitesten Anfahrt an Platz drei, auch wenn noch keiner in der deutschen Fußballnationalmannschaft angekommen ist.
Fazit
Die Eingangsfrage, nämlich, was Thilo Sarrazins besondere Öffentlichkeitswirksamkeit ausmacht, bleibt bis hierher unbeantwortet. Wir dürfen sie meines Erachtens getrost unbeantwortet lassen, denn sie lenkt ab. Sie richtet die Aufmerksamkeit weg von der Sache hin auf Thilo Sarrazins Person. Dessen Verdienst liegt jedoch darin, die Integrationsdebatte beschleunigt zu haben, nicht darin, sonderlich zu Lösungen beizutragen. Die sinnvolle Auseinsandersetzung mit dem Thema Integration sollte von daher nicht allzu viel Aufhebens um seine Person und sein Buch machen und sich differenzierteren und breiter angelegten Positionen zuwenden. Im besten Fall könnte diese Kehrtwende zu mehr Konfliktfähigkeit und Friedfertigkeit im buchstäblichen Sinne des Wortes führen.
Ich bin ein großer Junge. Ich rege mich selten auf. Nur ganz selten. Das Label Grubenmann hat es geschafft, meinen Blutdruck zu erhöhen. Mit der schmierigsten PR-Aktion, die ich in diesem Jahr mitbekommen habe.
Wie jeder habe ich mich darüber gefreut, dass die 33 verschütteten chilenischen Bergleute in der vergangenen Woche gerettet werden konnten. Umso unverständlicher ist es mir, wenn man angesichts eines solchen Ereignisses als erstes daran denkt, wie man damit Geld machen kann, wie man es für eine schmierige PR-Aktion nutzen kann. Die Macher des Labels „Grubenmann“ sind da anders. Sie haben in dem Schicksal der 33 Kumpel sofort eine Chance gesehen, in die Medien zu kommen. Lest selbst die Pressemitteilung:
Wie viele Millionen Menschen rund um den Erdball haben auch die beiden GRUBENMANN-Inhaber Knut Schneider und Roland Ebbing (Bild) mit großer Anteilnahme das Bergwerkunglück nahe Copiapo im Norden Chiles verfolgt. Nachdem “los 33”, wie sie in Chile jetzt genannt werden, in einer beispiellosen Rettungsaktion an die Oberfläche geholt waren, stand für die beiden Ruhrgebietler fest, “diesen Männern möchten wir unsere Anteilnahme und Bewunderung ausdrücken. Unser Ruhrgebiets-Markenzeichen erinnert an die Kameradschaft, den Mut und die Tugenden eines ganzen Berufsstandes, ohne die auch das Überleben in dieser Notsituation sicher nicht möglich gewesen wäre.” Schnell waren 33 GRUBENMANN-Shirts namens “Kumpel” gepackt. Stellvertretend für alle 33 Bergleute geht das große Paket nun zunächst an den Bürgermeister der Stadt Copiapo, Maglio Cicardini, der diese dann an die chilenischen Volkshelden weiterleiten wird.
Was soll man da machen: Kotzen? Verachten? Verachten und kotzen? Ich weiß es nicht. Grubenmann wirbt mit dem Slogan: 100% Ruhrgebiet. Wie wäre es mit 100% Arschloch?
Es gibt Menschen, die sollten das bergmännische Arschleder besser vor dem Gesicht tragen, Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle etwa, und EU-Kommissar Günther Oettinger.
Was beide in der letzten Zeit geleistet haben, um die Zechen an der Ruhr vorzeitig absaufen zu lassen, kann allenfalls der Ruhr.2010 gefallen. Die Kohlefeinde sorgen nämlich für die in der Kulturhauptstadt vermisste Nachhaltigkeit. Ruhrtriennale und Extraschicht könnten bald schon neue Spielstätten beziehen, ehemalige Pütts für Ausstellungen, Oper und Kreativwirtschaft genutzt werden. Nur haben die Jungs die Rechnung ohne mich gemacht.
Unbestritten vorbei sind im Pott die goldenen Zeiten. Damals waren alle auf Zeche. Da war die Berufswahl für junge Menschen kein Problem. Die Mädels wurden irgendwas, und für Jungs galt: Wenn du was mit Tieren machen willst – ab auf Zeche zum Grubenpferd. Wenn du mehr mit Menschen arbeiten willst – ab auf Zeche, nach Schicht den Kumpels den Rücken schrubben. Und wenn du eine künstlerische Ader hast – ab auf Zeche, damit du mal auf vernünftige Gedanken kommst.
Als durchschnittlicher Kabarettist bist du heute auf mehr Schachtanlagen angefahren als je ein Bergmann zuvor. Bei mir waren es: Zollverein, Zollern, Minister Stein, Zeche Carl, Prinz Regent, Haard, Hansa, Prosper Haniel, Waltrop, Auguste Victoria und das Bergbaumuseum. Gut, letzteres zählt nicht, das ist ein umgebauter Schlachthof, und auf Auguste Victoria habe ich richtig malocht, übertage im Eisenlager. Gut, das war ein vierwöchiger Ferienjob. Aber immerhin bin ich auf dort Ehrenhauer.
Damit beginnt das Problem für Brüderle und Oettinger. Im Kleingedruckten des Ehrenhauerbriefs steht nämlich: „Diese Ehrung ist nicht mit Rechten, sondern nur mit Pflichten verbunden.“ Ich nehme so etwas ernst und fühle mich verpflichtet, am Kohlekompromiss festzuhalten, am vereinbarten Ausstieg im Jahr 2018.
Ganz Deutschland jubelt, wenn in Chile 33 Kumpels nach 69 Tagen gerettet werden, übersieht darüber aber total und gerne, dass in der Zeit in China rund tausend Bergleute ums Leben gekommen sind. Während der politisch Korrekte streng darauf achtet, dass unsere Nelken in Kolumbien ausschließlich von glücklichen Kindern gepflückt werden, interessiert das große Krepieren in China keine Sau. Mich schon. So sehe ich mich zur Notwehr gezwungen. Die Zechen an der Ruhr müssen gerettet werden.
Eigentlich gehört die RAG-Stiftung mir. Solange es im Ruhrbergbau gut lief, habe ich mich nicht weiter darum gekümmert. Jetzt scheint es an der Zeit, brisante Papiere aus dem Giftschrank zu holen. Bekanntlich haben 2007 die Alteigentümer ThyssenKrupp, E.ON, RWE und ArcelorMittal ihre Anteile an der Ruhrkohle für jeweils einen symbolischen Euro an die Stiftung abgetreten. Für sie ging die Rechnung auf, hofften sie doch, sich so um die immensen Ewigkeitskosten der Nachkohlezeit zu drücken. Durften sie das? Nein, denn ihnen lag ein wesentlich besseres Angebot vor. Per Einschreiben vom 30.12.2006 bot ich jedem Eigentümer fünf Euro für seinen Anteil am Unternehmen, also satte 400 Prozent mehr als der kniepige damalige RAG-Chef Werner Müller.
Mein Hinweisim Angebot: „Gerade in Hinblick auf die Interessen Ihrer Anteilseigner sollte man in heutigen Zeiten darauf bedacht sein, anvertrautes Vermögen nicht unter Wert zu verschleudern“, konnte durchaus als milde Drohung verstanden werden. Wer auf einen solch fetten Mehrgewinn ohne Not verzichtet, sieht sich schnell dem Verdacht der Untreue ausgeliefert. Man stelle sich nur vor, Manager eines Konzerns verscherbelten eine Unternehmenssparte für eine Milliarde, obwohl ein anderer Investor fünf Milliarden bietet. Sie säßen längst auf der Straße oder im Knast.
Dem damaligen RAG-Chef Werner Müller bot ich in aller Freundschaft eine Weiterbeschäftigung an: „Ich möchte Ihnen versichern, dass ich Ihre Politik, im engeren Sinne Geschäftspolitik, nahezu vollkommen stütze. Sie haben gerade zu dem öffentlichen Geschrei um eine vermeintlich zu hohe Subventionierung des deutschen Bergbaus die richtigen Worte und den richtigen Ton getroffen. Da merkt man den Musiker.“
Weiter hieß es: „Ich hoffe, Sie auch für eine Mitarbeit der alternativ von mir zu gründenden Stiftung gewinnen zu können. Nur mit Ihrer Klarsicht wird auch der Börsengang zu bewerkstelligen sein. Nur über das scheußliche BVB-Trikot sollten wir bald Einigung erzielen.“ Der letzte Satz bezog sich auf das grauenhafte Sponsorenlogo auf den Trikots, jenen obskuren Würfel mit Fragezeichen.
In einem wesentlichen Punkt unterschied sich mein Konzept von Müllers Ideen. „So sollte der Bergbau m.E. möglichst lange weitergeführt werden. Das senkt die Ewigkeitskosten und erhöht die Planungssicherheit. Sie werden rasch verstehen, dass Kosten, die ein laufender Bergbau verursacht, Betriebskosten sind und eben keine Ewigkeitskosten. Jeder Euro, der so etwa der Wasserhaltung eines laufenden Betriebes dient, entfällt bei den Ewigkeitskosten nach Stilllegung.“ Je kürzer die Ewigkeit, desto billiger wird sie.
Werner Müller hielt sich bedeckt, Arcelor-Boss Lakshmi Mittal ebenfalls. Für die anderen Angeschriebenen, Ekkehard Schulz (ThyssenKrupp), Harry Roels (RWE) und Wulf Bernotat (E.ON), war die Festtagsruhe schlagartig vorbei. Sie setzten umgehend ihre Juristen in Marsch. Zehn Tage später, am 9.Januar 2007, starteten sie ihre Abwehrschlacht. Schriftlich teilten die E.ON-Juristen mit: „Die Aktionäre haben ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt, die RAG-Aktien unter bestimmten Voraussetzungen zu einem symbolischen Preis an eine Stiftung zu veräußern. Dadurch soll der RAG eine Zukunft als integrierter Industriekonzern ermöglicht werden. Eine Zukunftssicherung der RAG setzt insbesondere das fortdauernde Engagement der öffentlichen Hand als Subventionsgeber voraus, mit der auch das Erwerbskonzept abzustimmen ist. Eine freie Veräußerung an Dritte kommt damit nicht in Frage.“
Das lange Zitat ist leider notwendig. Denn abgesehen davon, dass es eben darum ging, den Aktionären mein bis dahin unbekanntes Angebot zu unterbreiten, was der verdammte Job dieser Manager gewesen wäre, hat die Absage einen brisanten Schönheitsfehler: Die Briefe der Unternehmen waren völlig identisch. Alle drei Konzerne argumentierten unübersehbar exakt gleich, antworteten bis auf den Punkt wortgleich. (RWE wählte einen anderen Schlusssatz: „Ihr Angebot müssen wir daher ablehnen.“). Hier haben sich also Konzerne zum Schaden ihrer Aktionäre zu einem Kartell zusammen geschlossen, um ein ungeliebtes Angebot auszubremsen. Somit scheint das gesamte Konstrukt der RAG-Stiftung fraglich.
Bevor Stümper wie Oettinger und Brüderle alles vermasseln und die IGBCE hilflos in Kundgebungsfolklore verfällt, melde ich mich zurück. Die für die Übernahme bei der Sparkasse Dortmund angelegten Sparbücher liegen unberührt im Schreibtisch. Zu den fünf Euro dürften sich satte Zinsen im zweistelligen Centbereich gesellen. Es liegt mir nichts an einem aufwendigen Kartellverfahren. Mir liegt alles an der Zukunft der Kumpels. Ich bin gesprächsbereit. In diesem Sinne: Glück auf! – Oder, wie es moderne Manager in Englisch formulieren: luck up!
Das Dortmunder Unternehmen Envio hat seine Mitarbeiter mit dem Gift PCB verseucht. Der Laden ist geschlossen und vom Finanzamt über die Staatsanwaltschaft bis hin zur Finanzaufsicht ermittelt fast jede Behörde des Landes gegen den Betrieb.
Vor gar nicht mal so lange Zeit war das noch anders. Noch im vergangenen Jahr wurde das Unternehmen mit dem Preis Ökoprofit ausgezeichnet. Und 2004 nahm Envio an einer UN-Konferenz in Genf teil: “ PCB Management and Disposal under the Stockholm Convention on Persistent Organic Pollutants“ hieß die und Envio-Boss Dirk Neupert refieriert über die Möglichkeiten, PCB verseuchte Transformatoren zu reinigen. Alles eine große Werbeplattform für ihn – auch mit der Hilfe der bundeseigenen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) wurden Aufträge besorgt und kam das PCB-Gift nach Dortmund. Schön für ihn, dass auch seine Gattin auf der Konferenz zugegen war. Tatjana Hancke, bis vor kurzem noch Mitglied der Envio-Aufsichtsrates, vertrat die Organisation Trust for Free PCB Elimination. Das klingt natürlich gut – so nach NGO, Ökologie und Engagement. Eben nach allem, was dem Geschäft gut tut, wenn man mit Dreck Geld verdienen will. Die Internetseite dieses Trusts gibt es längst nicht mehr. Wahrscheinlich hat sie ihre Aufgabe auch längst erfüllt. Und Frau Hancke ist heute Beraterin. Passt auch irgendwie besser,
Murat Yildiz* ist einer der hoch qualifizierten Einwanderer, nach denen neuerdings deutsche Wirtschaftslenker und Politiker schreien. Aber der Facharzt wird hier gegängelt und degradiert
Murat Yildiz trägt Verantwortung. Wann immer sich die Geburt der Patientinnen auf seiner gynäkologischen Station bedrohlich nach hinten schiebt, entscheidet er über einen Kaiserschnitt. Wenn während einer Operation Komplikationen auftreten wird der Oberarzt an den Schneidetisch gerufen. „Aber ich bin trotzdem Arzt zweiter Klasse“, sagt Yildiz. Denn obwohl der in der Türkei geborene Mediziner schon seit drei Jahren in deutschen Kliniken arbeitet, wird ihm immer noch die Approbation verweigert, die deutsche Ärzte mit dem ersten Staatsexamen erhalten. Yildiz hat nur eine befristete Berufserlaubnis, die ausschließlich für diese eine Klinik gilt.
Schon als Kind wollte Murat Yildiz Arzt werden. In seinem Dorf in der Osttürkei standen die Menschen auf, wenn ein Mediziner den Raum betrat, so angesehen war der Beruf. Yildiz arbeitet sich hoch und legt an einer renommierten Istanbuler Universität einen glänzenden Abschluss hin, 2007 macht er dann in einer Klinik seine Facharztprüfung als Gynäkologe. Zu der Zeit bringt er 4000 Kinder jährlich zur Welt. Diese erfolgreiche Biografie ist in Deutschland „wie weggewischt“, so Yildiz. „Ich kam als spezialisierter Arzt und wurde wie ein Abiturient behandelt.“
Bei der Hochzeit eines Freundes in Istanbul lernt Yildiz vor vier Jahren seine Partnerin aus Mannheim kennen. Schnell werden die beiden ein Paar und bekommen eine Tochter. Die Familie entscheidet sich für Deutschland. „Nie hätte ich gedacht, dass es hier so schwer ist“, sagt Yildiz. „Ich war bestens ausgebildet, hatte an einer renommierten Uni studiert und die Deutschen haben arrogant meine Papiere belächelt und für wertlos erklärt,“ sagt er aufgebracht. Dabei spricht der 33-jährige Mediziner deutsch, türkisch, arabisch und englisch und ist für jede Geburtsstation mit migrantischen Patientinnen eine Bereicherung.
Aber zunächst muss er sich durch langwierige Behördengänge ein Visa verschaffen, dann eine Duldung und schließlich eine Aufenthaltsgenehmigung. „Als Vater eines deutschen Kindes hatte ich das Recht, hier zu leben“, so Yildiz. „Aber die Behörden behandelten mich wie einen Schmarotzer, der sich deutsches Geld einverleibt.“ Dabei lebt die Kleinfamilie von seinem in Istanbul erarbeitetet Geld, und Yildiz will unbedingt arbeiten. Er bewirbt sich bundesweit und wird schließlich an einer Klinik im niedersächsischen Meppen angestellt. Als Assistenzarzt, denn seine Facharztprüfung muss er erneut ablegen. Die Kollegen sind sehr nett. „Aber Deutschland behandelt uns schlecht“, sagt er.
Durch die Degradierung zum Assistenzarzt kann er nicht nur einige Operationen nicht mehr durchführen, die er längst beherrscht, sondern sein Gehalt ist auch viel geringer. Yildiz verdient hier nur einen Bruchteil, während seine türkischen Studienfreunde in Istanbul mit mindestens zehntausend Euro monatlich nach Hause gehen. Weil er so schnell und zuverlässig arbeitet, lässt ihn der Chefarzt nach einem guten Jahr die Facharztprüfung absolvieren. Ohnehin sind seine Kollegen immer schnell von dem engagierten jungen Arzt überzeugt und geben ihm Verantwortung. Auch die Patientinnen waren immer „alle sehr freundlich“, sagt er. Viele türkischstämmige Frauen sind froh, medizinische Sorgen in ihrer Muttersprache mitteilen zu können.
Die Behörden interessieren diese Erfolge nicht. Nach seiner Stelle in Meppen bewirbt er sich in Hamburg. Jedes Land hat für ausländische Ärzte andere Hürden aufgebaut, jedes Mal ist ein anderes Amt zuständig. „Das ist reine Willkür“, sagt Yildiz. Nie ginge es um das Fachliche. Seine Odysee geht in Hamburg weiter. Er bekommt eine Stelle an der renommierten Uniklinik. „Ich war hoch motiviert, wollte mich an der Uni weiter fortbilden und auch Lehre betreiben“, so Yildiz. Auch die Klinik ist begeistert, sie wollen den erfahrenen viersprachigen Arzt unbedingt haben. Aber das Landesprüfungsamt des Stadtstaates erkennt weder seinen Uniabschluss noch den Facharzt an. Wieder muss er dutzende Akten von der Istanbuler Universität vorlegen, Bescheinigungen aus allen Semestern übersetzen und beifügen. Das Amt behandelt ihn „wie einen lästigen Bittsteller“. Die nach monatelangem Warten erteilte Berufserlaubnis gilt erneut nur für ein Jahr, danach steht wieder eine „Gleichwertigkeitsprüfung“ an. Yildiz verliert langsam die Geduld, er fühlt sich matt und müde. „In Hamburg war ich nicht willkommen, ich musste weiterziehen.“ Dabei hatte seine Partnerin ihren Job in Mannheim schon gekündigt. Die Familie guckte sich Wohnungen in der Hansestadt an und war bereit für einen weiteren Neuanfang. Wieder alles vergeblich, die unsicheren Aussichten machen die Planungen zunichte. „Über uns schwebt dauernd das Damoklesschwert, in die Türkei gehen zu müssen“, sagt die Heilpädagogin. Jeder Tiefschlag auf dem Amt bringt das Leben der Familie in Deutschland ins Wanken.
Zum Glück setzt sich sein ehemaliger Meppener Chef für ihn ein und verhilft ihm in diesem Sommer zu einer Stelle am Klinikum in Frankenthal bei Mannheim. In der Stadt mit den vielen Migranten ist Yildiz der einzige Mediziner im Krankenhaus, der nicht in Deutschland geboren wurde. Obwohl er nun als Facharzt arbeitet, operiert und therapiert, muss er wieder in spätestens zwei Jahren eine Prüfung zur Approbation ablegen. Erst dann ist er einem deutschen Facharzt gleich gestellt. Das Examen aber wird voraussichtlich wieder alle physiologischen und chemischen Grundlagen der Humanmedizin abfragen. „Ich könnte jede gynäkologische Prüfung sofort bestehen“, sagt er. „Aber für dieses Examen müsste ich monatelang lernen.“ Wieder eine große Hürde. „Ich helfe den Menschen gerne, das ist mein Beruf“, sagt Yildiz. Ihm selber aber sei in Deutschland nur von sehr wenigen Menschen geholfen worden.
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